Black Romeo - Mein Weg in der weißen Welt des Balletts

Black Romeo - Mein Weg in der weißen Welt des Balletts

von: Osiel Gouneo

Verlag C.H.Beck, 2024

ISBN: 9783406791208 , 268 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 21,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Black Romeo - Mein Weg in der weißen Welt des Balletts


 

Der, der alles tanzen kann


Vorwort von Yoel Carreño


Ich lernte Osiel im April 2004 kennen, da war er gerade einmal 13 Jahre alt. Also fast noch ein Kind. Ein schmächtiger, eher klein gewachsener Junge, der vor lauter Talent kaum still stehen konnte. Ich saß im Zuschauerraum des Gran Teatro in Havanna, und Osiel stürmte über die Bühne wie ein Hochleistungssportler, der sich für Olympia qualifizieren wollte. In einem irrwitzigen Tempo sprang und drehte er sich von links nach rechts und wieder zurück, sein Lächeln im Gesicht sprach Bände. Als wollte er uns allen im Raum sagen: «Seht her, wie gut ich bin! So was wie mich habt ihr noch nicht gesehen!» Ich saß an dem Tag in der Jury des «Concurso Internacional de Ballet», dem international bedeutendsten Nachwuchswettbewerb für junge Balletttänzerinnen und Balletttänzer, und kam aus dem Staunen über diese zweieinhalbminütige Vorführung dieses jungen Tänzers kaum heraus. Ich schaute zu meinen Jurykollegen und -kolleginnen links und rechts von mir, ihnen ging es offenbar genauso. Da war kein routiniertes oder gelangweiltes Kritikerstirnrunzeln zu sehen, kein Gähnen, keine professionelle Langeweile, die sich bei solchen teils auch ermüdenden Wettbewerben immer mal wieder einstellen kann, wenn Dutzende junger Nachwuchstänzer und -tänzerinnen sich über Stunden nacheinander präsentieren, sich und ihre Kunst oder zumindest das, was sie dafür halten. Bei diesem Teenager aber glühten alle Augen der Jury vor Neugierde. Wir waren beeindruckt vom Talent und Potential dieses Jungen, das er reichlich auf der Bühne entfaltete und dabei gar nicht merkte, wie viele technische Fehler ihm unterliefen, wie unsauber er seine Positionen setzte. Das aber war mir und den anderen beinahe egal. Jedem von uns war sofort klar: Dieser Typ hatte etwas, was man so nicht lernen konnte. Für seine ungehobelte Technik gab es ausreichend Ballettschulen im Land, aber seine Bühnenpräsenz, seine Physis und Sprungkraft, sein Mut zu Höchstschwierigkeiten waren außergewöhnlich. Hektisch blätterte ich in den Unterlagen der Teilnehmenden. Wer war der Knirps? Wieso konnte er uns so überraschen? Wieso kannten wir ihn nicht? Und dann las ich seinen Namen: Osiel Gouneo aus Matanzas.

Das ist nun fast 20 Jahre her, aber dieser Tag war der Beginn unserer langen Freundschaft, auch wenn wir das damals noch nicht wussten. Nach seinem Auftritt, in einer Pause des Wettbewerbs, kam Osiel auf mich zu, so, als hätte er gemerkt, wie sehr er mein Tänzerherz mit seiner Darbietung berührt hatte. Er kannte mich offenbar, sprach mich mit Namen an, ohne jegliche Berührungsängste. Wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, hatte er Videos von mir als Tänzer gesehen und meine Karriere beim Kubanischen Nationalballett verfolgt. Nun wollte er von mir persönlich wissen, wie ich ihn gesehen hatte? Der junge Osiel Gouneo hatte ungewöhnlich viele Fragen, man merkte sofort, da wollte einer nichts dem Zufall überlassen. Dieser Teenager hatte einen Plan und den Ehrgeiz dafür. Das, was er wollte, wollte er unbedingt. Ich erklärte ihm, seine Technik sei noch nicht ausgereift, er müsse noch ganz viel an sich arbeiten, andere wären da viel weiter als er. Das aber schien den dreizehnjährigen Burschen nicht weiter zu schockieren. «Was muss ich tun, um ein Principal zu werden, so wie du?», fragte er kess zurück. Und dann bekam er eine ganze Litanei von mir zu hören. Ich wollte ihn nicht demotivieren, aber ich wollte ihm auch nichts vormachen. Die Größe der Aufgabe, ein guter, ein sehr guter Balletttänzer zu werden, musste ihm klar sein, sonst würde er nicht durchhalten. Ich sagte zu ihm: «Osiel, du musst vor allem klug genug sein, um für Kritik offenzubleiben. Bist du klug? Du musst deine Schwächen kennen und den Willen haben, sie korrigieren zu wollen. Kennst du deine Schwächen? Du brauchst eine große Leidenschaft für harte Arbeit. Hast du Leidenschaft? Und du darfst keine Angst haben vor dem Scheitern, vor der Bühne, vor dem ganz großen Ausdruck deines Talents. Hast du Angst? Wenn du all das bist, dann geh jetzt zurück in deine Ballettschule und arbeite an dir. Und wenn du genug gearbeitet hast, dann komme wieder und zeige dich!» So habe ich ihn in den Katakomben des Großen Theaters in Havanna mit meinem Tänzerlatein genervt. Osiel war nicht sonderlich beeindruckt, zumindest nicht sichtlich. Er hatte keine weiteren Fragen mehr, gab mir artig die Hand, bedankte und verabschiedete sich. Von diesem Moment an sind wir in Verbindung geblieben. Bis heute.

