Studien zu Philosophie und Geschichte

Studien zu Philosophie und Geschichte

von: Richard Bletschacher

Hollitzer Wissenschaftsverlag, 2023

ISBN: 9783990941164 , 236 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 24,99 EUR

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Studien zu Philosophie und Geschichte


 

DIE SPRÜCHE DES THALES UND DER SATZ DES ANAXIMANDROS

Es gibt in der Geschichte des abendländischen Denkens einen benennbaren Zeitpunkt, in dem sich die Nebel des mythischen Träumens nach und nach heben und ein Bereich hellen Lichtes erkennbar wird, den zu betreten einige Männer sich getrauten. So wie ihre Gestalten jedoch sich aus dem Schatten der Vergangenheit lösten, so sanken sie bald für lange Jahrhunderte wieder zurück in das Vergessen. Ihre Gedanken, soweit sie sie ihren Zeitgenossen deutlich zu machen vermochten, wurden entweder nicht schriftlich festgehalten oder haben sich nur mehr in Bruchstücken erhalten. Denn wenige von ihnen wurden von den nachfolgenden Generationen in ihrer Bedeutung erkannt und für wert erachtet, zitiert zu werden.

Die Samen des neuen Denkens aber waren ausgesät. Und manche fassten Wurzeln auf fremden Äckern. Und dort, wo etwa Platon, Aristoteles, Theophrast, Herodot oder Plutarch, die Vielbelesenen und viel Schreibenden, in der Gewissheit, dass ihre eigenen Werke sorgsamer gehütet würden, ihrer Vorfahren im Geiste gedachten, hat sich die Erinnerung fortgeerbt. Dem wunderlichen Sammler Diogenes Laertius, der im 3. nachchristlichen Jahrhundert unterschiedslos alles zusammenhäufte, was ihm die ernste Forschung oder der Klatsch in die Schreibstube trug, haben wir, ungeachtet vieler Ungereimtheiten, zu danken, dass neben den im Volke umlaufenden Anekdoten auch mancher kundige Hinweis überliefert wurde. Hat er doch vermutlich in den äolischen Kolonien gelebt und war dem Ort unserer Handlung nahe gewesen. Noch einmal im 6. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung hat der Byzantiner Simplikios, in einem Kommentar zu Aristoteles’ „Physik“ auf die vorsokratischen Denker Bezug genommen und uns unter anderem jenes Fragment des Anaximandros überliefert, das er in seinen Exemplaren der Theophrast’schen Bücher über die späterhin so genannten „Hylozoiker“ gefunden hatte. Seither nennt man, nach dem Titel des Theophrast’schen Werkes Physikon doxai, diese Nachrichten die doxographischen. Nach Jahrhunderten des Schweigens war Friedrich Nietzsche, der damals noch junge Professor der Altphilologie, einer der ersten, die ihr Augenmerk richteten auf die lange Vergessenen. In seiner Entdeckerfreude bekundete er die Absicht, das Erhaltene neu zu übersetzen und zu edieren. Den Plan hat er bedauerlicherweise nicht verwirklicht. Immerhin hat die zornglühende Verachtung, die er in seinem offenbar nicht recht zu Ende geführten Essay über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen den Zeiten aussprach, die achtlos an den verstreuten Schätzen vorübergegangen waren, eine weithin vernehmbare Stimme verliehen. Nietzsches Vorlesungstexte aus dem Jahre 1873 wurden jedoch erst in seinem Nachlass publiziert. Und so handelten die deutschen Philologen wohl aus eigenem Antrieb, als sie sich etwa um dieselbe Zeit daranmachten, zu sichten, was noch zu erkennen war. Hermann Diels erwarb sich das seither oft bedankte Verdienst, die Fragmente der vorsokratischen Philosophen zusammengetragen, verglichen, geordnet übersetzt und herausgegeben zu haben. Seine mehrfach aufgelegte Publikation, die durch seinen Schüler Walter Kranz später ergänzt und erweitert wurde, bildet auch heute noch die allgemein anerkannte Grundlage jeder weiteren Forschung. Martin Heidegger hat in seinem Band Holzwege in einem Essay über den Spruch des Anaximandros zu dessen neuer Beachtung beigetragen. Und so ist heute kein Philosophieunterricht mehr zu denken, der nicht mit einer Erörterung der Zeit der Morgenröte des abendländischen Denkens begänne.

Wenn hier nun allein über die ersten Philosophen der milesischen Schule gehandelt werden soll, so liegt der Anlass dazu in der Faszination, die eben dieser Beginn, wie aller Anfang einer großen Bewegung, verbreitet. Es lässt sich hierin wie an wenigen anderen Beispielen erkennen, was Philosophieren bedeutet und warum sich unsere abendländische Welt auf diesem Felde so deutlich von allen anderen Kulturen getrennt hat. Es war die erste Absicht meines Versuchs, allein die Figur des Anaximandros in ihren noch erkennbaren Umrissen herauszuheben. Dabei jedoch hat sich bald schon erwiesen, dass er ohne seinen Vorgänger Thales kaum zu erfassen ist, und dass auch sein Schüler und Nachfolger Anaximenes Erwähnung am Rande verdient. So mögen denn auch einige Anmerkungen zu ihnen mit einfließen, damit sie auf diesen Papieren nebeneinander stehen, wie sie einst im Leben nebeneinander gelehrt und gewirkt haben. Man weiß nicht recht, ob sie als Söhne einer Stadt einander gesucht oder gemieden haben, begegnet sind sie einander und gekannt hat einer den andern. Das ist gewiss.

