Der Schneemann

Der Schneemann

von: Jörg Fauser

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257611335 , 304 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Der Schneemann


 

Ein Kakerlak packte mit seinen Vorderbeinen ein Weibchen und bestieg es. Als sie auf den Titel Don’t go breaking my heart gerutscht waren, warf Blum eine Münze in den Schlitz der Musikbox, drückte die Taste und sah den Kakerlaken bei der Paarung zu. Die Box war voller Kakerlaken, toten und lebenden. Rockfreaks, dachte Blum. Tanzen auf dem warmen elektrischen Bauch der Maschine, rocken und ficken sich zu Tode. Viel Spaß, ihr beiden. Der Kakerlak ließ das Weibchen los. Es rutschte über Sailing und La Barca und blieb auf Please don’t go regungslos liegen. Der Alte hat sie totgemacht. Bei den Skorpionen ist es das Weibchen, bei den Kakis das Männchen. So ist das Leben, Mädchen. Blum griff sich sein Bier und sah wieder hinaus auf die Gasse, wo die jungen Dinger im Gedröhn der Musik auf die Touristen warteten, die gerade überlegten, ob sie sich eine halbe Flasche Wein zu Mittag leisten oder lieber ihrer Frau das T-Shirt kaufen sollten, auf dem stand I lost my heart in Malta.

Schließlich tauchte Larry auf. Larry war Australier und hatte in Vietnam eine Lunge verloren. Seitdem bezog er eine monatliche Rente vom australischen Staat, die er in den billigeren Hafenstädten des Südens vertrank. Jedes Jahr gab es eine billigere Hafenstadt weniger. Er war ein schmaler Bursche mit einem lederartigen Gesicht und graugesprenkeltem Bart und hatte jeden Tag dieselbe verschossene Windjacke an. Er kannte sich mit Booten aus und hatte in seinen Papieren die Berufsbezeichnung »Soldat« stehen.

»Komm, Blum«, sagte er, nachdem er seinen Hustenanfall mit einem Scotch bekämpft hatte, »der Itaker wartet auf dich.«

»Will er sie kaufen?«

»Er will ein Probeheft sehen.«

Sie fuhren mit einem der grünen Autobusse, deren Fahrerkabinen mit den rosenwangigen Marien, den schmachtenden Gottessöhnen, den Plastikblumengirlanden und den lateinischen Bibelsprüchen aussahen wie Hausaltäre. Sie saßen eingeklemmt zwischen Bauern und Schulmädchen und englischen Ehepaaren, die nach Wermut rochen und Bohnenkerne oder Bonbons lutschten. Die Männer erzählten sich die alten Witze – »Kennen Sie den von dem Sikh, der nach Kanada auswandern will?« –, und die Frauen warfen hinter ihren bunten Prospekten den jungen Maltesern feuchte Blicke zu. Blum beneidete sie. Er war erst in ein paar Jahren so alt wie sie, aber hier hockte er schon mitten unter ihnen und kannte keine Witze und hatte keinen feuchten Blick, nur ein altes Pornoheft in der Tasche. Und wenn er in zwei Tagen nicht weg war, auch noch die Schmiere am Hals. Was hielt ihn noch in Gang? Was den Bus in Gang hielt: Sprit und Glaube. Verbum dei caro factum est, stand vorn an der Kabine, und so viel er noch wusste, hieß das: Gottes Wort ist Fleisch geworden. Na bitte – irgendwo musste doch ein Suppentopf hängen, der die Desperados satt machte.

In Mosta stiegen die Touristen aus. Die Männer hatten schon Schweißflecken auf ihren Polohemden, und die Achselhaare der Frauen glänzten vor Nässe.

»Ganz schön viel Gold hier«, sagte Blum mit einem Blick auf die protzige Kirche in maltesischem Neo-Barock.

»Das ist aber nur etwas für wirklich abgefuckte Typen«, gab Larry zur Antwort. »Kirchenraub auf Malta. Ungefähr dasselbe, als wollte man Lenins Leiche aus dem Mausoleum am Roten Platz klauen. Da liegt sie doch, oder?«

Blum zuckte zusammen.

»Hast du hier mal mit der Polizei zu tun gehabt, Larry?«

»Wie kommst du denn auf den Gedanken?«

Der Bus ratterte weiter, und Blum lehnte sich zurück und tat, als hätte er die Frage nicht mehr gehört. Sicher nur ein Zufall, dachte er. Hinter Mosta begann das Farmland – dürre Erde, aus der die Bauern mit dem Wasser, das während der Regenzeit fiel, Obst und Gemüse zauberten. Jetzt blühten die Mandelbäume, es roch nach Früchten und Blumen, nach Wind und Meer und Frauen. Blum legte den Kopf an das Fenster und schloss die Augen, und für einen Augenblick überließ er sich dieser Illusion von etwas, das es nie geben würde – Frieden, Glück, Magie … Dann machte er die Augen wieder auf, sah den Australier, dem der Schleim aus der Lunge hochkam, und ein schielendes Mädchen in blauer Schuluniform, das ihn die ganze Zeit beobachtet hatte und jetzt rot wurde und wieder nach vorne sah. Er nahm die marokkanische Sonnenbrille mit den goldgefassten lila Gläsern aus der Jackentasche und setzte sie auf. Die Dinger waren ihr Geld wert. Manchmal reduzierten sie sogar den Süden auf ein erträgliches Maß.

In St. Paul’s Bay stiegen sie am Hafen aus. Das Nest brütete in der Sonne. Ein Hund rannte kläffend hinter dem Bus her. Zwei germanische Touristen schulterten vor einem Café mit Plastikschnüren in der Tür ihre riesigen Rucksäcke. Irgendwo stotterte ein elektrischer Rasenmäher, und ein Bauer trieb einen Esel in die Felder. Zur Straße waren alle Häuser blind. Sie gingen langsam über den Kai. Larry zeigte Blum ein Motorboot, das etwas abseits von den anderen festgemacht hatte.

