London - Die Biographie

London - Die Biographie

von: Peter Ackroyd

Pantheon, 2022

ISBN: 9783641301842 , 800 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

London - Die Biographie


 

1. Das Meer!


Wer mit der Hand über die Plinthe striche, auf der sich am Charing Cross das Reiterstandbild König Karls I. erhebt, würde wohl auch die vorspringenden Versteinerungen von Seelilien, Schlangensternen oder Seeigeln streifen. Es gibt eine Photographie des Denkmals, die 1839 entstand – die Szene mit ihren Mietskutschen und den kleinen Jungen im Zylinderhut wirkt schon altertümlich genug, doch wie unvorstellbar fern liegt erst das Leben jener winzigen Meerestiere! Im Anfang war das Meer. Ein alter Varietéschlager trug den Titel Why Can’t We Have the Sea in London? Aber die Frage ist überflüssig; denn vor fünfzig Millionen Jahren bedeckten riesige Wasserflächen den Ort der Hauptstadt.

Ganz sind sie bis heute nicht abgezogen, und so gibt es in den verwitterten Steinen Londons noch immer Zeugnisse maritimen Lebens. Der Portlandstein, aus dem Customs House und St Pancras Old Church erbaut sind, weist eine diagonale Schichtenbildung auf, die von den Strömungen des Ozeans herrührt, und die Bausubstanz des Mansion House und des Britischen Museums birgt uralte Austernschalen. In dem graulichen Marmor das Bahnhofs Waterloo sieht man noch Meeresalgen, und an dem «von Gesprächen schweren» Gestein unterirdischer Gänge ist die Gewalt von Orkanen zu erkennen. Am Fundament der Waterloo Bridge kann man den Meeresboden des Oberen Jura bemerken. Die Gezeiten und Stürme sind noch um uns, und wie Shelley von London gesagt hat: «Dies große Meer … es heult noch immer nach mehr».

London ist zu allen Zeiten ein ungeheurer Ozean gewesen, in dem ein Überleben nicht sicher ist. Die Kuppel von St Paul’s sah man auf einem «unruhig bewegten Meer» von Nebel schwanken, während schwarze Menschenströme über die London Bridge oder Waterloo Bridge ziehen und sich als Sturzbäche in Londons schmale Durchgänge ergießen. Mitte des 19. Jahrhunderts sprachen die Sozialarbeiter davon, «Untergehende» in Whitechapel oder Shoreditch zu retten, und Arthur Morrison, ein Romanschriftsteller jener Zeit, beschwört ein «tobendes Meer von menschlichem Treibgut», das nach Rettung schreie. Henry Peacham, der im 17. Jahrhundert The Art of Living in London schrieb, betrachtete die Stadt als «ein ungeheures Meer, voller Stoßwinde, erschreckend-gefährlicher Untiefen und Felsen», während Louis Simond 1810 geneigt war, «dem Brausen der Wellen um uns zu lauschen, die sich in regelmäßigen Abständen brechen».

Wer London aus der Ferne betrachtet, nimmt nur ein Meer von Dächern wahr und bemerkt von den schwarzen Menschenströmen ebenso wenig wie von den Bewohnern eines unbekannten Ozeans. Und doch ist die Stadt zu allen Zeiten ein ruheloser, wogender Ort, mit Flut und Wellenschlag, Schaum und Gischt. Das Geräusch seiner Straßen gleicht dem Murmeln in der ans Ohr gehaltenen Muschel, und in den großen Nebeln früherer Zeiten glaubten die Bürger, auf dem Grund des Meeres zu liegen. Sogar inmitten seiner Lichter mag London «der Ozeanboden unter den flinken, leuchtenden Fischen» sein, den George Orwell beschrieb. Dies ist ein ständig wiederkehrendes Bild der Londoner Welt, zumal in den Romanen des 20. Jahrhunderts, worin Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung die Stadt zu einer Stätte des Schweigens und geheimnisvoller Abgründe machen.

Doch wie das Meer und wie der Galgen weist London niemanden ab. Die sich auf seine Strömungen hinauswagen, trachten nach Ruhm oder Reichtum, mögen sie oft auch in seinen Tiefen untergehen. Jonathan Swift schilderte die Makler an der Londoner Börse als Handelsleute, die auf Schiffbrüche warten, um die Leichen fleddern zu können, während die Handelshäuser der Londoner City oft ein Schiff als Wetterfahne und Glücksbringer hatten. Zu den häufigsten Sinnbildern auf Londoner Friedhöfen gehören Muschel, Schiff und Anker.

Die Stare am Trafalgar Square sind dieselben Stare, die in den Klippen des nördlichen Schottland nisten. Die Londoner Tauben stammen von den wilden Felsentauben ab, die in den Steilküsten an der Nord- und Westseite der britischen Insel lebten. Für sie sind die Bauwerke der Stadt noch immer Klippen, die Straßen aber das endlose Meer, das sich hinter ihnen erstreckt. Doch der wahre Zusammenfluss von Stadt und Meer liegt darin, dass London – so lange der Herr des Handels und der Meere – auch in seiner Substanz die stumme Signatur der Gezeiten und Wellen aufweist.

