Real Tigers - Ein Fall für Jackson Lamb

Real Tigers - Ein Fall für Jackson Lamb

von: Mick Herron

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257611397 , 480 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Real Tigers - Ein Fall für Jackson Lamb


 


An einem höllisch heißen Abend öffnet sich im Bezirk Finsbury eine Tür, und eine Frau tritt hinaus in einen Hof. Nicht vorne auf die Straße – sie verlässt Slough House, und die Haustür von Slough House öffnet und schließt sich bekanntermaßen nie –, sondern in einen Hof, in den nur selten Sonnenlicht fällt und dessen Wände folglich von einer weichen Schimmelschicht bedeckt sind. Hier herrscht ein Geruch von Verwahrlosung, der sich mit einiger Konzentration als Mischung aus Essen und Fett aus dem chinesischen Restaurant identifizieren lässt, abgestandenem Zigarettenrauch, längst getrockneten Pfützen und etwas Undefinierbarem aus dem Abfluss, das in einer Ecke gurgelt und am besten nicht genauer untersucht werden sollte. Noch herrscht nicht völlige Dunkelheit – es ist die blaue Stunde –, aber im Hof scheint die Nacht bereits angebrochen zu sein. Die Frau hält nicht inne. Es gibt nichts zu sehen.

Doch angenommen, sie selbst würde beobachtet – angenommen, der leichte Luftzug, der beim Schließen der Tür an ihr vorbeihuschte, war keine ersehnte Brise, wie sie der August auszuschließen scheint, sondern ein wandernder Geist auf der Suche nach einem Ruheplatz –, dann könnte der Moment vor dem Schließen der Tür eine kurze Gelegenheit bieten. Schnell wie ein Sonnenstrahl schlüpft er hinein, und weil Geister, vor allem Wandergeister, keine Langweiler sind, würde sich alles Folgende lediglich in einem Wimpernschlag abspielen, nämlich die blitzartige Sondierung dieses halbvergessenen und völlig ignorierten Nebengebäudes, dieses »administrativen Verlieses« des Geheimdienstes, wie es einst genannt worden war.

Unser Geist schwebt die Treppe hinauf, da sich keine andere Möglichkeit bietet, und registriert dabei die Konturen an den Treppenwänden – eine zerklüftete braune, schuppige Markierung wie die Umrisse eines unvollendeten Kontinents, die anzeigt, wie hoch die Feuchtigkeit gestiegen ist; ein welliges Gekritzel, das man im Dunkeln fast für züngelnde Flammen halten könnte. Eine phantasievolle Vorstellung, verstärkt jedoch durch die Hitze und die allgemein bedrückende Atmosphäre, die das Haus erstickt, als übe jemand – etwas – einen bösartigen Druck auf alle darin aus.

Auf der ersten Etage: zwei Bürotüren. Unser Geist sucht sich wahllos eine aus und landet in einem unordentlichen, schäbigen Büro mit zwei Schreibtischen, auf denen zwei Computer stehen; die Stand-by-Lämpchen ihrer Monitore blinken lautlos im Dunkeln. Verschüttete Flüssigkeiten wurden so lange nicht weggewischt, dass sie sich zu Flecken entwickelt haben, Flecken, die so lange ignoriert wurden, dass sie zur Farbgebung beitragen. Alles ist gelb oder grau, entweder kaputt oder repariert. Ein Drucker, der in einen zu engen Zwischenraum gequetscht wurde, weist einen gezackten Riss quer über der Klappe auf, und der Lampenschirm aus Papier, der eine der Birnen an der Decke verhüllt – die andere hat gar keinen –, ist zerrissen und hängt schief. Der schmutzigen Tasse auf einem der Schreibtische fehlt der Griff. Das benutzte Glas auf dem anderen hat einen Sprung. Der Lippenstift am Rand ist ein Gruselkuss, ein höhnisches, fettiges Grinsen.

Dies ist also kein Ort für einen wandernden Geist: Unserer rümpft die Nase, wenn auch nicht hörbar, bevor er verschwindet und danach im angrenzenden Büro wiederauftaucht, dann in den beiden Büros im nächsten Stockwerk und schließlich auf dem Treppenabsatz in der Etage darüber, um sich einen Überblick über das Gebäude als Ganzes zu verschaffen … der, wie sich herausstellt, nicht gerade vorteilhaft ausfällt. Diese scheinbar leeren Räume sieden vor unterdrücktem Groll, sie schäumen vor Frustration und nicht wenig bitterer Galle; sie winden sich in den Qualen von erzwungener Trägheit. Nur einer unter ihnen – der mit dem modernsten Computer – wirkt von dem Leid der ewigen Langeweile relativ unberührt; und nur ein anderer – der kleinere der beiden im obersten Stock – zeigt Anzeichen effizienter Arbeit. Alle übrigen vibrieren von der ständigen Schinderei sinnloser Aufgaben; von Auf‌trägen, die für untätige Hände gesucht und gefunden wurden und scheinbar aus der Verarbeitung von riesigen Mengen an Informationen bestehen, Rohdaten, die sich kaum von einem Durcheinander verstreuter Alphabete unterscheiden lassen, gewürzt mit Zufallszahlen. Als wären die Verwaltungsaufgaben eines Speicherdämons ausgelagert und den hiesigen Bewohnern aufgebürdet worden; es wird von ihnen erwartet, diese scheinbar alltäglichen Pflichten endlos und unaufhörlich zu erfüllen; andernfalls werden sie in eine noch entlegenere Finsternis katapultiert – verdammt, wenn sie es tun, und verdammt, wenn sie es nicht tun. Der einzige Grund für das Fehlen eines Warnschildes, beim Betreten des Hauses jede Hoffnung fahrenzulassen, ist, wie jeder Büroangestellte weiß, die Tatsache, dass es nicht die Hoffnung ist, die einen umbringt.

