Das Herz der Familie - Mehr Paar und nicht nur Eltern sein

Das Herz der Familie - Mehr Paar und nicht nur Eltern sein

von: Romy Winter

Beltz, 2022

ISBN: 9783407867445 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Das Herz der Familie - Mehr Paar und nicht nur Eltern sein


 

Einleitung


Mit gesenktem Kopf sitzt sie auf der Couch in meiner Praxis. Ihr Blick sucht Halt auf dem Boden. Ihre linke Hand umklammert das Taschentuch, welches ich ihr gleich zu Beginn der Paarsitzung reiche, als die Tränen zu fließen beginnen. Mittlerweile ist es nass. Zwei der Tränen fallen zu Boden und landen neben dem Schuh ihres Mannes. Er fühlt sich sichtlich unwohl. Vielleicht auch ein bisschen schuldig. Aber vor allem ratlos. Nur das Ticken meiner Uhr durchbohrt die mitteilsame Stille. Es ist unsere erste Sitzung. Wie so oft, wenn Paare zu mir kommen, war es ihre Idee. Er kommt trotzdem mit. Ihr zuliebe. Doch die eigentliche Klientin sitzt mir unsichtbar zwischen beiden gegenüber: Es ist ihre Beziehung.

Marie und Jonas

Marie und Jonas1 sind vor 18 Monaten Eltern geworden. Milan war ein absolutes Wunschkind, auf dessen Ankunft sich beide wie verrückt freuten. Nach acht gemeinsamen Jahren endlich eine richtige Familie. Jonas ist Projektmanager, Marie arbeitete vor Milans Geburt in einer kleinen PR-Agentur. Sie lebten eine moderne und gleichberechtigte Partnerschaft, in der sich laut eigener Aussage beide sicher und gesehen fühlten. Sie verbrachten eine Menge Zeit miteinander und teilten bestimmte Interessen, gestanden sich aber auch einen großen Raum an Freiheit, Autonomie und Individualität zu. Jeder hatte seines. Und zusammen hatten sie ihres. Doch seit Milan da und Marie in Elternzeit ist, hat sich die Beziehung zwischen den beiden verändert. Ein Phänomen, das die meisten Elternpaare kennen. Nur leider bedeutet »verändert« in den wenigsten Fällen »verbessert«. Natürlich ist jede Partnerschaft – unabhängig davon, ob es Kinder in ihr gibt – von Veränderungsprozessen geprägt. Aber es gibt wenig Vergleichbares, was die Beziehung eines Liebespaares so stark polarisiert wie das Elternwerden – oder nicht Elternwerden.

Marie ist erschöpft. Sie beschreibt, wie sehr ihr die Fürsorge und Verantwortung für Milan manchmal über den Kopf wächst. Sie versichert dreimal, dass sie Milan natürlich über alles liebe. Sie schämt sich für ihre Überlastung und auch dafür, dass sie manchmal um ihr altes, selbstbestimmtes Leben trauert. Gleichzeitig ist sie wütend. Auf sich. Aber vor allem auf Jonas. Sie fühlt sich alleingelassen und einsam – und macht ihn dafür verantwortlich. Der Job scheint ihm wichtiger zu sein als seine Familie. Sonst würde er weniger arbeiten und abends nicht ab und zu noch mit den Jungs zum Squash gehen, statt nach Hause zu kommen. Er weiß doch, wie anstrengend das alles für sie ist. Immer müsse sie ihm alles sagen. Nie sieht er von allein, was zu tun ist. Es ist doch sicher nicht zu viel verlangt, dass er mal von allein darauf kommt, ihr Milan abzunehmen oder Zahncreme zu kaufen, wenn die Tube alle ist. Ihr Frust sitzt tief.

Auf die Frage, wie sie Jonas als Vater wahrnimmt, antwortet sie, dass er ein guter Vater ist. Ja, und eigentlich auch ein guter Mensch. Wenn er doch nur manchmal etwas anders wäre. Aufmerksamer. Aufopfernder. Selbstständiger. Geduldiger. Denn wenn er gestresst ist, dann pampt er Milan manchmal an – und natürlich möchte Marie nicht, dass Milan sich schlecht oder falsch fühlt. Sie möchte ihn schützen. Und die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Sie bedauert, dass Jonas sich nicht aktiver mit Erziehung und Familie beschäftigt, zum Beispiel mithilfe von Podcasts und Büchern. Dann hätte sie vielleicht weniger das Gefühl, dass sie für alles allein verantwortlich ist. Und es würde ihr besser gehen.

