Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration - Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben

Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration - Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben

von: Elisabeth Blumrich, Simon Gerber, Sarah Schmidt

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2023

ISBN: 9783111062914 , 226 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 89,95 EUR

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Mehr zum Inhalt

Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration - Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben


 

Grußwort des Akademiepräsidenten


Christoph Markschies

Vor dem Büro des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Gebäude am Gendarmenmarkt hängt eine Galerie mit postkartengroßen Portraits seiner Vorgänger. Die Galerie kann übrigens, wie sich das für eine der Digitalität gegenüber besonders aufgeschlossene Akademie gehört, auch im Internet besichtigt werden.1 In den absolut identischen grauen Rahmen sind nun nicht nur meine vier Vorgänger im Amt des Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie abgebildet, sondern insgesamt 65 Personen; die wenigsten davon waren Präsidenten, weil es zwischen 1759 und 1938 gar kein Präsidentenamt gab. Friedrich der Große hatte es, unwillig über einen Wahlvorschlag seiner unbotmäßigen Akademie, kurzerhand abgeschafft und 1938 führte es die politische Obrigkeit im Rahmen der damaligen Vorstellungen vom totalitären Staat und seinem Führerprinzip wieder ein. Ab 1812 wurde die Akademie, die in den vergangenen über dreihundert Jahren mehrfach Namen und institutionelle Identität wechselte, von den vier Klassensekretaren geleitet, die sich gleichsam rotierend in der Funktion des Vorsitzenden Sekretars abwechselten. Jeder Sekretar fungierte für drei oder vier Monate gewissermaßen als Akademiepräsident, ohne allerdings diesen Titel zu tragen. Als neunundzwanzigstes Bild in der Reihe, die natürlich mit Leibniz beginnt, findet sich das Portrait von Schleiermacher. Angesichts der Tatsache, dass die Akademie nach französischem Vorbild niemals Theologen als Theologen aufgenommen hat, sondern nur als Historiker, Philologen oder Philosophen, verwundert die ansehnliche Menge der Theologen oder theologisch Arbeitenden unter den neunundzwanzig: Daniel Ernst Jablonski, Johann Philipp Heinius, Leonhard Euler, Jean Henri Samuel Formey und Johann Peter Friedrich Ancillon, um von Leibniz gar nicht erst zu reden, und natürlich eben Schleiermacher. Sieben von neunundzwanzig – das ist eine gar nicht so schlechte Bilanz für eine akademische Disziplin, die es in einer Akademie französischen Typs eigentlich gar nicht geben darf. Aber Leibniz hatte sich ursprünglich unter einer Akademie auch ein säkulares Kloster zölibatär lebender Gelehrter vorgestellt, die dort Theorie mit Praxis, Lebenspraxis, verbinden sollten.2

Auch wenn ich – coronabedingt praktisch nie auf Reisen – auf dem Weg tagtäglich diese Galerie passiere, die aus einer Geschichte voller Brüche und in brüchiger Kontinuität stehender Ämter eine uniforme Reihe von Leibniz bis Grötschel entstehen lässt, macht mich das Studium der Portraits und die gelegentliche Lektüre in den Biogrammen zur Präsidentengalerie, die im Internet nachzulesen sind, nicht zu einem Experten für Akademiegeschichte und das tägliche Passieren des bekannten Schleiermacher-Kupferstichs nach der Zeichnung von Franz Krüger aus dem Jahre 18203 beileibe nicht zu einem Schleiermacher-Experten. In meiner akademischen Heimatdisziplin, der Evangelischen Theologie, ist es zwar nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Schleiermacher-Renaissance gekommen,4 aber wenn heute junge Doktorandinnen und Doktoranden auf Twitter darüber streiten, ob die Wechselkurse der systematischen Theologie für hundert Barth einen Schleiermacher ergeben oder gerade umgekehrt (so jüngst geschehen), dann langweilt mich solche Verspätung und Erstarrung in den Konflikten und Kirchenväterschlachten vergangener Zeiten.5

