Das Schankmädchen und der Söldner

Das Schankmädchen und der Söldner

von: Nicole Locke

CORA Verlag, 2021

ISBN: 9783751500494 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,49 EUR

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Das Schankmädchen und der Söldner


 

1. KAPITEL

Er war wieder da.

Helissent stieß hastig den Atem aus und rückte ein weiteres Mal die Krüge auf dem Tablett zurecht. Er war wieder da. Es war der zweite Abend, an dem er herkam, doch das war nicht der einzige Grund, wieso er ihr sofort aufgefallen war.

„Beeil dich, Mädchen, die Gäste haben Durst.“

Helissent drehte sich nicht zu Rudd um. Überhaupt sah sie ihn nie an, den Sohn des ehemaligen Wirts, der nun selbst der Wirt war. Sie versuchte keinerlei Notiz von ihm zu nehmen, doch das half ihr nicht weiter. Sein Blick war jeden Tag ein wenig berechnender als zuvor, so als wäre sie eine ihm ausgelieferte Mastgans, die schon bald lange genug gemästet sein würde.

„Wenn du noch länger nur da herumstehst“, fuhr er fort und schlug mit seinem Handtuch so in die Luft, dass es einen Knall erzeugte, „werde ich noch einen Krug mehr dazustellen und dich das Tablett auf dem Kopf tragen lassen.“

Würde er noch irgendetwas dazustellen, würde sie den Krug über seinem Kopf auskippen. Aber was würde ihr das bringen, außer dass sie dann ohne Obdach sein würde?

Sie setzte ein Lächeln auf, das ihre Narben umso ausgeprägter erscheinen ließ. Mit Unschuldsmiene erwiderte sie dann: „Ich will mich nur vergewissern, dass alles seine Ordnung hat, damit die Gäste bekommen, was sie haben wollen.“

Rudd ließ sich keine Reaktion auf ihr durch die Narben verzerrtes Lächeln anmerken. Das war die eine Sache, die ihr die größte Angst bereitete – dass sie ihn nicht erschrecken konnte. Jeder erschrak beim Anblick ihrer Narben, die von der Schläfe bis zu den Füßen die gesamte rechte Seite ihres Körpers überzogen. Diese Narben waren es, die Gäste auf der Durchreise davon abhielten, sich ihr zu nähern.

„Wenn du weiter versuchst, mir das Leben schwer zu machen, werde ich dafür sorgen, dass die Gäste das bekommen, was sie wirklich haben wollen …“, gab er zurück und wickelte sich das Handtuch um die zur Faust geballten Hand.

Sie nahm das Tablett an sich und überwand Wut und Angst, die an die Oberfläche drängten, was sie aber nicht zulassen durfte. In ihrem Dorf gab es nicht viele Straßen, auf denen sie hätte leben können, und ganz gewiss war niemand sonst bereit, ihr ein Dach über dem Kopf zu geben.

Dass dieses winzige Dorf überhaupt noch existierte, verdankte es einzig dem Umstand, dass es an Straße lag, die London und York miteinander verband. Die meisten Reisenden rasteten hier, blieben aber nicht über Nacht. Wie gern wäre sie auch von hier weggegangen. Aber sie konnte nirgendwohin. Hier im Dorf wussten die Leute, wieso sie so entstellt war. In jedem anderen Dorf und jeder Stadt hätte man geglaubt, sie wäre mit einem Fluch belegt. Oder, was noch schlimmer gewesen wäre, man hätte sie bemitleidet.

Hier dagegen nahm man einfach keine Notiz von ihr. Ausgenommen Rudd, eine Zeitlang der verlorene Sohn seiner Familie, der einen Monat nach dem Tod seiner Eltern hierher zurückgekehrt war. Er nahm Notiz von ihr, sehr sogar.

Also war es an ihr, einen großen Bogen um ihn zu machen und sich ganz auf die Gäste im Wirtshaus zu konzentrieren. Manche waren Reisende, der größte Teil bestand aus Stammgästen … und heute gehörte er auch wieder zu den Besuchern. Sie konnte spüren, dass er den Wortwechsel zwischen Rudd und ihr aufmerksam verfolgte.

Sie umrundete die schmale Theke, wich einem wankenden Mann aus und ging zu den Gästen, die am großen Fenster saßen, wo sie das Tablett in der Tischmitte absetzte. Für einen kurzen Moment hielt sie mit geschlossenen Augen inne, um den wärmenden Sonnenschein zu genießen, der durch das Fenster drang. Oft war das für sie die einzige Gelegenheit, um am Tag etwas von der Sonne zu erhaschen.

Dann lächelte sie die Gäste am Tisch freundlich an, Stammgäste, die ihr in die Augen sahen und ein paar freundliche Worte für sie übrighatten. Gäste, die schon ihre Familie und auch John und Anne gekannt hatten, die früheren Wirtsleute, die sie bei sich aufgenommen hatten, nachdem sie durch ein Feuer ihr Zuhause und ihre Familie verloren hatte.

Seitdem war sie für jede freundliche Geste dankbar, die ihr zuteilwurde. Das war vermutlich auch der Grund, wieso ihr Blick immer wieder zu ihm wanderte. Zu dem Mann, der weiter hinten an einem in Schatten getauchten Tisch saß. Doch obwohl er sich drinnen aufhielt, schob er nie die Kapuze nach hinten.

Er beobachtete sie, was sie bei jedem anderen Mann wütend gemacht und sie dazu veranlasst hätte, den Kopf so zu drehen, dass die Gaffer ihre Narben ganz genau sehen konnten. Sie mochte es, wenn die Männer vor Schreck zusammenzuckten oder vor Scham einen roten Kopf bekamen und sich wegdrehten.