Die gemeinsame Heimat der ersten Philosophen war die älteste und größte der ionischen Städte an der östlichen Küste Kleinasiens, Milet, die reich war durch die fruchtbare Landschaft und durch die Schifffahrt, die ihr den Handel mit den entlegenen Küstenstädten des Schwarzen Meeres, des östlichen und des westlichen Mittelmeeres, eröffnete. Gehandelt wurde mit Papyrus aus Ägypten, mit Zedernholz aus Phönikien, mit Erzen und Metallen vom Taurusgebirge, mit Wein, Früchten, Olivenöl und Getreide aus eigenem Anbau. Die kleinasiatische Küste, und hier vor allem die ionischen Städte und die ihnen vorgelagerten Inseln der südlichen Sporaden, waren zu jener Epoche die bedeutendsten Stätten hellenischen Geistes und hellenischer Kunst. Schon seit älterer Zeit nannte sich die Insel Chios die Heimat des großen Homer, der wie kein zweiter von großen Meerfahrten, von fernen Inseln und Ländern erzählt hatte. Ihr Anspruch wurde von der um diesen Ruhm wetteifernden Küstenstadt Smyrna mit guten Gründen bestritten. Unter den so genannten sieben Weisen, deren Kreis aus etwa zehn Namen bestand, die gelegentlich ausgetauscht wurden, finden wir nicht weniger als fünf, die von der ionischen oder nachbarlichen äolischen Küste stammten. Neben Thales aus Milet sind dies: Bias aus Priene, Pherekydes aus Syros, Pythagoras aus Samos und Pittakos aus Lesbos. Der mythische Sänger Arion soll um 620 auf Lesbos gelebt und dort seine dithyrambischen Chorlieder ersonnen haben, aus denen die Bakchoschöre der Böcke entstanden. In Lesbos lebten zudem die Dichterin Sappho und der Dichter Alkaios, in Ephesos der Lyriker Kallinos, in Kolophon Mimneros und auf Paros Archilochos. In Ephesos auch wurde der weithin berühmte Tempel der Artemis, eines der sieben Weltwunder, erbaut, in den sich der alternde Heraklit schweigend zurückzog. In Didyma, unweit Milet, sprach das Orakel Apollons und im südlich angrenzenden Halikarnassos, später der Heimat des Herodot, der uns all diese Nachrichten überliefert hat, ließ Mausolos sein vielbestauntes Grabmal errichten. Über die Insel Samos herrschte der glückverwöhnte Tyrann Polykrates und über das nordöstlich an Ionien grenzende Lydien der sagenhaft reiche Kroisos als König.

Verwandt waren die Ionier mit den Bewohnern Attikas und Euböas, die Äolier mit den Bewohnern Böotiens, von denen sie sich beide etwa um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung getrennt hatten, um auf der östlich gegenüberliegenden Küste zu siedeln. Manches in der Betrachtung des Lebens und Schaffens in den nachfolgenden Jahrhunderten griechischer Geschichte lässt sich heute besser verstehen, wenn wir nicht das stark zergliederte und durch hohe Gebirge oft unwegsame Festland hüben und drüben, sondern das von dicht besiedelten Küsten umschlossene Meer als den Mittelpunkt des alten Hellas betrachten. Es war in jener Zeit nicht viel mühevoller, die Küsten Spaniens, Siziliens, Thrakiens oder Ägyptens zu erreichen, als über die Gebirgspfade des steinigen Epeiros oder auch nur über den mächtigen Riegel des Taigetos in der Peloponnes zu gelangen. Die unvorstellbare Zahl von über tausend Pflanzstädten oder Kolonien haben die Griechen an fernen Küsten errichtet. Milet allein hat etwa achtzig davon gegründet. Nicht nur auf ägäischen und illyrischen Inseln siedelten sie bereits im achten Jahrhundert, sondern auch in Sardinien, Korsika, an der westwärts gewandten Küste Italiens, ringsum im Pontos und auf der Halbinsel Krim. Gegen das Innere des kleinasiatischen Festlandes jedoch scheuten sie sich vorzudringen, nicht nur aus Furcht vor der gewaltigen Kriegsmacht der Meder und bald danach auch der Perser. Das Meer, nicht das Land, war ihre geebnete Straße.

Wir, die wir heute gewöhnt sind, bei den Griechen fast nur mehr auf die so genannte klassische Zeit des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts zu blicken, müssen uns vor Augen führen, dass bereits seit dem Jahre 776, also mit den ersten olympischen Spielen die griechische Zeitrechnung begann, und deutlicher noch seit dem wenig später anzusetzenden Auftreten von Homer und Hesiod die alte Hellas in den Rang einer Hochkultur aufstieg. Das Spiel, der Wettstreit und die mythische Dichtung gingen wie in allen Kulturen den Wissenschaften voraus. Sie legten den Grund für die ersten Schritte der Forscher und Entdecker. Und die weckten die Fragen der Denker und Zweifler.

Der erste der Männer, von denen hier zu handeln sein wird, Thales, der Sohn des Hexamyes, lebte in Milet um die Wende des siebten zum sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, der zweite, Anaximandros, war nur wenige Jahre jünger, der dritte, Anaximenes, der sich als des zweiten Schüler bekannte, folgte ein Menschenalter darauf. In der blühenden, weltoffenen Stadt war der Saat der neuen Gedanken der Boden bereitet. Thales, geboren um 624, vielleicht von karischen, vielleicht von phönikischen Vorfahren stammend, wurde noch zweieinhalb Jahrhunderte später von Aristoteles – und nicht nur von ihm – als der „Ahnherr der Philosophie“ bezeichnet. Sein Ruhm unter den Griechen, der...