Alle anderen gibt es schon - Die Kunst, du selbst zu sein

Alle anderen gibt es schon - Die Kunst, du selbst zu sein

von: Janis McDavid

Verlag Herder GmbH, 2021

ISBN: 9783451834561 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Alle anderen gibt es schon - Die Kunst, du selbst zu sein


 

Ouvertüre


Wer bist du, wenn niemand zusieht? Hast du dir jemals diese Frage gestellt? Und hast du sie jemals wirklich – also: wirklich – beantwortet? Wie geht es deinem Ego, wenn du nackt vor dem Spiegel stehst und nicht mehr geschmückt bist mit Insignien wie Jobtitel oder akademischem Grad, Kleidung, Schmuck, Auto, Familienstand, Make-up, Smartphone und all dem, was wir besitzen, nutzen und uns zulegen, weil es (angeblich) Ausdruck unserer Persönlichkeit ist?

 

Es war tatsächlich ein Spiegel, der mich vor über zwanzig Jahren mit mir selbst und der Frage „Was ist Selbstwertgefühl?“ konfrontierte (siehe Teil 1 dieses Buches). Damals, im Alter von acht Jahren, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie sehr ich mich äußerlich von anderen unterschied: Ich hatte keine Arme und Beine, nur Rumpf und Kopf! Ich fühlte mich schrecklich und schämte mich meiner selbst. Ich schämte mich vor allem, weil dieser gravierende Unterschied für mich bislang nicht bedeutsam gewesen war – obwohl man ihn doch gar nicht übersehen konnte! Ich hatte es bisher eher so betrachtet wie die Tatsache, dass einige Menschen Sommersprossen haben, andere nicht. Im Spiegel musste ich erkennen, dass es wohl doch anders war.

Wie peinlich schien mir plötzlich mein Reden darüber, dass ich einmal Motorradpolizist werden würde, wie peinlich war überhaupt alles, was ich bis dahin mit größter Selbstverständlichkeit in Betracht gezogen hatte, obwohl es ohne Arme und Beine doch gar nicht umsetzbar sein würde. Dass ich keine Gliedmaßen hatte, war nicht zu übersehen, und ausgerechnet ich selbst hatte das offensichtlich nicht gecheckt. Wie dumm war das denn? Wie hatte ich mich so normal verhalten können, wo ich doch gar nicht normal war?

Von einer Sekunde auf die andere war meine Welt eine andere. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, dass ich bis dahin genauso glücklich und aktiv gewesen war wie meine Freunde und Klassenkameraden. Es spielte auch keine Rolle mehr, was ich alles ohne Arme und Beine machte und lebte.

Dass ich zwar keine Arme und Beine hatte, sie mir aber nicht fehlten und ich seit nunmehr acht Jahren dafür das beste Beispiel war – diese Sicht auf die Dinge erlosch in jenem Moment vor dem Spiegel. Die Selbstablehnung poppte prasselnd auf wie Maiskörner in einer heißen Pfanne. Alles wollte ich sein, aber nicht „das“ dort im Spiegel. Nach außen gab ich weiterhin den fröhlichen, lebendigen Janis, aber nach innen begann ein Kampf gegen mich selbst, kraftraubend und destruktiv.

Vom Zerr- zum Selbstbild


Bis zu diesem Augenblick war ich mit meinem Rollstuhl gut durchs Leben gekommen. Er war so konstruiert, dass ich bei uns zu Hause und im Kindergarten frei herumcruisen konnte. Außerdem konnte ich den Sitz bis zum Boden absenken, um allein ein- und auszusteigen. Nun schien es mir besser, es mit Prothesen zu versuchen, denn so würde niemand auf den ersten Blick einen Janis ohne Gliedmaßen wahrnehmen. Ob diese Maßnahme optisch wirklich den Erfolg brachte, den ich mir erhofft hatte, kann ich aus heutiger Sicht nicht sagen. Die erwartete Verbesserung meiner Lebensqualität blieb jedenfalls aus. Eigentlich war genau das Gegenteil der Fall: Mit den Prothesen fühlte ich mich wackelig und unsicher, sie blieben für mich hemmende Fremdkörper. Ich bemühte mich sehr, damit das Gleichgewicht zu halten, aber es gelang mir nicht, weil ich die Prothesen einfach nicht zu einem Teil meines Körpers werden lassen konnte. Bald war klar: Das war nicht die Lösung.

 

So wie damals ein einziger Blick in den Spiegel alles verändert und eine Negativspirale in mir in Gang gesetzt hatte, war es später eine einzige Entscheidung, die aus dem Zerrbild von mir wieder ein Selbstbild machte, das diesen Namen im besten Sinn verdiente. Denn ich entscheide, ob ich mich annehme, so wie ich bin, und mir damit meine Welt erobere, oder ob ich mich ablehne und einem unerfüllbaren Wunsch hinterherlaufe: Arme und Beine zu haben.

 

In den letzten Jahren bin ich intensiv der Frage nachgegangen, was ein gutes Leben, ja eigentlich, was „Dein Bestes Leben“ ausmacht. Diese Formulierung taucht auch hier wiederholt auf und ich beziehe mich damit auf den Titel meines ersten Buches, in dem ich mich erstmals öffentlich mit dieser Frage beschäftigte. Nach vielen Gesprächen mit Menschen überall auf der Welt, einigen intensiven Erlebnissen im Umfeld von UNICEF, vielen Vorträgen und einige Bücher später habe ich jedoch festgestellt, dass es auf diese Frage keine allgemeingültige Antwort gibt. Treffender noch, es gibt darauf genauso viele Antworten, wie Menschen im Universum leben. So kam ich schließlich auf den Titel dieses Buches: Alle anderen gibt es schon.

