Seniorenhilfe weltweit - Erfahrungen in Lateinamerika

Seniorenhilfe weltweit - Erfahrungen in Lateinamerika

von: Christel Wasiek

Verlag Herder GmbH, 2021

ISBN: 9783451824777 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Seniorenhilfe weltweit - Erfahrungen in Lateinamerika


 

2. Kapitel


Uruguay


Information zum Land


Fläche: 176.215 km2
Hauptstadt: Montevideo
Einwohner (2021): 3.480.311
Seniorenanteil: 17 Prozent sind 60 und älter
Lebenserwartung: 76,2 Jahre (Männer 73,1, Frauen 79,5)

Seit 1996 ist das Rentensystem ein gemischtes: einerseits das solidarische Rentensystem durch Umlage von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen sowie staatlichen Zuschüssen, andererseits das individuelle Kapitaldeckungssystem. Anspruch auf eine solidarische Regelaltersrente besteht ab 60 Jahren. Voraussetzung ist, dass die Versicherten seit mindestens 30 Jahren Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt haben. (Quellen: DW, DIA e.V., countrymeters, UN)

Mein Einstieg


1970


Motiviert für die Arbeit in Lateinamerika reiste ich Ende 1970 als Sozialarbeiterin nach Uruguay aus. In der Tasche steckte ein Vertrag der „Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe“

(AGEH e.V., heute AGIAMONDO e.V.), der mich als „Entwicklungshelferin“ auswies. Damals hat mich beruflich und privat die Seniorenarbeit noch wenig interessiert. Ich habe mir auch nicht vorstellen können, dass der demografische Wandel in Uruguay und anderswo sowie seine Auswirkungen auf die Seniorenbevölkerung meine Tätigkeit und mein Leben während des Entwicklungsdienstes und viele weitere Jahre anschließend beeinflussen würden. In meinem Dienstvertrag war Seniorenarbeit nicht erwähnt. Aufgetragen war mir, mich an der Bearbeitung aller Themenstellungen meines uruguayischen Projektträgers mit Sitz in Montevideo zu beteiligen, so war ich offen für alle Themen und auch neugierig auf sie.

Der Motor


Das „Instituto de Estudios Sociales del Consejo Uruguayo de Bienestar Social“ (IES, Uruguayischer Verein für Wohlfahrtspflege, in etwa analog dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge), mein Projektträger, ist ein Dachverband öffentlicher und gemeinnütziger Organisationen. Zu seinen Aufgaben gehört das Identifizieren, Analysieren und Bearbeiten neuer sozial und gesellschaftlich relevanter Fragestellungen.

1969


Im Juli 1969 hat das IES erstmalig den demografischen Wan- del im Land bei der Seminarveranstaltung „Jornadas de Promoción del Bienestar Social de la Ancianidad“ (Tagung zur Förderung der sozialen Wohlfahrt im Alter) aufgegriffen. Das war der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sozialgerontologie in Uruguay.

Der internationale demografische Wandel


Der demografische Wandel mit einer starken Zunahme der Seniorenbevölkerung war in den 1970er Jahren in einem Land des globalen Südens ein völlig neues Thema. Erst bei der II. UN-Weltversammlung über Fragen des Alters (Madrid, 2002) wurde die weltweite Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung und alter Menschen als generelles Phänomen und gesellschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts erkannt. Bis dahin hielt sich in den sogenannten Entwicklungsländern der Mythos von der Versorgung alter Menschen durch ihre Familien. In der Konsequenz fehlte es sowohl bei den Regierungen als auch in der Zivilgesellschaft an Bewusstsein für die gesellschaftlichen Veränderungen und die Notwendigkeit einer Sozial- und Gesellschaftspolitik, die sich auch an den Bedürfnissen der Seniorenbevölkerung orientierte.

Der demografische Wandel in Uruguay


1963


In Uruguay hat sich der demografische Wandel früher als in anderen Ländern gezeigt, das genannte Seminar in 1969 hat bei den Teilnehmer/innen dafür ein Problembewusstsein geschaffen. Der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung Uruguays betrug 1963 bereits 7,8 Prozent, er war zwar niedriger als in Europa, aber sehr viel höher als in anderen Ländern der Region, wie z.B. in Chile mit 4,2 oder Mexiko mit 3,8 Prozent.

Uruguay unterscheidet sich bis heute auch in anderen Aspekten von den Ländern der Region: Die Bevölkerung stammt fast ausschließlich von europäischen Einwanderern ab, vor allem aus Italien und Spanien, die Lebenserwartung ist hoch, die Geburtenrate niedrig. Anfang des 20. Jahrhunderts ist Uruguay in seiner Sozialgesetzgebung dem Modell des europäischen Wohlfahrtsstaates gefolgt, der in dem Land jedoch schon lange nicht mehr leistungsfähig ist. Allerdings hat das wohlfahrtsstaatliche Konzept dazu beigetragen, dass Uruguay als erstes Land Lateinamerikas im Jahr 1919 eine beitragsfreie Sozialrente für alte Menschen eingeführt hat. Die gibt es heute noch wie auch ein auf Beiträgen beruhendes Rentensystem für die Mehrheit der Bevölkerung.

