Sicherheitsrisiko Staat - Wir können uns besser gegen Terror schützen - tun es aber nicht!

Sicherheitsrisiko Staat - Wir können uns besser gegen Terror schützen - tun es aber nicht!

von: Benjamin Strasser

Verlag Herder GmbH, 2021

ISBN: 9783451822674 , 128 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Sicherheitsrisiko Staat - Wir können uns besser gegen Terror schützen - tun es aber nicht!


 

Kapitel 2

Der Terror der RAF und innenpolitischer Reformwille


Die 1970er Jahre haben wohl die deutlichsten innen- und sicherheitspolitischen Reformen in der deutschen Geschichte mit sich gebracht. Eine Zunahme der allgemeinen Kriminalität, vor allem aber eine neue Bedrohung durch den Terrorismus prägten das Jahrzehnt.

Schon in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre rumorte es kräftig in der noch jungen Bundesrepublik. Am 9. November 1967 entrollten Studierende an der Universität Hamburg ein Transparent mit dem Spruch »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren«. Er zeigt sinnbildlich, wie die damalige junge Generation und Studentenbewegung die Strukturen und Denkweisen in der damaligen Bundesrepublik aufbrechen wollte. Die 68er-Bewegung revoltierte in diesen Jahren nicht nur gegen den Vietnamkrieg, sondern auch gegen autoritäre Traditionen, frühere NS-Kader im Staatsdienst und die fehlende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit des bundesdeutschen Staates.

Was auf Demonstrationen und Happenings als demokratischer Protest begann, war einigen bald nicht mehr radikal genug. Beim bloßen »Quatschen« wollten sie es nicht belassen, insbesondere nachdem in Berlin der Student Benno Ohnesorg bei Protesten gegen den Besuch des iranischen Schahs durch einen Polizeibeamten erschossen worden war. Für viele erschien Gewalt oder aus ihrer Sicht Gegengewalt als ein legitimes Mittel im Kampf gegen den verhassten Staat, dessen Institutionen und Repräsentanten.

Eine Terrorgruppe entsteht – und der Staat ist überfordert


Nachdem im April 1968 in Frankfurt am Main in zwei Kaufhäusern Brandsätze detoniert waren, wurden schon kurze Zeit später die Täter Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein verhaftet und angeklagt. Der Bundesgerichtshof wies die Revisionsanträge gegen das Urteil am 10. November 1969 zurück, und das nun rechtskräftig verurteilte Liebespaar Baader und Ensslin sowie Thorwald Proll tauchten unter. Nur Horst Söhnlein trat seine Haftstrafe an. Gemeinsam mit ihrem Rechtsanwalt Horst Mahler und anderen Unterstützern schmiedeten sie Pläne für eine neue Form des Untergrundkampfes. Aus der Illegalität heraus wollte die Gruppe den Kampf gegen die BRD aufnehmen.

Nachdem Baader nach dem Tipp eines V-Manns des Berliner Verfassungsschutzes bei einer Polizeikontrolle festgenommen und in der Justizvollzugsanstalt Tegel inhaftiert worden war, wurde er am 14. Mai 1970 durch die Gruppe befreit. Die Berliner Justiz hatte nach anfänglichem Zögern seiner Ausführung aus der Haftanstalt in das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen zugestimmt, wo Baader angeblich für ein gemeinsames Buchprojekt mit der – an den Befreiungsplänen beteiligten – Journalistin ­Ulrike Meinhof recherchieren wollte, und das, obwohl ein Mitgefangener einen Hinweis auf eine geplante Gefangenenbefreiung der APO gegeben hatte.11 Während der Ausführung stürmten ­Gudrun ­Ensslin, Astrid Proll, Irene Goergens, Ingrid Schubert und ein bis heute nicht eindeutig identifizierter Mann den Lesesaal des Instituts und überwältigten mit Waffengewalt die zwei Justizbeamten, die Baader zu dem Termin begleitet hatten. Ein Angestellter des Instituts wurde bei der Aktion durch einen Bauchschuss schwer verletzt, die Bewaffneten entkamen gemeinsam mit Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Bis heute gilt die Baader-Befreiung als die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF).

Es folgte eine Terrorserie, welche die Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre in Atem hielt und unsere Sicherheitsarchitektur vor bis dahin nicht dagewesene Herausforderungen stellte. Die Strukturen der RAF erwiesen sich rasch als Problem für die Sicherheitsbehörden der Bundesländer, die im Jahr 1970 noch weitgehend autonom voneinander in ihrem eigenen Herrschaftsbereich agierten. Dass der Staat völlig unzureichend auf diese Form der gewaltsamen politischen Auseinandersetzung vorbereitet war, machte ihn selbst zum Sicherheitsrisiko.