Gewonnen hat Osiel den Wettbewerb damals nicht. Er war sicherlich mit das größte Talent, aber es waren ihm einfach viel zu viele Fehler unterlaufen. In der Jury überlegten wir fieberhaft, wie wir ihm signalisieren konnten, dass er trotzdem eine besondere Gabe besaß, die er pflegen musste und die er nicht wegwerfen durfte. Statt mit einer Goldmedaille bedachten wir ihn mit einer «Lobenden Erwähnung», die seinen aufregenden physischen Tanzstil würdigte. Erst sehr viel später erzählte mir Osiel einmal, wie enttäuscht alle an seiner Schule waren, dass er nicht gewonnen hatte. Er selbst war dabei viel weniger enttäuscht als seine Lehrer, vielmehr gereizt, geradezu provoziert, von jetzt an richtig an sich zu arbeiten und sein Talent nicht länger zu vergeuden. Sich nicht nur auf sein Bewegungstalent zu verlassen, keine Ausflüchte mehr zu suchen, sondern das Wesen seiner Disziplin zu begreifen, das aus Mühsal, Athletik und Kunst etwas ganz Eigenes destillierte.

Es gehört zur DNA unserer Disziplin, dass man als Balletttänzer niemals fertig ist. Es gibt keine 100 Prozent, keine Ziellinie wie beim Marathon, keine Höchstnote wie beim Turnen. Ballett ist wie der Sisyphos-Mythos, den Weg zum Gipfel muss man aus- und durchhalten können, um immer wieder neu zu beginnen. Zumal wenn man aus Kuba kommt, wo die Konkurrenz riesig ist und Ballett noch einmal einen ganz anderen Stellenwert genießt als in Europa. In den Jahren danach wurde sichtbar, dass wir als Jury bei ihm genau das erreichen würden, was wir im Sinn hatten: Die Saat des jungen Osiel Gouneo ging auf, er fing an zu wachsen, wuchs buchstäblich über sich hinaus – und er wächst bis heute.

Im Jahr 2010 ging ich als erster Solist an das Norwegische Nationalballett nach Oslo. Ein Schritt, den mir Osiel drei Jahre später gleichtun sollte. In den Sommerpausen kehrte ich regelmäßig nach Kuba zurück und verbrachte meine Ferien in der Heimat, besuchte Familie und Freunde. Regelmäßig traf ich mich auch mit Osiel, der inzwischen selbst beim Kubanischen Nationalballett tanzte, er war, wenn man so wollte, in meine Fußstapfen getreten. Über die Jahre hinweg war ich eine Art Mentor für ihn geworden, selbst als ich schon in Norwegen war, telefonierten wir regelmäßig, ich unterstützte ihn, wo ich konnte. In den Monaten, in denen wir uns nicht gesehen hatten, hatte er eine Entwicklung genommen, die selbst mich als Profi staunen ließ. Einmal, es war kurz bevor ich meine Heimat Richtung Oslo verließ, filmte ich ihn mit meinem Handy beim Training in der Nationalakademie in Havanna. Ich war seit Jahren Erster Solist am Nationalballett, Osiel im Jahr davor als Freshman aufgenommen worden. Osiel tanzte also Variationen aus Balletten wie «Don Quixote», «Le Corsaire» und «Diana und Actaeon», Solopartien, die er sich selbst erarbeitet hatte und die weit über das hinausgingen, was von ihm als Mitglied des Corps de Ballet gefordert war.

Ich dachte mir nicht viel dabei und stellte den etwa fünfminütigen Clip «Osiel Gouneo … having fun» auf YouTube, weil er eindrucksvoll demonstrierte, wie Osiel sich entwickelt hatte, was ihn als jungen Spitzentänzer und kommenden Solisten ausmachte: Die totale technische Kontrolle über seine Pirouetten und Sprünge, die Anmut und Genauigkeit seiner Arabesken, seine fast schwebende Leichtigkeit auf dem Parkett, ich sah keinen einzigen Wackler. Und dann passierte etwas, was es in der kleinen Ballettwelt eigentlich so gar nicht gibt. Der Osiel-Clip ging in kürzester Zeit viral, Zehntausende guckten einem im Westen noch völlig unbekannten, dunkelhäutigen Kubaner beim Tanzen zu, teilten das Video begeistert und kommentierten euphorisch seine Performance. Ein User schrieb, daran kann ich mich noch erinnern, jetzt wisse er endlich, warum männliche Balletttänzer stärker sind als jeder Rugbyspieler. Wie auch immer das gemeint war, diejenigen, die den Clip gesehen hatten, viele davon Ballettneulinge, waren fasziniert von Osiel. Er war noch nicht einmal Solist und schon in der Lage, die Menschen mit seiner Kunst zu berühren. Und dafür brauchte er nicht einmal einen Liveauftritt vor Publikum; ein Videoschnipsel, aufgenommen in einem leeren Raum, reichte ihm dafür völlig aus. Mir war umgehend...