Die traditionelle Verbindung der Bevölkerung zu Europa hat auch die Dienste der Altenhilfe beeinflusst. Ebenso wie man früher in Europa nur Altenheime als Antwort auf Pflegebedürftigkeit kannte, gab es auch in Uruguay zwar stationäre Einrichtungen der Altenhilfe, aber keine Beratungs- oder

Ein alter Mann im Rollstuhl sucht Wärme an der Wand des Altenheims Piñeyro del Campo in Montevideo, 1972

ambulante Pflegedienste. Die Heime hatten keinen Heimcharakter, sie waren eher einfache Asyle für eine notdürftige, trotzdem dauerhafte Unterbringung und rudimentäre medizinische Versorgung, nicht auf soziales Wohlbefinden ausgerichtet. Es gab kaum Seniorenorganisationen mit Ausnahme von Vereinen pensionierter Lehrer/innen, alter Gewerkschaftsmitglieder oder einzelner Altenclubs. Beruflich haben sich nur Ärzte mit der Situation alter Menschen befasst.

In einem säkularisierten Land


Sehr schnell habe ich festgestellt, dass Kirche und kirchliche Caritas in der Sozialarbeit oder auch in der Seniorenarbeit in Uruguay wenig präsent waren, obwohl es eine katholische Schule für Sozialarbeit gab. In den Pfarrgemeinden trafen sich zwar einzelne Seniorengruppen, aber selbst in den Altenheiminitiativen in den Provinzen waren die Pfarrer nicht aktiv. Auch wenn meine Projektträger gemeinnützige Nicht-Regierungsorganisationen waren, hätte ich mir doch kirchliches Engagement gewünscht. Ich musste erst lernen, dass Lateinamerika doch nicht der ausgesprochen „katholische Kontinent“ war, wie ich es angenommen hatte.

Uruguay ist sicher das am meisten säkularisierte Land Lateinamerikas. Es hat mich persönlich schon geschockt, dass Weihnachten dort der „Tag der Familie“, die Karwoche die „Woche des Tourismus“ und das Fest Maria Empfängnis am 8. Dezember, wenn die Badesaison anfängt, der „Tag des Strandes“ genannt werden. Ich blieb allerdings bei meiner christlichen Sprachregelung, auch wenn die nicht alle verstehen wollten.

Der Anstoß


In den 1960er Jahren war die soziale und wirtschaftliche Situation alter Menschen – das ergab die Analyse durch das IES – unbefriedigend, sodass das Seminar sozialpolitische Maßnahmen zugunsten der Seniorenbevölkerung forderte. Das IES wurde gebeten, das Thema weiter zu verfolgen.

Seniorenarbeit als Chance für mich


Viele Arbeitsfelder in der Sozialarbeit Deutschlands waren auch in den 1970er Jahren konzeptionell, inhaltlich und methodisch bereits etabliert. Am konkreten Arbeitsplatz gab es für die Sozialarbeiterin oder den Sozialarbeiter nicht besonders viel zu verändern, auch wenn man sich engagierte. In Uruguay bin ich ganz zufällig mit einer Thematik in Berührung gekommen, die mich bis dahin nicht interessierte. Sehr bald habe ich aber festgestellt, dass Seniorenarbeit ein „unbeschriebenes Blatt“ war mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten. Deshalb habe ich Seniorenarbeit mit ihren Herausforderungen und noch leeren Handlungsfeldern als attraktiv empfunden. Wo hat eine Sozialarbeiterin schon einmal die Möglichkeit, etwas Neues mit zu gestalten?

Soziale Gerontologie


Zur Klärung dessen, worum es in diesem Buch und all der darin genannten Arbeit von vielen Akteur/innen in den Ländern Lateinamerikas geht, eine Definition:

Soziale Gerontologie ist eine wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig anwendungsorientierte Teildisziplin der Gerontologie. Die sozialen Beziehungen im Alter, die gesellschaftliche Teilhabe älterer und alter Menschen sowie die Sicherung ihrer individuellen Bedürfnisse stehen bei ihr im Fokus. Dabei sind Selbstbestimmung und Autonomie der älteren Menschen maßgebende Werte. Es geht um Lebensqualität und Lebenszufriedenheit im Alter, immer unter der Rücksicht auf persönliche Ressourcen und biografische Prägungen, und es geht um die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen individuellen Alterns. (Vgl. Grundlagen der Sozialen Gerontologie, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Ausgabe 8/2015)

Eine „Imperialistin“?


In den 70er Jahren gab es in Uruguay eine starke Ablehnung der USA und des Neoimperialismus – jedenfalls in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ich war doch überrascht, dass es Menschen gab, die mich für einen Teil des Neoimperialismus hielten. Dafür reichte es aus, Deutsche zu sein. Ich bin...