Dieses ganze Leben

Dieses ganze Leben

von: Raffaella Romagnolo

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257611441 , 272 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Dieses ganze Leben


 

Ich bin hässlich. Das ist die Wahrheit, die schlichte, unzweifelhafte Wahrheit. Natürlich habe ich auch gute Seiten: Zum Beispiel bin ich nicht feige, ich suche keine Ausflüchte, ich kann der Wirklichkeit ins Auge sehen. Und die Wirklichkeit ist, dass ich hässlich bin. Ein Scheusal. Einfach grauenhaft. Und zwar absolut gesehen, nicht bloß im Vergleich zu den Mädchen, die ich kenne.

Oma sagt, das stimmt nicht.

»In deinem Alter sind alle schön«, sagt sie.

Dabei blättert sie in der Gala oder Donna Moderna oder in einem Schöner-Wohnen-Magazin. Ich weiß jetzt schon, dass sie gleich so was ausspuckt wie: »Worüber beklagst du dich? Hast du ein Problem? Was haben die da, was du nicht hast?«

Die da sind die in den Zeitschriften abgebildeten Mädchen, und Hast du ein Problem? ist eine Frage, die ich nicht ausstehen kann. Was meine Oma denkt, zählt sowieso nicht, denn sie ähnelt meiner Mutter. Die gleiche Figur, die gleichen Augen. Die Mädchen aus der Gala werden im Alter so wie sie. Wenn sie Glück haben. An manchen Tagen, wenn Oma frisch vom Friseur kommt, die leuchtend weißen Haare wie ein Heiligenschein um ihr gebräuntes Gesicht, in Zigarettenhose und Schlangenleder-Slippers, sieht sie aus, als sei sie soeben einem Werbespot für Haftcreme für dritte Zähne oder Inkontinenz-Windeln entstiegen. Sie hat total viele Verehrer, seit mein Opa tot ist, und nicht nur wegen des Geldes. Sie fahren mit ihr zum Abendessen an die Riviera, und hinterher erzählt sie mir und Richi von der Yacht und dem Hummer in Madeira-Sauce. Ich kann mich nicht beklagen, alles in allem ist sie eine prima Großmutter, sie schildert uns ihre Abenteuer, fällt nicht in Ohnmacht, wenn sie mal eine halbe Stunde mit Richi allein bleiben muss, meistens ist sie supernett und macht mir einen Haufen Geschenke.

Aber trotzdem – Oma ist nicht wie ich und ist es nie gewesen, sie weiß nicht, was es heißt, übergewichtig zu sein, und ganz bestimmt wird sie nicht an Fettleibigkeit sterben. Sie weiß nichts davon, dass ich stetig zunehme seit dem Tag meines neunten Geburtstags, als ich die Obergrenze von vierzig Kilo überschritten habe und Mama kreischte: »Aber Paoletta! Wenn du so weitermachst, wiegst du mit achtzehn achtzig Kilo!«

Gib mir noch etwas Zeit, Ma, das schaffe ich. Im Grund genommen fehlen nur noch zwei Jahre, zwei Monate und drei Tage, und heute Morgen habe ich schon wieder zwei Kilo mehr drauf. Ein großartiges Ergebnis in nur einem Tag, wirklich professionell.

Dazu hat mir die Familientradition verholfen – Ostermontag mit den Marini, den Della Vedova und dem Buchhalter Capotondi. Ich habe Mamas böse Blicke ignoriert und mir fröhlich die perfekte Mischung von Fetten, Kohlehydraten und Proteinen zusammengestellt. Kalte und warme Entrées, unter anderem vier Jakobsmuscheln mit Béchamelsauce überbacken. Dann Risotto alla bisque di scampi (fürstliche Portion), dann Grillplatte von Meerestieren und verschiedenen Fleischsorten mit Ofenkartoffeln und gratiniertem Gemüse, Mousse mit Amaretto und Zabaione, Colomba und Petits Fours – eins von jeder Sorte, insgesamt zwölf Stück. Zum Abschluss noch das prächtige, mit Nougatblümchen und Zuckerfigürchen verzierte Osterei aus Bitterschokolade. Im Salon beachtete mich niemand, Stückchen für Stückchen habe ich mindestens dreihundert Gramm vertilgt. Ich war so voll, dass ich das Abendessen ausgelassen habe, und heute Morgen hat die Waage geklingelt, din! din!, wie in den amerikanischen Fernsehfilmen die Kasse im Minimarket.

Diese Waage ist ein ultratechnologisches Juwel, Mama hat sie vor drei Monaten in meinem Badezimmer aufgestellt, auf Rat ihres Personal Trainers Francesco. Du gibst dein Profil ein, Geschlecht, Alter und Größe, und die Waage berechnet deinen BMI, den Body-Mass-Index. Klingeln tut sie nur, wenn seit dem letzten Wiegen eine Veränderung von mehr als einem Kilo eingetreten ist. Ich bin gerade sehr fleißig: in den letzten zehn Tagen schon zwei din din.

Man kann den Verlauf auf einer Website verfolgen, denn die Superwaage stellt die ansteigende Fettgrafik ins Netz. Wenn man seine persönliche Seite aufruft, erteilt einem das System entzückende Ratschläge, perfekt dem aktuellen BMI des Tages angepasst.

