Blutige Enthaltung - Deutschlands Rolle im Syrienkrieg

Blutige Enthaltung - Deutschlands Rolle im Syrienkrieg

von: Sönke Neitzel, Bastian Matteo Scianna

Verlag Herder GmbH, 2021

ISBN: 9783451822476 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Blutige Enthaltung - Deutschlands Rolle im Syrienkrieg


 

1. Einleitung


„Die Welt ist aus den Fugen geraten. Wir erleben eine Krisendichte wie seit 20 Jahren nicht mehr.“[1] Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier beschwor 2014 Chaos und Unsicherheit. Diese Weltsicht wird in Deutschland häufig mantraartig vorgetragen. Wo der Wille zum Handeln fehlt, scheint eine Überhöhung der Krisen das eigene Zögern zu kaschieren.

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges fand sich die wirtschaftlich und politisch erstarkte Bundesrepublik plötzlich auf der Bühne der großen Politik wieder. Wie würde das Land nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts mit der neuen Souveränität umgehen? Die gängigen Interpretationsmuster reichten von der „Zivilmacht“[2], „Vormacht wider Willen“,[3] über „dienende Führungsmacht“[4] oder Großmacht[5] bis zum „reluctant hegemon“,[6] der einer „Kultur der strategischen Zurückhaltung“ folge.[7] Oft sagen diese Bezeichnungen mehr über die Erwartungshaltung der Autoren oder die aktuelle Tagespolitik aus als über die deutschen Außenbeziehungen. Offenkundig gibt es jedoch eine Diskrepanz zwischen der deutschen wirtschaftlichen Macht und der Bereitschaft, dieser gewachsenen politischen Verantwortung im internationalen Krisenmanagement gerecht zu werden – zumal in Fällen, in denen ein militärisches Engagement gefragt wäre. Deutschland, der schüchterne Träumer im Haifischbecken der Weltpolitik? Oder erleben wir in den letzten Jahren einen neuen außenpolitischen Pragmatismus und ein „Ende der Selbstfesselung“?[8]

 

Seit 2011 hat der Krieg in Syrien 400 000 bis 500 000 Menschen das Leben gekostet. Von 23 Millionen Syrern sind mehr als die Hälfte geflohen oder vertrieben worden. Ihre Aussichten auf eine Rückkehr sind schlecht und wenig attraktiv. Vor dem Hintergrund dieser humanitären Tragödie und der Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland überrascht es, dass wissenschaftliche Publikationen zur deutschen Syrienpolitik an einer Hand abzuzählen sind. Auf dem deutschen Buchmarkt stechen zwei Publikationen hervor: Michael Lüders’ Die den Sturm ernten zeichnet ein Bild einer omnipotenten CIA, die auch in Syrien seit langer Zeit das Projekt „Regime change“ verfolgt habe. Assad sei daher vom Westen als Bösewicht und Mitglied der „Achse des Bösen“ dargestellt worden, was wiederum zeige, dass der Westen an allen Problemen des Nahen Ostens schuld sei.[9] Eine Fundamentalkritik an Lüders’ Interpretationen findet sich unter anderem in Kristin Helbergs Der Syrien-Krieg, der zweiten sichtbaren Studie auf dem deutschen Buchmarkt. Helberg konstatierte, der Westen sei keineswegs unschuldig an den Konflikten im Nahen Osten, aber sie widersprach Fantasien eines bewusst inszenierten Regimewechsels oder einer westlichen Alleinschuld an der Katastrophe. Diese Annahme stelle vielmehr die Syrer – Assad ebenso wie die Oppositionsbewegung – als passive Objekte dar. Sie hob zudem einen wichtigen Punkt hervor: „[D]er Ursprung dieses Konfliktes liegt nicht im Westen, sondern in Syrien selbst.“[10]

Die bisher detaillierteste Analyse der deutschen Syrienpolitik, mit einem Schwerpunkt auch auf dem Engagement im Irak, legten Sebastian Maier und Bruno Schmidt-Feuerheerd vor.[11] Selbst Überblickswerke zur deutschen Außenpolitik der letzten Jahre behandeln Syrien eher stiefmütterlich. Die politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften zeigen ein ähnliches Bild. In den letzten zehn Jahren erschienen in den vier führenden Fachzeitschriften insgesamt rund 1000 Artikel, doch nur eine Handvoll behandelten den Komplex des Syrienkonflikts.[12] Die führenden außenpolitischen Denkfabriken – die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) – haben sich stärker mit dem Krieg in Syrien befasst; die Zeitschrift Internationale Politik regelmäßig und intensiv. Ebenso haben die politischen Stiftungen das Thema aufgegriffen. Doch ausführlichere Analysen der deutschen Haltung im Syrienkrieg finden sich hier ebenfalls nicht.