Dennoch gibt es ein Merkmal, das bei allen Menschen, die tagtäglich Großartiges leisten und denen ich begegnen durfte, immer wieder auftaucht. Eine Eigenschaft, die mich zutiefst fasziniert, die Menschen glücklich sein lässt und die schlussendlich für mich der ausschlaggebende Punkt für dieses Buch war: Sie alle verbindet, dass sie sich zu sich selbst bekennen, sich ein Selbstbild erschaffen haben und stets auf dem Weg sind, mehr aus ihrem Leben zu machen.

Meine ganz persönliche Vorstellung meines besten Lebens hat jedenfalls keine Arme. Mein bestes Leben hat Möglichkeiten. Ich möchte ganz bewusst nicht sagen: „unbegrenzte Möglichkeiten“, denn selbstverständlich gilt für jeden Menschen, dass Aufgaben und Herausforderungen gewisse körperliche oder geistige Fähigkeiten voraussetzen. Ja, wir alle haben Grenzen. Natürlich. Von atemberaubender Grenzenlosigkeit aber ist die Kreativität, mit der wir Perspektiven schaffen, wie wir dennoch ans Ziel kommen und was wir anders oder neu denken können. An eine Grenze zu stoßen bedeutet nicht, dass der Weg zu Ende ist. Es bedeutet vielmehr, dass es einen anderen Weg gibt, auf dem wir weiterkommen. Eine Grenze bedeutet, dass wir gut daran tun, unsere Ziele zu prüfen und zu hinterfragen. Die Rucksackreisen mit meinen Freunden, meine Wanderungen an die entlegensten Plätze der Welt sind gute Beispiele dafür.

Mit diesem Buch möchte ich Wege aufzeigen, wieder in dieses unbeschwerte Leben zurückzukehren, welches ich als Kind hatte: Dass ich keine Arme und keine Beine habe, spielte keine Rolle – ich lebte einfach mit einem tiefen Verständnis meines Selbstwertes und meiner weiten Möglichkeiten. Ich bin überzeugt, dass jeder diesen Weg gehen kann. Einen Einblick, wie du diesen Weg zu dir selbst beschreiten und die Fähigkeit entwickeln kannst, du selbst zu sein, möchte ich dir durch dieses Buch ermöglichen. Abschließend lege ich den Fokus auf die Perspektiven, die sich durch diese Fähigkeit in einem größeren Kontext ergeben.

Drei Anmerkungen zu diesem Buch


1. In diesem Buch geht es darum, die Basis für eine wichtige Entscheidung zu schaffen: die Entscheidung zu dir selbst. Diese wird nur dann frei und erfolgreich sein, wenn sie echter Selbstwertschätzung entspringt. Wenn sich also dein Ich, dein Ego weder kleinmachen noch unnötig aufblähen muss.

Was genau ich unter Ego und Egoismus oder Begriffen wie Selbstwertschätzung, Glaubenssatz oder Fremdwertschätzung verstehe, definiere ich gleich zu Beginn von Teil 1. Viele von uns nutzen diese Wörter vor einem unterschiedlichen Wertehintergrund, deshalb ist es mir wichtig, sie vorab zu klären und meine Sicht darauf deutlich zu machen. Um es mit dem amerikanischen Schriftsteller Russel Hoban zu sagen: „… wenn man’s recht bedenkt, wie viele Leute sprechen schon dieselbe Sprache, selbst wenn sie dieselbe Sprache sprechen?“ (Hoban, Der Kartenmacher, S. 149).

 

2. Das hier ist keine Heldenstory. Es ist keine Geschichte über fehlende Arme und Beine oder vom „Behindertsein“. Kein Buch über irgendeinen Kampf zurück ins Leben, weil ich einer gesellschaftlichen oder medizinischen Meinung nach „körperlich behindert“ bin. Weißt du, was meine einzige „Behinderung“ je war? Meine eigenen Gedanken und Urteile über mich selbst! Ich glaube, niemand steht zu irgendeinem Zeitpunkt außerhalb seines Lebens. Dein Leben ist dein Leben. Immer. Dieses Buch stellt die Frage, wie du in deinem Leben stehst. Wach und authentisch? Proaktiv oder reaktiv? Mit Führungskraft oder Führungsschwäche? Es gibt dir Antworten darauf – wenn du Mut hast.

 

3. Es wird auch mal wehtun beim Lesen. Liebgewordene (Denk-)Muster werden aufgebrochen, radikal infrage gestellt, auch mal karikiert oder überraschenderweise voll bestätigt werden. Du wirst dich eher im Sowohl-als-auch als im Entweder-oder bewegen. Wir müssen auch nicht in jedem Punkt einer Meinung sein. Es steht nicht das Beste, sondern dein Bestes im Mittelpunkt.

Wenn du eine narzisstische Selbstverliebtheit lebst, ist das nicht dein Buch, denn dann wirst du deine persönlichen Weiterentwicklungen meiden bzw. sie verwechseln mit mehr Prestige, mehr Anerkennung, mehr Geld, höherem Status, größerem äußerlichen Erfolg.

Wenn du gerne eine passive Opferhaltung einnimmst, ist das auch nicht dein Buch, denn dann wirst du deine persönliche Weiterentwicklung ebenfalls meiden und dein Vermeidungsverhalten mit ungünstigen äußeren Umständen begründen, um damit deiner Eigenverantwortung zu entgehen.

Wenn du für dein Leben inneren und...