Was einen tötet, ist das Wissen, dass es die Hoffnung ist, die einen umbringt.

Unser wandernder Geist hat von diesen Räumen gesprochen, dabei hat er einen ausgelassen – den größeren der beiden auf der oberen Etage, der zwar in Dunkelheit gehüllt, aber dennoch nicht leer ist. Wenn unser Geist Ohren hätte, müsste er nicht mal eines an die Tür pressen, um dies festzustellen, denn der Lärm, der von drinnen kommt, ist nicht zu überhören: Er ist laut und polternd und könnte ebenso gut von einem Bauernhof‌tier stammen. Und unser Geist schaudert leicht, in einer fast perfekten Imitation eines menschlichen Schreckens, und noch bevor dieses laute Grollen, halb Schnarchen, halb Rülpsen, ganz verstummt, ist er schon wieder durch Slough House hinabgeschwebt; vorbei an den Bürohöhlen im zweiten und ersten Stock und dann die letzte Treppe hinunter, außer der es im Parterre nichts gibt, da das Haus zwischen einem chinesischen Imbiss und einem Zeitungskiosk eingekeilt ist. Dann gleitet er hinaus in den schimmligen, muffigen Hof, gerade, als die Zeit sich wieder manifestiert und unseren wandernden Geist auslöscht wie ein Scheibenwischer, der ein Insekt wegfegt, so plötzlich, dass er ein leises Plopp hinterlässt, jedoch diskret und höf‌lich genug, damit die Frau es nicht bemerkt. Stattdessen zieht sie an der Tür – sie vergewissert sich, dass sie geschlossen ist, obwohl sie meint, es gerade schon einmal getan zu haben –, und dann macht sie sich mit der gleichen Effizienz, die sie in ihrem Büro im obersten Stockwerk verbreitet hat, auf den Weg vom Hof in die Gasse und um die Ecke auf die Aldersgate Street, wo sie nach links abbiegt. Sie ist kaum fünf Meter gelaufen, als ein Geräusch sie erschreckt: kein Plopp, kein Knall und auch kein explosiver Rülpser wie die, auf die Jackson Lamb spezialisiert ist, sondern ihr eigener Name, ausgesprochen von einer Stimme aus einem anderen Leben, Cath-

 

erine?

Wer ist da?, fragte sie sich. Freund oder Feind?

Als ob solche Unterscheidungen wichtig wären.

»Catherine Standish?«

Diesmal erfasste sie der Schauer der Erkenntnis, und für einen Moment schien ihr Geist zu blinzeln, obwohl sie keine Miene verzog. Sie versuchte, eine Erinnerung heraufzubeschwören, die wie hinter Milchglas Gestalt annahm. Dann klärte sich die Sicht, und das Glas, durch das sie schaute, war der Boden eines Cocktailglases, jetzt leer, aber mit einem dünnen Film bedeckt.

»Sean Donovan«, sagte sie.

»Du erinnerst dich an mich.«

»Ja. Natürlich.«

Weil er kein Mann war, den man so einfach vergaß – groß und breitschultrig, mit einer Nase, die zweimal gebrochen war – eine gerade Zahl, wie er einmal gescherzt hatte, sonst würde sie noch schiefer aussehen –, und obwohl er sein inzwischen graumeliertes Haar länger trug als in ihrer Erinnerung, war es immer noch geradezu militärisch kurz. Seine Augen hingegen waren noch genauso blau, wie sollte es auch anders sein, doch selbst im verblassenden Licht erkannte sie, dass sie heute Abend das gewittrige Blau seiner düsteren Momente hatten und nicht den Ton eines Septemberhimmels. Groß und breit hatte sie bereits registriert; er war sicher doppelt so massig wie sie. Ein seltsames Paar mussten sie abgeben, wie sie hier in der blauen Stunde standen: er ganz offensichtlich ein Krieger und sie in einem bis zum Hals zugeknöpf‌ten Kleid mit Spitze an den Ärmeln und Schnallenschuhen.

Da es angesprochen werden musste, sagte sie: »Ich wusste gar nicht, dass du …«

»Dass ich draußen bin?«

Sie nickte.

»Schon seit ’nem Jahr. Dreizehn Monate.« Auch seine Stimme hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt; dieser Hauch eines irischen Tonfalls. Sie war noch nie in Irland gewesen, aber manchmal hatte sich ihr Kopf bei seinen Worten mit sanften grünen Bildern gefüllt.

Wobei der Alkohol natürlich geholfen hatte.

»Ich könnte dir ganz genau sagen, wie viele Tage es sind«, fügte er hinzu.

»Muss hart gewesen sein.«

»Du hast keine Ahnung«, sagte er. »Du hast nicht die geringste Ahnung.«

Darauf wusste sie nichts zu erwidern.

Sie standen reglos da, und das war in ihrem Beruf nicht ratsam. Sogar Catherine Standish, die nie im Außeneinsatz gewesen war, wusste das.

Er las es an ihrer Haltung ab. »Du...