Der Mangel an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit überrascht umso mehr, als sich der Syrienkonflikt als Fallstudie für eine vorausschauende Sicherheitspolitik und die deutsche Rolle in der Welt geradezu aufdrängt. Wie verhielt sich die Bundesregierung im Spannungsfeld zwischen internationalen und innenpolitischen Erwartungen?[13] Wie beeinflussten deutsche Entscheidungen und Nichtentscheidungen den Krisenverlauf? Welchen Zwängen und Logiken folgte die deutsche Außenpolitik? Ließ die Bundesregierung Handlungsspielraum ungenutzt und betrieb „politische Bekenntnisse ohne Folgen“?[14]

 

In außenpolitischen Entscheidungsprozessen sind viele Akteure involviert.[15] Die Medien, das Parlament[16], der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung[17] oder der Bundesminister der Verteidigung spielen dabei ebenso eine Rolle wie gesellschaftliche Gruppen. Alle diese Akteure sind an der Formulierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik beteiligt. Debatten und Anträge im Bundestag dürfen in ihrer Bedeutung sicher nicht unterschätzt, aber auch nicht überschätzt werden – gerade in Fragen von Krieg und Frieden.

Die interne Entscheidungsfindung in den Ministerien und im Bundeskanzleramt bleibt bis zur Öffnung der Archive in frühestens 20 Jahren nicht genau rekonstruierbar. Die folgende Analyse beruht daher auf öffentlich verfügbarem Material, vorhandener Sekundärliteratur und zahlreichen Hintergrundgesprächen. Sie kann daher nur eine erste Annäherung an die Geschehnisse sein.

 

Dieser Essay stellt keine detaillierte Ausführung zur jüngsten Geschichte Syriens oder eine umfassende Analyse des Bürgerkrieges und allen lokalen, regionalen und internationalen Akteuren dar.[18] Das Ziel ist vielmehr, die deutsche Politik im Kontext des Syrienkonflikts zu untersuchen und in den Gesamtkontext der außen- und sicherheitspolitischen Krisen des Arabischen Frühlings einzuordnen. Hierbei dient der Syrienkonflikt als ein konkretes Beispiel, um die Haltung Deutschlands in internationalen Krisen kritisch zu beleuchten.

Bei einer Analyse der Außen- und Sicherheitspolitik muss nach den verschiedenen Einflussfaktoren gefragt werden, die die Formulierung dieser Politiken bedingen. Zuallererst geht es hierbei um den Einfluss der Innenpolitik auf außenpolitische Entscheidungen. Viele Autoren sehen die Außenpolitik der schwarz-gelben Regierung unter Angela Merkel in besonderem Maße innenpolitischen Zwängen unterworfen.[19] Der Politikwissenschaftler Christopher Daase hat die These vertreten, dass sich der Einfluss der Innenpolitik auf die Außenpolitik erhöht, wenn Führung und Strategiefähigkeit fehlen – was er für den Zeitraum von 2009 bis 2013 weitgehend als gegeben ansah.[20] Freilich wies er darauf hin, dass das richtige Maß an innenpolitischem Einfluss auf außenpolitische Entscheidungen in der Debatte austariert werden müsse. So mag beispielsweise der Abzug aus einem in der Bevölkerung unpopulären, kriegsähnlichen Einsatz aus bündnispolitischer Sicht verwerflich sein, sei aber im Sinne einer „demokratischen Sicherheitspolitik“ angebracht.[21] Dies umso mehr, da die Kriege des Westens der vergangenen Jahre mehrheitlich als bewusste militärische Interventionen charakterisiert werden können, bei denen das Überleben der eigenen Nation nicht unmittelbar auf dem Spiel stand, also sogenannte „wars of choice“ waren.[22]

Betrachtet man den Zeitraum ab 2011, so springt vorrangig die Kontinuität der Entscheidungsträger ins Auge: Angela Merkel war ununterbrochen Kanzlerin einer Koalitionsregierung, und sie musste mit wechselnden politischen Partnern versuchen, die innen- wie außenpolitischen Herausforderungen zu meistern.[23] Merkels Rolle war geprägt von der wachsenden Machtfülle des Bundeskanzleramts in traditionellen politischen Entscheidungsfeldern und einer „zunehmenden Kanzlerfixierung des Willensbildungsprozesses“.[24] Frühere Regierungschefs hatten außenpolitische Kernfragen ebenfalls zur Chefsache erklärt, doch wies erst der Lissabonner Vertrag dem Kanzleramt weitreichende Zuständigkeiten in puncto Europa zu. Kein Vorhaben des Kabinetts, schon gar nicht heikle sicherheitspolitische Entscheidungen, ist ohne Zustimmung des Kanzleramts möglich. Angela Merkel kommt daher auch in der Syrienkrise eine entscheidende Rolle zu. Stefan Kornelius hat sie als pragmatische Außenpolitikerin beschrieben, wenngleich sie von drei Fixpunkten geleitet sei: der engen Bindung an die USA (NATO), an die europäischen Partner und an Israel.[25] Die „Methode Merkel“ folgt dem Grundsatz „vom Ende her denken“. Dieses Handlungsschema zerteilt die Probleme in verdau- und bearbeitbare Häppchen,[26] was durchaus kritisch wahrgenommen und als „präsidentielles Zaudern“[27] beschrieben wurde. Wo Außenstehende einen Strategiemangel feststellen, kann dies auch auf ein Politikverständnis hindeuten, das zum einen auf die öffentliche Meinung schielt und zum anderen komplexe Probleme nicht öffentlich diskutieren möchte.[28] Eine weitreichende, gar öffentlich verkündete Strategie würde Merkels Politikstil daher zuwiderlaufen. In allen militärischen Fragen hielt sich die Kanzlerin zurück und folgte einem „gedämpften Pragmatismus“,[29] der sich nicht zuletzt in einem „starken...