Jonas sagt, er finde die neuen Erziehungsansätze gut. Er bewundert Marie für ihre Geduld und ihren Mut, neue Wege zu gehen. Mit neuen Wegen meint er andere Wege als die, über die er getragen, geschoben und gezogen wurde, als er selbst Kind war. Er wünscht sich mehr für seinen Sohn und versteht, dass »bedürfnisorientierte Erziehung« – wie Marie es nennt – viel Zeit, Geduld und Energie von Eltern fordert. Er spürt, dass es sich richtig anfühlt. Und trotzdem fällt es ihm nicht immer leicht, so zu reagieren, wie er es gern täte. Und ab und an, da ist er eben auch einfach anderer Meinung als Marie. Dann gibt sie ihm das Gefühl, dass seine Meinung nicht zählt. Manchmal fühlt er sich regelrecht unzulänglich und inkompetent – so, als könne er es ihr sowieso nicht recht machen. Milan und Marie, die beiden seien so eingespielt und vertraut, dass es Jonas schwerfällt, seinen Platz zu finden. Als ich ihn frage, was ihn sonst noch belaste, sagt er schüchtern, fast schuldig: »Ich vermisse meine Frau. Ich vermisse uns.« Er meint das nicht in einem besitzergreifenden oder gar patriarchalen Sinne. Aber er hat realisiert, dass die Elternschaft uns Eltern nicht nur unglaublich viel gibt, sondern uns auch einiges nimmt. Zeit und Energie zum Beispiel – oder eben auch die eingespielten Routinen und Rollen als Paar. »Wir lernen einander noch einmal ganz neu kennen«, sagt er. Jonas mag die neuen Facetten, die die Mutterschaft an Marie hervorgebracht hat und noch immer hervorbringt. Er klingt sanft, ehrlich, liebevoll und sogar stolz, als er das sagt, doch dann fügt er mit einer gewissen Unsicherheit und Enttäuschung in der Stimme hinzu: »… aber weißt du Romy, ich finde meine Frau erzieht mich strenger als unseren Sohn.«

Das ist der Moment, in dem sich die anfangs erwähnte Stille in meinem Praxisraum wie ein Nebel ausbreitet. Es gibt verschiedene Formen der Stille. Das hier war eine gute Stille. Sicher war es eine Stille, die aus einem Überraschungsmoment geboren wurde und der die Worte fehlten. Aber sie war nicht strafend oder schockierend. Nein, es war diese Art Stille, in der man Menschen denken hören kann. Da saß Jonas nun, verwundert über seine eigene Courage und versunken in die Zweifel, die ihn fragten, ob er zu weit gegangen war. War er? Maries Blick bleibt gesenkt. Nur ihre Augenbewegungen verraten, dass sich in ihr etwas tut. Anfangs schaut sie hauptsächlich nach links unten auf den Boden. Ein Zeichen dafür, dass sie in sich hineinhört und ihren Gefühlen oder inneren Prozessen lauscht. Doch dann wischt sie ihre Tränen weg, hebt langsam den Kopf und richtet ihren Blick aus dem Fenster gegenüber.

In Beratungs- oder Therapiesitzungen ist Stille so eine Sache. Man muss sie aushalten können. Egal auf welchem Platz man sitzt, man sollte ihr Raum geben. Denn meistens ist die Stille der Raum, in dem neue Gedanken entstehen und Gefühle sich sortieren. Genau dafür kommen Menschen ja eigentlich zu Menschen wie mir. Schwer ist es trotzdem.

Das Schweigen dauert nun bereits eine halbe, wenn nicht sogar eine ganze Minute. (Und wer jetzt meint, dass das nicht lang sei, kann gern einmal ausprobieren, auf die Äußerung seines Partners, Kindes oder Chefs eine halbe Minute nicht zu reagieren und stattdessen nur zu schweigen. Viel Glück!) Während ich noch überlege, ob ich Marie nach ihren Gedanken fragen oder doch lieber Jonas bitten sollte, diese wichtige Wahrnehmung noch etwas genauer auszuführen, ergreift Marie das Wort. Bisher haben die beiden über mich kommuniziert, doch nun wendet sie sich Jonas direkt zu und sagt mit fester Stimme: »Vielleicht hast du recht. Ich bin wirklich streng zu dir. Ich bin genervt und gereizt – und irgendwie auch enttäuscht, eben weil ich dir alles sagen muss. Aber ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass das wie Erziehung ist. Eine Erziehung, die ich für Milan auf keinen Fall will.« 

Ausnahme oder Regel?


Wir alle kennen mindestens ein Paar, dem es so geht wie Marie und Jonas. Vielleicht sind wir sogar selbst dieses Paar. Und damit sind wir in bester Gesellschaft. Denn das Phänomen, dass Frauen sich mit der Verantwortung alleingelassen und Männer sich erzogen beziehungsweise gegängelt fühlen, ist nicht nur nicht neu, nein, es wird sogar mehr und mehr zum Untersuchungsgegenstand von Paartherapeuten, Psychologen und Psychiatern – vielleicht weil wir heute einfach andere Ansprüche an unser Leben und Lieben haben. Allerdings ist dieses Dilemma sicher nicht allein auf die Geschlechter oder eine Frau-und-Mann-Dynamik zu schieben, denn auch unter gleichgeschlechtlichen Paaren und Paaren, denen es gelungen ist, das klassisch patriarchale Rollenmodell aufzuknacken, kann es diese Empfindungen geben.

So unterschiedlich all die Paare, die ich begleite, auch sind, in ihren Konflikten sind sie sich dann doch recht ähnlich. Meist mangelt es an Wertschätzung, Verständnis, Zuwendung und Respekt füreinander, weshalb die typischen Streitthemen wie Haushalt, Kindererziehung, Finanzen, Familie, Job und Sex eine starke Brisanz entwickeln – ganz besonders bei Elternpaaren mit kleinen und mittelgroßen Kindern. Allein das Bedürfnismanagement, das nötig ist, um drei oder mehr...