»Willkommen, Paola De Giorgi! Denk daran, ab achtzehn Uhr keine Süßigkeiten mehr zu essen.«

»Eine Idee für einen Imbiss light? Tomatensaft! Er hilft dir, deinen BMI zu senken.«

»Dein BMI beträgt heute 24,06. Du solltest dir angewöhnen, jeden Tag mindestens sechzig Minuten zügig zu gehen!«

Das muss Mama auch gelesen haben, meiner Ansicht nach ist sie da auf die Idee gekommen:

»Eine Stunde pro Tag, Paoletta. Zügig gehen. Nimm Richi mit, dann bleibst du nirgends stehen. Und bring ihn ein bisschen zum Reden. Du weißt, wie gut ihm das tut.«

Die Ärmste gibt nicht auf. Ich bin der lieben Mama eben wichtig, sie kennt das Passwort und kontrolliert meine Fortschritte in Sachen Gewicht öfter als meine Schulnoten. Deshalb sehe ich heute ziemlichen Ärger voraus, denn 75 Kilo bei einer Größe von 1,74 ergibt einen BMI von 24,77. Gestern war ich bei 24,11. Bei 30 bist du geliefert, Fettsucht ersten Grades. Wenn ich irgendwann den großen Sprung schaffe, wird sie es dank der Superkräfte der Superwaage in real time erfahren. Freust du dich, Ma? Danke, Francesco, tolle Idee.

Die Fettfrage wäre mit Entschlossenheit, Ausdauer und Willenskraft zu überwinden, aber leider ist das nur mein erstes Problem. Das zweite ist, dass ich krumme Beine habe. Die Knie berühren sich, es ist, als hätte ich nur einen einzigen, riesigen, schwabbeligen Oberschenkel. Beim Gehen sehe ich aus wie ein wogender Wackelpudding.

Das mit den krummen Beinen habe ich erst vor kurzem entdeckt, als ich das Video angeschaut habe (ich habe es gespeichert, bevor Facebook die Gruppe entfernt hat). Seit damals sehe ich es mir mindestens einmal pro Tag an. Ich steige darauf wie auf die Superwaage und überprüfe, welche Wirkung es auf den Stimmungsmesser hat: Pulsadern aufschneiden, Tränenstrom, Mordlust, abgrundtiefe Traurigkeit, leichte Schwermut usw. Am Anfang, vor zwei Wochen, schoss der Anzeiger sofort rauf auf Pulsadern aufschneiden. Jetzt halte ich es schon prima aus, und gestern habe ich zum ersten Mal für einige Sekunden die Totale Gleichgültigkeit erreicht. Eine Frage von Entschlossenheit, Ausdauer und Willenskraft.

Mittlerweile kenne ich das Filmchen in- und auswendig, ich schließe die Augen und kann es visualisieren. Auch jetzt hier draußen, zum Beispiel. Während ich warte, dass Nina Richi fertig anzieht, pule ich ein Jasminblatt aus dem Patio-Ablaufgitter – und sehe den Getränkeautomaten. Ich zerreibe das Blatt – und sehe mich näherkommen. Ich habe alle Zeit, die einsgewordenen Schenkel zu betrachten, die Füße nach auswärts, den Seehund-Gang, dann schwenkt die Kamera aufs Gesicht. Das Warten. Ich bin das personifizierte Warten.

Das Video dauert drei Minuten und zehn Sekunden, aber in Wirklichkeit dauerte das Warten viel länger, meiner Rechnung nach mindestens zwölfmal so lang, mal drei macht das sechsunddreißig Minuten reale Demütigung, verdichtet auf drei Minuten und zehn Sekunden virtuelles Mobbing.

Ohne Ton.

Warum? Warum haben sie nicht auch die Geräusche aufgenommen, den Pausenlärm, das Läuten der Schulglocke?

Die Wirkung ist gewaltig, Astronaut im Weltall, echt und doch künstlich, es ist gleichzeitig echt und künstlich, irgendwie unheimlich, ich weiß nicht, warum. Vielleicht spürt man, dass etwas fehlt, ist dadurch gespannter. Nach etwa einer Minute bewege ich mich. Es ist eine Erleichterung, zu sehen, dass ich in dieser Leere etwas tue. Jetzt kommt auch meine weiße Strickjacke über dem lila T-Shirt mit ins Bild. Ich dachte, die würde mich schlanker machen, aber nein. Ich wähle ein Getränk mit Teegeschmack (ich erinnere mich, dass ich auf das Getränk mit Schokogeschmack verzichtet habe) und schaue mich unentwegt um. Für das Getränk mit Teegeschmack brauche ich eine gute Minute. Bei zwei Minuten und fünf Sekunden werfe ich den Becher weg und postiere mich wieder neben dem Automaten. Bei zwei Minuten und zweiundfünfzig Sekunden ahnt man, dass die Pause zu Ende geht, doch ich bleibe hart, ich gebe nicht auf. Ich bleibe da stehen. Regungslos. Allein. Ich rücke meinen BH zurecht. Mein Gesichtsausdruck ist so untröstlich, dass mir beim Anschauen die Tränen kommen. Zum Glück dauert es nicht lang, das Bild wackelt und verschwimmt, Ende der Vorstellung. Das Jasminblatt ist nur noch ein klebriger Streifen, ich werfe es auf das Abflussgitter, schiebe es mit der Fußspitze zwischen die Ritzen, weg ist es. Meine Finger kleben.

Noch immer frage ich mich, wie sie das gemacht haben, wo sie sich versteckt haben, die Buben oder Mädchen, wie viele es wohl waren, wer entschieden hat, was sie weglassen. Das Gerede beim Schneiden. Alles, was bei Facebook draußen, aber in der Realität drin geblieben ist. Obwohl mir nichts in meinem Leben je wahrer vorgekommen ist als das, was ich auf dem Bildschirm gesehen habe. Die krummen Beine, zum Beispiel.

Und nach den Beinen mein drittes, unüberwindbares Problem: mein Gesicht. Das ist in dem Video das Schlimmste. Nicht, dass es eine Überraschung wäre. In der Tat, gewöhnlich meide ich Spiegel. Bei uns daheim sind sie...