Zeitreisende - Deutsche Literatur für Entdecker - Teil 1 - von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg

Zeitreisende - Deutsche Literatur für Entdecker - Teil 1 - von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg

von: Eva Mühlbacher

Dachbuch Verlag, 2020

ISBN: 9783903263208 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 19,99 EUR

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Zeitreisende - Deutsche Literatur für Entdecker - Teil 1 - von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg


 

KAPITEL 2: DAS WESEN DER NATUR


Neben den politischen Umwälzungen, die das fortschreitende 19. Jahrhundert bestimmten, war es vor allem eine Revolution, die den Menschen das Gefühl gab, an einer Zeitenwende zu stehen, die in ihrer Entwicklung über sie hinauswachsen und sie zermalmen könnte: die industrielle Revolution. Dampflokomotiven nahmen ihren Dienst auf, die mit einer für diese Zeit irren Geschwindigkeit von ca. 30km/h über die Schienen rasten. Fabriken nahmen ihre Tätigkeit auf und machten die Städte zu Ballungszentren. Viele Menschen zogen vom Land in die Stadt, um dort Arbeit zu finden. Meist fanden sie in den kleinen Wohngemeinschaften, die sich in Städten wie Wien entwickelten, bestenfalls einen Schlafplatz oder ein Bett in einem sogenannten Durchhaus, wo man ein paar Stunden schlafen konnte, ehe der andere von seiner Schicht zurückkam und sich ins selbe Bett niederlegte, während der erste in die Arbeit ging. Das, was heute als die große, goldene Zeit in die Geschichtsbücher eingegangen ist, fühlte sich für die Zeitgenossen vermutlich wenig groß und noch weniger golden an.

Mit den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten entstand aber eine ganz neue Gesellschaftsschicht, die das kommende Jahrhundert maßgeblich prägen sollte: jene des Bürgertums. Während der Adel sich auf Partys tummelte und keiner Erwerbstätigkeit nachging, war die Mitte des 19. Jahrhunderts vom Geist der Gründerzeit geprägt, in der geschickte Kaufleute Imperien aufbauten, klug investierten und eigene Spielregeln für ihren Stand festlegen: die Arbeit galt als prestigeträchtig; etwas zu erschaffen wurde auch gesellschaftlich aufgewertet. Weil aber von 1815 bis zur Bürgerrevolution im Jahr 1848 die politischen Verhältnisse heikel waren, hatte das Bürgertum noch eine Eigenschaft: Es zog sich aus der Welt zurück, ermüdet von der Politik, die sie nicht beachtete, sondern versuchte, so schnell wie möglich die vor-napoleonische Ordnung wiederherzustellen, die längst nicht mehr zeitgemäß war. Durch die Zensur und das Spitzelwesen geriet man leicht ins Visier der Behörden, also zog man sich in seine eigenen vier Wände zurück. Es waren elegante Salons in hübschen Wohnungen, in denen Musizieren und Lesen praktiziert wurden. Die Schicht des Bürgertums konnte selbstverständlich lesen, natürlich auch die Frauen. Preisgünstigere Ausgaben sorgten dafür, dass Werke leichter Absatz fanden; das Taschenbuch wurde erfunden, um billiger drucken zu können. Die Literatur, die man in dieser zurückgezogenen Zeit schätzte, war die Schauer- und Krimiliteratur von E.T.A. Hoffmann wie Das Fräulein von Scuderi, aber es waren auch Werke, die den Leser und die Leserin wieder zu den Ursprüngen zurückführten – zu einer Welt, die sich von der ihren unterschied. Wo die Dampfmaschinen ihre Arbeit begannen, wurde der Wunsch nach der Einfachheit der Natur wieder sehr stark. Die Gemälde und Erzählungen zeigen daher ursprüngliche Welten, Natur und Reinheit, verwoben mit Märchen, Mythen und Sagen.

Die Leserschaft des Bürgertums träumt sich aus ihren Salons mit den schweren Möbeln und den üppigen Stoffen hinaus in die Weite der Natur. Dorthin, wo andere Mächte walten, von denen sie selbst ein Teil sind. Nicht ihr Geist, der im Gründerzeitalter59 Firmen erschafft. Sondern ihr Körper, der frei von schmal geschnittenen Anzügen und eng zusammengeschnürten Korsetts, die Sonne spüren kann. Es ist der Traum von der Natur als Ort, der die Haut mit den Perlen des Wassers schmückt, wenn man am Meer ist. Der Ort, an dem der Wald seinen Duft der keimenden Pflanzen verströmt. Ein Ort, an dem ein anderes Gesetz gilt: das Schicksal.

