Psychosomatik heute - Psychosomatik in Klinik und Forschung

von: Heinz Böker, Paul Hoff, Erich Seifritz

Hogrefe AG, 2018

ISBN: 9783456956282 , 376 Seiten

Format: PDF, Online Lesen

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Psychosomatik heute - Psychosomatik in Klinik und Forschung


 

1 Historische Entwicklung der Psychosomatischen Medizin


Wolfgang Senf

1.1 Begriffe und Gegenstand


Der Begriff „psychosomatisch“ setzt sich aus den griechischen Worten psyche (Hauch, Atem, Seele) und soma (Körper, Leib) zusammen und kennzeichnete allgemein die leib-seelische Ganzheit des Menschen. Als wichtiger Gegenstand vieler Wissenschaften, insbesondere jedoch der Philosophie und Theologie, geht es dabei in der Heilkunde um die Dynamik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den psychischen, körperlichen und sozialen Vorgängen in ihrer Bedeutung für Gesundheit und Krankheit.

Psychosomatik erfasst somit nicht nur die somato-psychischen oder die psycho-somatischen Dimensionen von Krankheit und Gesundheit, sondern mit den sozialen Vorgängen ebenso die interpersonalen Beziehungen und damit auch die spezifischen Interaktionen zwischen Arzt und Patient. Gegenstand der Psychosomatische Medizin ist somit nicht alleine das psycho-somatische oder somato-psychische Geschehen im Subjekt, sondern auch ebenso seine Bezogenheit zu seiner Umwelt.

1.1.1 Holistisch und psychogenetisch


In der Psychosomatischen Medizin werden eine holistische und eine psychogenetische Perspektive unterschieden.

In der holistischen Perspektive ist Psychosomatische Medizin eine prinzipielle Betrachtungsweise in allen Disziplinen der Medizin, die, so alt wie die Heilkunde selbst, nicht dem Körperlichen weniger, sondern dem Seelischen mehr Beachtung schenkt (Weiss & English 1943).

Der Begriff holistisch geht zurück auf das griechische holos, das Ganze. Nach der holistischen psychosomatischen Auffassung sind bei j e d e r körperlichen Krankheit, also bei Krebs wie bei der Organtransplantation, bei Herzinfarkt wie bei Diabetes etc. die Krankheitsentstehung sowie der Krankheitsverlauf i m m e r auch von der psychischen Verfassung und von der psychischen Krankheitsverarbeitung des kranken Menschen abhängig. Aus der holistischen Perspektive ist Psychosomatische Medizin

  • eine Wissenschaft von den Beziehungen biologischer, psychologischer und sozialer Determinanten, sowohl in Gesundheit wie auch bei jeder Krankheit,
  • ein Zugang zur medizinischen Praxis, der den Einfluss psychosozialer Faktoren bei der Untersuchung, Prävention, Diagnostik und Behandlung aller Erkrankungen einbezieht
  • eine klinische Tätigkeit im Zwischenbereich von Medizin und Verhaltenswissenschaft, was den Status einer Grundlagenwissenschaft beansprucht mit einem bestimmten Zugang zum Kranken, der für alle medizinischen Disziplinen von Bedeutung ist.

Der psychogenetische Ansatz ist die Krankheitslehre von der psychischen (Mit-)Verursachung bestimmter Erkrankungen, bei denen psychische Faktoren maßgeblich und regelhaft für die Entstehung der Krankheit verantwortlich gemacht werden. Es liegen dann keine erkennbaren organischen Befunde (z.B. Infektion, Durchblutungsstörung am Herzen, Labor) vor, welche die Krankheitsentstehung aus dem somatischen Befund erklären. Ursache der Krankheit sind objektivierbare Störungen der psychischen Erlebnisverarbeitung, die zu gestörten körperlichen Funktionsabläufen und dadurch zu körperlichen Symptombildungen führen. Die krankhafte Störung der Erlebnisverarbeitung entsteht durch innerpsychische, meist unbewusste Konflikte und Fehlhaltungen infolge gestörter Entwicklungs- und Lernprozesse aus der gesamten lebensgeschichtlichen Entwicklung, die durch akute Konfliktsituationen aktiviert werden.

Von einer seelischen Verursachung wird bei den folgenden Voraussetzungen ausgegangen:

  • Es liegen keine organischen Ursachen vor, welche die Erkrankung in Entstehung und Verlauf erklären könnten.
  • Ursachen der Erkrankung sind objektivierbare krankhafte Störungen der innerseelischen Erlebnisverarbeitung, die zu gestörten körperlichen Funktionsabläufen bzw. zu psychischen Symptombildungen führen.
  • Ursachen für die krankhafte Störung der innerseelischen Erlebnisverarbeitung sind innerpsychische unbewusste Konflikte und Fehlhaltungen als Folge gestörter Entwicklungs- und Lernprozesse aus der gesamten lebensgeschichtlichen Entwicklung, die durch aktuelle auslösende Situationen aktiviert werden.
  • Die Erkrankung ist nur durch psychotherapeutische Behandlungen ggf. in Verbindung mit somatischer Therapie zu beeinflussen.