Und als sich die Wasser teilten, ward die Erde Londons sichtbar. 1877 trieb man als gewaltiges Beispiel viktorianischer Ingenieurskunst am Südende der Tottenham Court Road einen Brunnen in die Erde, 350 Meter tief. Er reiste durch Hunderte von Jahrmillionen, wobei er die einstigen Urlandschaften dieses Ortes berührte, und an den Bohrungen können wir die Schichten unter den Füßen der Londoner ablesen, vom Devon über den Jura bis zur Kreidezeit. Über diesen Schichten liegen 200 Meter Kalk, der als Zutageliegendes an den Downs oder den Chilterns das Londoner Becken säumt, jene flache, untertassenförmige Senke, in der die Stadt liegt. Auf dieser Kreideschicht lastet der schwere London-Ton, den seinerseits Ablagerungen von Kiessand und Ziegelerde bedecken. Hier also ist die Stadt entstanden – in einem endlosen Prozess, denn Ton und Kalk und Ziegelerde wurden seit fast zweitausend Jahren zum Bau ihrer Häuser und öffentlichen Gebäude verwendet. Fast ist es, als habe sich die Stadt aus ihren Uranfängen erhoben, indem sie aus dem unverständigen Stoff vergangener Zeiten eine menschliche Siedlung erschuf.

Durch Brennen und Formen entsteht aus diesem Ton der London Stock, der charakteristische gelbbraune oder rote Backstein, der den Baustoff für die Häuser der Stadt abgegeben hat. Er verkörpert wahrhaftig den genius loci, und Christopher Wren vermutete: «Die Erde um London wird, recht behandelt, ebenso gute Ziegelsteine liefern, wie es die römischen waren … und die in unserer Luft jeden anderen Stein überdauern, den unsere Insel liefert.» William Blake nannte die Londoner Backsteine «wohlgearbeitete Gemütsbewegungen», womit er meint, dass die Verwandlung von Ton und Kalk in den Stoff der Straßen ein zivilisierender Vorgang war, der die Stadt an ihren Uranfang knüpfte. Die Häuser des 17. Jahrhunderts sind aus dem Staub, der in einer Eiszeit vor 25 000 Jahren über das Gebiet von London trieb.

Aus dem London-Ton kommt auch Handfesteres: die Skelette von Haien (im East End herrschte der volkstümliche Glaube, dass Haifischzähne gut gegen Krämpfe seien), der Schädel eines Wolfs in Cheapside und Krokodile im Ton von Islington. 1682 grüßte Dryden diese heute vergessene und unsichtbare Landschaft Londons:

Doch deinen Zuwachs sehn wir Monster fassen,
gezeugt im Schleim, den du zurückgelassen.

«Yet monsters from thy large increase we find / Engender’d on the Slyme thou leav’st behind.»

John Dryden (1631–1700), Dichter, Theaterschriftsteller

Acht Jahre später, 1690, fand man beim heutigen King’s Cross die Überreste eines Mammuts.

Durch die Alchemie des Wetters kann sich der London-Ton in Schlamm verwandeln, und so bemerkt Charles Dickens 1851, es gebe so «viel Schlamm in den Straßen …, dass es nichts Wunderbares hätte, sähe man einen Megalosaurus von vierzig Fuß Länge wie eine elefantenförmige Eidechse den Holborn Hill hinaufwatscheln». In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts waren für Louis-Ferdinand Céline die Autobusse des Piccadilly Circus eine «Herde von Mastodonten», die in das Territorium zurückkehren, das sie verlassen hatten. Und Ende des 20. Jahrhunderts sieht der Held von Michael Moorcocks Mother London beim Passieren der Fußgängerbrücke neben der Hungerforder Eisenbahnbrücke «Monster, an Schlamm und Riesenfarnen».

Das Mammut von 1690 war nur das erste vorzeitliche Relikt, das man in der Gegend von London entdeckte. Es lagen Nilpferde und Elefanten unter dem Trafalgar Square, Löwen am Charing Cross und Büffel neben St Martin-in-the-Fields. Man fand einen Braunbären im nördlichen Woolwich, Makrelen in den alten Ziegelein von Holloway, Haie in Brentford. Zu den wilden Tieren Londons zählen Rentiere, Riesenbiber, Hyänen und Nashörner, die einst in den Sümpfen und Lagunen der Themse grasten. Und ganz verschwunden ist diese Landschaft nicht. Noch ist es in der Erinnerung der Menschen, wie der Nebel aus dem Marschland um Westminster die Fresken von St Stephen zerstört hat. Und noch heute kann man neben der National Gallery die Anhebung des Bodens zwischen mittlerer und oberer Themseterrasse im Pleistozän erkennen.

Relikte zeigen, dass es schon lange vor der römischen Stadtgründung menschliche Besiedlung an der Themse gab.

Die Gegend war auch damals nicht menschenleer. In den Knochen des Mammuts vom King’s Cross hat man Stücke einer Streitaxt aus Flintstein entdeckt, die ins Paläolithikum zu datieren ist. Mit einiger Sicherheit können wir sagen, dass es seit einer halben Million Jahre in London menschliches Hausen und Jagen gegeben hat, wiewohl keine feste Besiedlung. Der erste...