»Das ist Rossis Boot. Ein Bertram 32-Footer mit Twin-V-8-Dieselmotoren, hochfrisiert wie eine Edelnutte. Mit dem Boot hängst du jede Küstenwache ab.«

»Wozu sollte er das denn?«

»Na, wozu denn schon, alter Junge.«

Larry steckte sich die zwanzigste Rothman’s King Size des Tages an und rotzte einen Mundvoll Schleim ins Hafenwasser, ohne dass seine Zigarette nass wurde.

»Was soll er hier denn schmuggeln? Kirchenaltäre?«

»Bestimmt kein Trockengemüse. Komm, er ist jetzt in seinem Palazzo und föhnt seine Dauerwelle.«

Die Villa Aurora war das letzte Haus in einer Sackgasse. Vom Äußeren her konnte Rossi mit seiner Schmuggelei noch auf keinen grünen Zweig gekommen sein. Im Vorgarten verrottete eine Palme zwischen leeren Benzinkanistern, der rosa Hausanstrich war schon lange nicht mehr erneuert worden, und der Stuck über der Tür bröckelte ab. Als Larry auf die Klingel drückte, sah Blum, wie im Nachbarhaus ein Vorhang kurz zurückgeschoben wurde. Die Klingel rasselte schwach. Irgendwo im Haus schlug ein Hund an. Als die Tür aufging, fiel nebenan der Vorhang wieder zu. Eine alte Frau in schwarzer Tracht sagte etwas auf Maltesisch, und Blum stellte überrascht fest, dass Larry ihr auf Maltesisch antwortete. Das machte ihn misstrauisch. Die Frau verschwand, und an ihrer Stelle stand eine Dogge da und starrte die Fremden mit blutunterlaufenen Augen an. Dann erschien Rossi, pfiff die Dogge zu sich und winkte sie herein.

Der Raum, in den der Italiener sie führte, lag zum Garten und war angenehm kühl. Die Wände hatten auch hier einen neuen Verputz nötig, aber die Einrichtung war komfortabel, und Bilder mit maltesischen und arabischen Motiven gaben dem dämmrigen Zimmer einen Hauch von Luxus. Im Garten entdeckte Blum eine blonde Pin-up-Schönheit, die in einem Liegestuhl völlig nackt ein Sonnenbad nahm. Blum hatte einige Mühe, seine Augen von ihr loszureißen. Blondinen hatten diese Wirkung auf ihn. Schließlich nahm er das Glas, das ihm der Italiener hinhielt.

»Ich nehme an, du trinkst Tequila.«

»Mhm. Viva Zapata

Rossi hatte eine leise, heisere Stimme, und nach dem ersten Schluck von seiner Margarita sah Blum, dass Larry mit der Dauerwelle nicht übertrieben hatte. Die langen schwarzen Haare des Italieners fielen in kunstvollen Locken über seine Schultern und das knapp sitzende Seidenhemd, das bis zum Nabel offenstand und eine bronzene Brust enthüllte. Dafür war das Gesicht alles andere als gewellt – ein bräunlicher Felszacken mit zwei harten Augen und einem brutalen Kinn. Blum schätzte ihn auf Anfang 30. Nach dem dritten Schluck fragte er sich, wozu der Mann Pornos brauchte. Aber Rossi kam bereits zur Sache. Sein Englisch war ebenso flüssig wie Blums, und er hatte einen leichten amerikanischen Akzent.

»Hast du eins von deinen Heften dabei? Lass mal sehn.«

Er blätterte es mit Kennermiene durch. Seine goldenen Armreifen klimperten.

»Ja, genau so beschissen hab ich mir’s auch vorgestellt. Weißt du, ich habe einen Kunden, der eine Schwäche für das Zeug hat.«

»Araber?«

Rossis Blick ließ auf ein beträchtliches Reservoir an Gemeinheiten schließen.

»Vielleicht ist es ein Deutscher, Blum.«

»Warum nicht?«, meinte Blum mit einem Achselzucken.

»Wie viel Hefte hast du davon?«

»Noch zweihundert.«

»Schon ein paar verkauft hier?«

»Man muss schließlich leben.«

»Und du lebst tatsächlich davon – von diesen Heften?«

»Man nimmt, was kommt. Außerdem finde ich das nicht unmoralischer, als Cola zu verkaufen. Oder Tequila.«

»Ich meinte, ob du davon leben kannst. Diese Heftchen sind doch ziemlich, na, sagen wir – überholt?«

»Irgendein Kunde findet sich immer, nicht?«

Der Italiener lachte. Wenn er lachte, sah er gar nicht unsympathisch aus. Vielleicht lag es daran, dass seine Zähne ziemlich schlecht waren. Unter anderen Umständen hätte Blum mitgelacht. Aber seine Situation war zu lächerlich – und gleichzeitig zu desperat –, um mit einem Lachen darüber hinwegzukommen. Er trank lieber seine Margarita. Larry tat so, als betrachte er die Bilder. Das Pin-up-Girl lag jetzt auf dem Bauch, und die Dogge saß mit gespitzten Ohren neben ihr und starrte ins Haus.

»Also gut, kommen wir zum Preis. Hier, nimm noch einen. Margarita, das Dealergetränk, eh? Du bist doch auch ein Dealer, mein Bester, hab ich recht? Wir sind alle Dealer, sogar Larry ist Dealer, was, Larry?«

Der Australier hustete, wischte sich den Mund ab, starrte auf seinen Handrücken und sagte dann: »Es ist deine Party,...