1.1.2 Integriert oder eigenständig


Primär ist die Psychosomatische Medizin eine interdisziplinäre Perspektive in allen medizinischen Fachbereichen eben mit dem besonderen Fokus auf die Dynamik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den psychischen, körperlichen und sozialen Vorgängen bei Gesundheit und Krankheit. Die psychosomatische Perspektive kann – oder sollte – von allen Ärzten in allen medizinischen Fachbereichen eingenommen werden. Insoweit gibt es auch die internistische, die gynäkologische, dermatologische etc. Psychosomatik mit eigenen Organisationsstrukturen.

Erst sekundär bezeichnete der Begriff Psychosomatische Medizin auch ein mehr oder weniger eigenständiges medizinisches Fachgebiet. Hier bestehen sehr unterschiedliche Entwicklungen und aktuelle Strukturen in den Gesundheitssystemen verschiedener Länder.

In Deutschland ist die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet, verankert in der Approbationsordnung für Ärzte zur Ausbildung von Medizinstudenten und in der Weiterbildung zum Erwerb des Fachgebietes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. In den meisten anderen Ländern wird die Psychosomatik – wie sie dann oft bezeichnet wird – überwiegend von der Psychiatrie vertreten und von dieser als eines ihrer Teilgebiete reklamiert. Daraus entstehen vielfältige Konflikte, zumal heute auch die Psychologie mit der psychologischen Psychotherapie die psychosomatische Kompetenz in der medizinischen Versorgung für sich beansprucht. Ein wesentliches Argument ist dabei, dass die Psychotherapie eine wesentliche therapeutische Methode in der psychosomatischen Medizin.

Merke

Gegenstand der Psychosomatischen Medizin ist die leib-seelische Ganzheit des Menschen und dabei die Dynamik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den psychischen, körperlichen

und sozialen Vorgängen in ihrer Bedeutung für Gesundheit und Krankheit. Dabei geht es nicht nur um die psychisch verursachten körperlichen Erkrankungen (psychogenetische Perspektive), sondern um die innerpsychische und die soziale Dimension bei jeder Krankheit (holistische Perspektive). In Diagnostik und Therapie kommen psychotherapeutische Methoden zum Einsatz. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt.

1.1.3 Psychotherapie


Die Psychotherapie in allen ihren Ausprägungen ist die spezifische diagnostische und Behandlungsmethode für die Psychosomatische Medizin und ist deswegen eng mit ihr verbunden. Insoweit kann die Entwicklung der Psychosomatischen Medizin nicht unabhängig von der Entwicklung der Psychotherapie gesehen werden. Die Psychotherapie stellt wie die Psychosomatische Medizin eine Besonderheit in der Medizin dar, da Diagnostikum und Behandlungsmethode („Medikament“) die gezielte Anwendung von Kommunikation im Rahmen einer strukturierten psychotherapeutischen Beziehung ist (Senf et al. 2013), oder, in den treffenden Worten von Sigmud Freud, sind Worte das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung.

1.2 Aus der Geschichte


Auch wenn es so scheint, als habe es die psychosomatische Perspektive, so wie wir Psychosomatische Medizin heute verstehen, in irgendeiner Weise schon immer in der Medizin gegeben, gibt es medizinhistorisch dafür keine belastbaren Belege.

1.2.1 Vorzeit


Zwar ließe sich für die leib-seelische Ganzheit des Menschen in Krankheit und Gesundheit schon Plato bemühen, der Sokrates im Dialog Charmides einen jungen Mann, der an Kopfschmerzen leidet, fordern lässt, dass, wenn es den Augen gut werden solle, man den ganzen Kopf und wenn es dem Kopf wieder gut gehen solle, man den ganzen Leib, und wenn es diesem wieder gut gehen solle, den Leib nicht ohne die Seele behandeln soll. Das gründet auf der Vorstellung, von der Seele gehe alles, also sowohl Gutes als auch Böses für den Körper und den ganzen Menschen aus. Auch die Psychotherapie kommt schon ins Spiel, da die Seele nur durch die guten Reden (logoi kaloi) zu heilen sei, wodurch Besonnenheit in den Seelen erwachse. (Nach Bräutigam 1992).

Dass es aber im Altertum wirklich eine Psychosomatische Medizin gab, ist zu bezweifeln. Die Auseinandersetzung um das Leib-Seele-Problem ist von der Antike bis in die Neuzeit eine Domäne der Religion und...