Ihr gefiel es nicht etwa, weil es ihnen unangenehm war, sondern weil sie selbst dadurch an ihre Schande, ihre Feigheit und all den Schmerz erinnert wurde, der mehr als verdient war.

Doch bei dem Mann im Schatten legte sie es nicht darauf an, ihn zu erschrecken, denn er hatte Rudd gesagt, ihre Honigküchlein seien einzigartig gut. Deshalb war er heute auch hierher zurückgekehrt. Er hatte weitere Küchlein bestellt und im Voraus dafür bezahlt, und nun war er hier, um sie abzuholen.

Aus einem unerfindlichen Grund verspürte sie eine innere Unruhe, während sie an ihm vorbeiging, um zur Küche im hinteren Teil des Gebäudes zu gelangen. Den Kopf hatte er ein wenig nach vorn gebeugt, sodass sie seine Augen immer noch nicht erkennen konnte, dennoch nickte sie zum Gruß. Früh am Morgen war sie aufgestanden, um fünfundzwanzig Küchlein zu backen. Sie wurde ob ihrer Backkunst oft gelobt, jedoch hatte noch nie zuvor jemand darum gebeten, so viele Küchlein gebacken zu bekommen. Sie war bis dahin keinem Mann mit einer solchen Vorliebe für Süßes begegnet, sodass sie es gewagt hatte, Rudd auf den Fremden anzusprechen.

Rudd kannte seinen Namen nicht, wusste aber, dass er mit fast zwanzig anderen Männern vor ein paar Tagen hier angekommen und nun so wie sie in einem der Gasthäuser am Dorfrand untergebracht war. Eigentlich nur Reisende, doch zwei von ihnen trugen Sporen. Nämlich dieser Mann, der sein Gesicht unter der Kapuze verbarg, und ein anderer, der so enorm groß war, dass er den Kopf einziehen musste, um sich nicht an den Deckenbalken zu stoßen.

Am ersten Tag hatten er und die anderen Männer auf verschiedene Tische verteilt gesessen. Es wurde viel geredet, manchmal in einer Sprache, die ihr fremd war. Die Männer wandten sich in Abständen mit irgendwelchen Anliegen oder Fragen an den Mann mit der Kapuze. Weder sah sie sein Gesicht noch konnte sie seine Stimme hören, obwohl seine Leute zu Letzterem in der Lage sein mussten. Schließlich lachten sie über manches, was er zu ihnen sagte, dann wieder nickten sie, als würden sie ihm zustimmen. Es war offensichtlich, dass er in der Rangordnung über ihnen stand.

Fasziniert beobachtete sie die Gruppe, wann immer sich eine Gelegenheit ergab. Sie fragte sich, wer diese Männer wohl waren und wohin sie als Nächstes reisen würden. Nicht dass es sie etwas anging, aber es war für sie selbst ein kleines Vergnügen, das sie sich erlauben konnte.

Am zweiten Tag kamen nur er und der Riese her. An dem Tag hätte sie schwören können, dass er sie nicht aus den Augen ließ. Bei dieser Gelegenheit trug er anders als zuvor keine Sporen, dennoch war sie sich sicher, dass es sich bei ihm um einen Ritter handelte. Die Kleidung, die er anhatte, war nicht von besonderer Qualität, doch es war nicht zu übersehen, mit welcher Eleganz er sich bewegte. Er war von großer, schlanker Statur, und seine Haltung hatte nichts mit der jener Bauern gemeinsam, die in diesem Dorf und in der Umgebung zu Hause waren.

Auch konnte er nicht das Schwert unter seinem Mantel verbergen, das er bei sich hatte. Es wirkte wie ein Teil von ihm – ein natürlicher, räuberischer, tödlicher Teil.

Am dritten Tag tauchte nur er im Wirtshaus auf. Es war der Tag, an dem er seine Bestellung abholen wollte. Während sie die Küchlein mit großer Sorgfalt in die Reisetaschen packte, wanderte ihr Blick zu den Tischen. Sie fragte sich, ob er wohl diesmal den Kopf heben würde, sodass sie sein Gesicht sehen konnte.

Rhain betrachtete die Gäste in diesem schäbigen Wirtshaus, das sich in nichts von den Hunderten anderen unterschied, in die er in den letzten fünf Jahren eingekehrt war. Für Söldner wie ihn und seine Männer zählten nur die Lage eines solchen Wirtshauses und die Frage, welche Informationen es dort zu sammeln gab. Hier traf weder das eine noch das andere zu. Das Einzige, was dieses Dorf zu bieten hatte, waren Schafe in sehr großer Zahl. Selbst wenn ein kräftiger Wind über das Land hinwegfegte, waren der Geruch und der Lärm unverkennbar, den Schafe verursachten.

Nur wenige Tagesritte entfernt lag in nördlicher Richtung Tickhill Castle, inzwischen dem Befehl des Königs unterstellt und von großer strategischer Bedeutung. In einer Burg wie dieser mit all ihren Annehmlichkeiten würde man ihn und seine Leute willkommen heißen. Zu Beginn dieser Reise war es seine Absicht gewesen, dort unterzukommen, denn eine Burg war genau der richtige Ort, um an viele Informationen zu gelangen. Doch das konnte er sich jetzt nicht länger erlauben. Stattdessen hatte er entschieden, im Verborgenen zu bleiben, was nichts mit seinem Broterwerb als Söldner zu tun hatte. Daher hatte er in diesem heruntergekommenen Dorf Halt gemacht.

Die Quartiere ein Stück weiter die Straße entlang boten angemessenen Schutz vor dem Regen, doch dieses Wirtshaus …

Rhain ließ den Kopf sinken, als die Frau an seinem Tisch vorbeikam. Dennoch...