Den vielen zuständigen Länderbehörden stand eine gut organisierte Untergrundgruppe gegenüber, die sich zum Ziel gesetzt hatte, »den staatlichen Herrschaftsapparat […] außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören«.12 Dafür setzte sich die Gruppe in ihrer Schrift »Das Konzept Stadtguerilla« von 1971 die »Organisierung eines illegalen Apparates« bestehend aus Wohnungen, Waffen, Munition, Autos und Papieren zum Ziel.13

Das geschriebene Wort sollte schon bald in die Tat umgesetzt werden. Nach der Baader-Befreiung waren die Flüchtigen für einige Monate nach Jordanien ausgereist und absolvierten eine paramilitärische Ausbildung in einem Camp der palästinensischen Fatah.14 Im August 1970 ging es zurück nach Westberlin und ans Werk. Am frühen Morgen des 29. September überfielen Mitglieder der Roten Armee Fraktion und der Berliner Gruppe Bewegung 2. Juni zeitgleich drei Banken. Mit diesen »Dreierschlag« genannten Banküberfällen legten sie die finanziellen Grundlagen für den Untergrundkampf, organisierten konspirative Wohnungen, beschafften Waffen und Munition und legten erste Depots an. Weitere Banküberfälle in Berlin und zunehmend auch im restlichen Bundesgebiet folgten, denn das Leben im Untergrund war nicht gerade günstig.

Gleichzeitig startete der Aufbau eines bundesweiten Netzwerks aus einer Führungsgruppe und einem engeren Kern sowie lokalen Unterstützern der RAF. So war gewährleistet, dass in verschiedenen Orten eine Struktur vorhanden und »Jobs« – also gewalttätige Aktionen und Anschläge – durchgeführt werden konnten. Neben den lokalen Unterstützern konnten sich die Terroristen stets auf eine erweiterte Sympathisantenszene verlassen. Diese Leute wollten den bewaffneten Untergrundkampf zwar nicht selbst aktiv unterstützen, teilten aber die grundsätzlichen Ziele der RAF insoweit, dass sie beispielsweise Räume und Wohnungen bereitstellten oder sogar für die Gruppe anmieteten.

Auch die Kommunikation der Gruppe wurde zu einem Musterbeispiel für konspiratives Verhalten. Ab 1973 etablierte die RAF ihr sogenanntes Infosystem.15 Sie kodierte Nachrichten mithilfe des Romans »Moby Dick« von Herman Melville und übernahm Charaktere aus dem Buch als Decknamen für die zwischenzeitlich in der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim inhaftierte 1. Generation der RAF. Die verschlüsselten Kassiber wurden unter anderem von Unterstützern unter den Rechtsanwälten der Gefangenen weiterverbreitet.

Diese Maßnahmen zeigen, mit welcher Professionalität die Vertreter der RAF das sogenannte Primat der Praxis in die Tat umsetzten. Das Ziel war klar: die rücksichtslose Ausübung von Gewalt gegen den Staat und dessen Repräsentanten.

Nach den Banküberfällen und den anderen Vorbereitungen waren die Grundlagen für das Leben im Untergrund geschaffen, und die RAF ging zur Gewalt über, die am 22. Oktober 1971 in Hamburg das erste Todesopfer forderte.16 Der Polizeibeamte Norbert Schmid wurde von Gerhard Müller, einem Mitglied der RAF, erschossen. Der Beamte hatte gemeinsam mit einem Kollegen die RAF-Terroristin Margit Schiller kontrollieren wollen. Müller und die ebenfalls anwesende Ulrike Meinhof kamen ihr zu Hilfe und eröffneten sofort das Feuer. Mit ihrer bald folgenden »Mai-Offensive« ging die RAF im Jahr 1972 auch zu Anschlägen gegen staatliche Einrichtungen wie beispielsweise die Polizeipräsidien in Augsburg und München sowie US-Militäreinrichtungen über. Am 11. Mai 1972 detonierte eine Bombe im ehemaligen IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main, damals das Hauptquartier des V. Korps der US-Armee.17 Auch das Hamburger Verlagshaus des in der Studentenbewegung und linken Szene verhassten Axel Springer Verlags wurde Ziel eines Bombenschlags der RAF.18

Die untergetauchten Terroristen waren im ganzen Bundesgebiet aktiv und wurden zu einer länderübergreifenden Gefahr. Der Staat musste eine rasche Antwort auf die immer schnellere Spirale der Gewalt finden, doch die vielen einzelnen Länderbehörden agierten unkoordiniert und waren mit dem neuen Phänomen überfordert.

Die Antwort des Staates: Innenpolitische Reformen


Der Reformbedarf an der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt bereits länger bekannt und Anlass von parlamentarischen Initiativen und Debatten. Schon 1968 hatte die damals oppositionelle FDP-Bundestagsfraktion in einem Antrag die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD aufgefordert, »dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf bis spätestens zum 1. Januar 1969 vorzulegen, der eine bundeseinheitliche Verbrechensbekämpfung und damit eine größere Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten geeignet ist«.19

Besonders dringlich war der Ausbau einer zentralen Ermittlungsbehörde. Das Bundeskriminalamt war Anfang der 1960er Jahre eine Minibehörde mit gerade einmal 637 Beamten gewesen.20 Im Jahr 1970 verfügte das BKA immerhin bereits über 1211 Mitarbeiter für alle Arbeitsbereiche. Doch im Vergleich zu den heute über 7000 Kriminalbeamten und Mitarbeitern erscheint die Personalausstattung zu Beginn des Jahrzehnts des RAF-Terrors gering.

Eine eigene Ermittlungskompetenz zur Strafverfolgung erhielt das Bundeskriminalamt erst im Jahr 1969: Am 19. September...