Was mich an Schleiermacher fasziniert – und fasziniert darf man ja auch sein, wenn man kein Experte ist, sondern nur mehr oder weniger Laie und für den Geschmack mancher sogar Dilettant (bekanntlich beginnt allerdings die Archäologie in England als wissenschaftliche Disziplin mit einer Gesellschaft der Dilettanti6) – was mich also an Schleiermacher fasziniert, ist seine universale Begabung, die ihn tatsächlich in eine Linie mit Leibniz stellt. Wir haben, wenn man grob vereinfachen darf, stark einseitig begabte Mitglieder gehabt in der Geschichte dieser Akademie, und über einen, der für Schleiermacher nicht unwichtig war, ist viel Streit in jüngster Zeit in den Feuilletons ausgefochten worden. Wenn man die Vorlesungen von Immanuel Kant über Physische Geographie liest, deren Ausgabe unsere Potsdamer Arbeitsstelle jüngst abgeschlossen hat und die in einer interdisziplinären Diskussionsreihe unserer Akademie unter Leitung von Markus Willaschek diskutiert wurde,7 dann sieht man leicht, dass dieses Mitglied für das Fach, über das es da erstmals an der Königsberger Universität gelesen hat, eher mäßig begabt war. Ob das Rhinozeros ein kluges oder – wie Kant meint – ein dummes Tier ist, sollte man vermutlich nicht urteilen, wenn man beispielsweise nur über zwielichtige und dubiose Reiseberichte wagemutiger Kulmbacher Schulmänner als Quelle der jeweiligen Kenntnisse über bestimmte Tiere verfügt.8 Die bei Erscheinen der Bände der kritischen Gesamtausgabe heftig debattierte Frage, ob Passagen der Vorlesung rassistisch genannt zu werden verdienen oder nicht, scheint mir weniger interessant als die, warum ein so kritischer Geist so unkritisch mit den Evidenzen für seine Behauptungen und Schlüsse umgeht. Leibniz war anders und Schleiermacher auch – das sieht man schon, wenn man die Gegenstände seiner Vorlesungen an der Berliner Universität ansieht und sich die Frage stellt, welche Rolle gerade seine nichttheologischen Veröffentlichungen, Vorlesungen und insbesondere seine Akademieabhandlungen heute noch in entsprechenden akademischen Disziplinen spielen. In meinem Tübinger klassisch-philologischen Studium war Schleiermachers Platon-Deutung der eigentliche Gegner des sogenannten Tübinger Platon in der Tradition von Wolfgang Schadewaldt und Konrad Gaiser9 und die Kieler Bände der Kritischen Gesamtausgabe zeigen, um einen Gegner welchen Formats es sich dabei handelt. Man könnte aber auch Argumente für die Sichtweise beibringen, dass Schleiermacher (im Grunde schon in Halle) die Vorsokratiker-Forschung begründet hat und in Berlin nach wie vor bedeutsame Abhandlungen dazu publizierte, sich mit Bekker um Aristoteles kümmerte, von seinen Beiträgen zur Übersetzungswissenschaft, Pädagogik und Psychologie einmal ganz zu schweigen. Philologische Beobachtungen von Schleiermacher zur Überlieferung der Sentenzen des Heraklit prägen bis in jüngste Debatten unser Bild von Heraklit. Und mit Simon Gerber als dem einschlägigen Herausgeber könnte man diskutieren, ob die von Schleiermacher für seine Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik herangezogenen Grundlagen nicht kritischer gewählt und eingesetzt waren als die der physischen Geographie von Kant.

Vielleicht wundert es, dass ich bislang so gar nichts über die philosophischen Abhandlungen meines Vorgängers im Amt der Akademieleitung gesagt habe, die Beiträge zum Pflicht- und Tugendbegriff, zum Erlaubten und zum höchsten Gut, um nur auf einige Titel der philosophischen und insbesondere ethischen Beiträge zum Akademieleben anzuspielen. Ich habe diese Beiträge bisher nicht behandelt, weil ich sehr überrascht war, wie eindeutig, ja fast einseitig sie Adolf Harnack in seiner Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahre 1900 ins Zentrum der Wirksamkeit Schleiermachers rückt: „In seinen akademischen Abhandlungen hat sich Schleiermacher auf die Geschichte der alten Philosophie und auf die philosophische Ethik beschränkt, alles Theologische bei Seite lassend“.10 Harnack lässt die philologische Dimension der philosophiegeschichtlichen Abhandlungen und die hermeneutischen Beiträge, aber auch die Abhandlung zum Auswanderungsverbot und die verschiedenen pflichtgemäßen Aufgaben eines Mitgliedes und Sekretars ganz beiseite, Antrittsrede, Rede am Geburtstag Friedrich des Großen (die in unserer Akademie bis 1944 am sogenannten Friedrichstag üblich war). Harnack präsentiert Schleiermacher so, wie er sich in der Antrittsrede präsentiert, in der er am 10. Mai 1810 summarisch von „der kritischen und historischen Behandlung der Philosophie“ spricht, und hebt ihn mit knappen Strichen als originellen Denker von den „trivialen Ausführungen“ des hugenottischen Theologen und Diplomaten Ancillon ab, der Sekretar war, als Schleiermacher in die Akademie aufgenommen wurde. Ancillon, ein eher konservativer Denker aus der Umgebung des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. (und Pfarrer wie Schleiermacher), wird als unberufener vom berufenen Philosophen Schleiermacher abgehoben: „der umsichtigste und feinsinnigste Philosoph nach Kant, […] der grosse Interpret Plato’s“,11 heißt es bei Harnack. Noch viel aufregender ist aber eine Charakterisierung von Schleiermacher bei Harnack in einem summarischen Kapitel über die Bedeutung der Akademie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts: Da wird Schleiermacher von Leibniz abgehoben, dem in der Perspektive des Berliner Kirchenhistorikers bekanntlich die Charaktergröße fehlte. Schleiermacher wird im Gegenzug zu Leibniz aber nicht nur (vermutlich doch ganz zutreffend) als feiner und sensibler Charakter portraitiert, sondern als Denker, der Spinoza, den Rivalen von Leibniz, in der Akademie von Leibniz wieder lebendig werden lässt, Spinoza, „doch mit dem principium individui“. Im von Arndt, Gerber und Schmidt herausgegebenen Band über Schleiermacher im Preußischen Reformprozess12 werden die universale Begabung Schleiermachers und seine...