2.1 VON DER MAGIE DES WASSERS


Wie viele Reisende wohl schon zu dem mächtigen Felsen hinaufgesehen haben, der direkt am Rhein liegt? Wie viele haben sich wohl schon gefragt, ob sie dort auftauchen würde, haben den Kopf in die Sonne gereckt und versucht, sie dort zwischen den Steinen auszumachen, die Schöne, von der man sich erzählte? Sie soll wunderschön sein, so schön, dass sie Männer ins Verderben führen kann. Aber trotzdem – nur ein Blick. Ein Blick der Loreley, der es wert sein soll. Denn am Anfang war sie einfach eine schöne Zauberin…

Clemens Brentano gibt, bevor er am Bett einer Nonne weilt, einer schönen Zauberin als erster eine Geschichte: Die schöne Lore Lay wird vor den Bischof geführt, weil sie jeden Mann ins Unglück stürzt, der ihr begegnet. Das klingt so:

Zu Bacharach am Rheine

wohnt‘ eine Zauberin,

die war so schön und feine

und riß viel Herzen hin.

Und machte viel zu Schanden

der Männer ringsumher,

aus ihren Liebesbanden

war keine Rettung mehr!60

Die Ballade liest sich leicht, die Strophen sind kurz und haben nicht die Schwere, die ja ein Merkmal der Lyrik von Novalis ist. Vielmehr wird der Leser mitten in eine Geschichte hineingezogen, die ihn in ferne Zeiten führen und von einer schönen Jungfrau erzählen soll. Die Lore Lay wird also vor den Bischof geführt und bittet ihn, sie zu töten, weil ihr Geliebter sich in ein fernes Land aufgemacht und sie verlassen hat. Überdies bringt sie jedem, der sie auch nur ansieht, Unglück. Inständig bittet sie den Bischof, ihr das Leben zu nehmen. Dieser jedoch ist, wie alle Männer vor ihm, bereits in sie verliebt und kann ihrem Wunsch nicht nachkommen. Aber er willigt ein, sie in ein Kloster zu schicken. Das ist ein denkbarer Weg für den Dichter Brentano, denn der Ort geht, wie wir schon gesehen haben, mit Reinigung einher. Die Liebe zu der schönen Frau wird schon in den ersten Versen begleitet von Attributen wie hinreißen, Liebesbanden und keiner Rettung, also einer ausweglosen Situation, die intensiv und fordernd ist. Der Ritt zum Kloster wird angetreten:

Drei Ritter läßt er holen:

»Bringt sie ins Kloster hin!

Geh, Lore! Gott befohlen

sei dein berückter Sinn!

Du sollst ein Nönnchen werden,

ein Nönnchen schwarz und weiß,

bereite dich auf Erden

zu deines Todes Reis‘!«61

Auf der Reise ins Kloster kommen sie an dem Felsen am Rhein vorbei. Die schöne Lore Lay will ihn noch einmal erklimmen, um auf den Rhein hinunterblicken zu können. Sie hat den Aufstieg schon geschafft, während die Ritter noch ihre Pferde anbinden:

Die Jungfrau sprach: »Da gehet

ein Schifflein auf dem Rhein,

der in dem Schifflein stehet,

der soll mein Liebster sein!

Mein Herz wird mir so munter,

er muß mein Liebster sein!«

Da lehnt sie sich hinunter

und stürzet in den Rhein.

Die Ritter mußten sterben,

sie konnten nicht hinab;

sie mußten all´ verderben,

ohn´ Priester und ohn´ Grab!

Wer hat dies Lied gesungen?

Ein Schiffer auf dem Rhein,

und immer hat´s geklungen

von dem Dreiritterstein:

Lore Lay!

Lore Lay!

Lore Lay!

Als wären es meiner drei!62

Voller Aufregung ist sie sich also sicher, den Geliebten erblickt zu haben und stürzt in den Fluss, um für immer mit ihm verbunden zu bleiben. Denn so wie sie hinuntersehen wollte, so wollen in den kommenden Zeiten die Reisenden zu ihr hinaufsehen. Die drei Ritter, die sie begleitet haben, finden mit ihr den Tod und enden als ewige Echos, die zwischen den Felsschluchten ihren Namen rufen.

Eine Art Fortsetzung dieser Geschichte wie die Lore Ley mit dem Wasser verbunden wurde, schreibt der Dichter Heinrich Heine, das Chamäleon des 19.Jahrhunderts. Der vielseitige Schriftsteller präsentiert sich als Meister aller Formen, der seine Kunst virtuos beherrscht. Er gilt als Wegbereiter des anspruchsvollen Feuilletons in seiner journalistischen Arbeit, will verbindend zwischen den Ländern Deutschland und Frankreich vermitteln und verkehrt in seinem Exil in Paris mit den wichtigsten Literaten seiner Zeit. Seine Balladen werden vielfach vertont und oft rezipiert. Er wird uns immer mal wieder begegnen, denn er taucht in dieser und jener Gattung auf und fühlt sich in verschiedensten Motiven zu Hause. Seine Bandbreite reicht von politischer Literatur bis zu romantischen Naturgedichten. Das Chamäleon Heinrich Heine lässt sich nicht eindeutig einer Strömung zurechnen....