Der letzte Prinz

Der letzte Prinz

von: Steven Price

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257611434 , 368 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Der letzte Prinz


 

In seiner kleineren Bibliothek verwahrte er einen gebrochenen weißen Stein, wie ein Stück Koralle, den ein Zuckerhändler am Naturhafen von Lampedusa aufgelesen hatte. Nachmittags hielt er diesen Stein ins Sonnenlicht und ließ seine kantige, schwere Wahrheit auf sich wirken. Er war der Fürst dieser Insel, doch wie alle ihre Fürsten hatte er nie ihre Küste gesehen, nie einen Fuß auf sie gesetzt. Besuchern sagte er ironisch: Das ist eine Feuerinsel am Rand der Welt; wer könnte da leben? Er fügte nicht hinzu: In der Verbitterung einer großen Familie lebt man immer. Er präsentierte nicht den Stein und sagte: Das ist etwas Totes, und doch wird es mich überleben. Er war der Letzte seines Geschlechts, nach ihm kam nur noch Auslöschung.

Als er ein Junge war, hatte seine Gouvernante ihm erzählt, der Sand Siziliens stamme aus der Sahara, und das hatte er sein Leben lang weitergegeben, wenngleich er nicht wusste, ob es stimmte. Er stellte sich vor, wie der Sand in rot schimmernden Hitzeschleiern übers Meer geweht wurde, nordwärts getragen vom heißen Wind des Schirokko, der über die Insel Lampedusa hinwegstrich. Jeden Morgen nach dem Aufstehen ging er seine Terrasse an der Via Butera entlang, und seine Schritte, die sich im über Nacht herangewehten Sand abzeichneten, führten zu der niedrigen Steinmauer über dem Foro Italico, wo sie wie Geisterspuren endeten, denn dort blieb er stehen und schaute hinaus in den beginnenden Tag, weg von Sizilien und dem Meer des Südens dahinter und der fernen Feuerinsel seiner Ahnen.

Er mochte Palermo nicht mit seinen staubigen Pflastersteinstraßen, seinen Trümmern vom letzten Krieg. Obwohl ihm klar war, dass er hier in seiner Geburtsstadt sterben würde, empfand er keine Liebe zu ihr, sondern eine bittere Verlassenheit. Es gab größere Leidenschaften als die Liebe. Liebe war belanglos, kurzlebig, absurd menschlich. Er hatte England geliebt, Paris geliebt, schicksalsergeben seine Leidenszeit in österreichischer Gefangenschaft während des Weltkriegs geliebt, war per Eisenbahn und Kutsche nordwärts nach Lettland gereist und hatte die vorüberrollenden dunklen nordischen Waldweiten geliebt. Und doch war er immer wieder hierher zurückgekehrt, in eine ungeliebte Stadt, zu seiner Mutter, der Fürstinwitwe, als sie noch lebte, zu den historischen Straßen mit dem Namen seiner Familie, als sie tot war. Schon als Kind im Palazzo seines Vaters hatte er die tiefgelegene Stadt als teuf‌lisch und glühend heiß empfunden. Ihr Staub wallte vom Meer herauf, während die Fähren aus Neapel mit den hitzebetäubten Menschen an Bord sich träge heranschoben. Das allein hatte sich nicht geändert. Jetzt, wo er alt war und in der Mitte eines neuen Jahrhunderts in einem heruntergekommenen Palazzo am Meeresrand lebte, beobachtete er von seinem Standort hoch über dem Hafen die sich leerenden weißen Decks, als suchte er jemanden, den er verloren hatte.

Noch in Pantoffeln und Morgenmantel stand er da, wischte Sandkörner von der Mauerkrone und rieb zerstreut die Finger aneinander, um so vielleicht das Unglück der Nacht zu vertreiben und in den Tag hineinzufinden.

 

Seit die Amerikaner über die Insel gefegt waren, wohnte er mit seiner Frau Alessandra in der einen Hälfte eines Palazzos im mittelalterlichen Viertel von Palermo, in der engen Via Butera, hinter verglasten Fenstern mit Blick aufs Meer. Fragte man ihn danach, antwortete er, es sei zwar sein Haus, aber nicht sein Zuhause. Sein wahres Zuhause stand mehrere Straßen entfernt hinter dicken Mauern in einem Haufen geborstenen Steins und windverwitterter Baureste, das Werk einer über den Atlantik beförderten Bombe, deren einziger Zweck darin lag, die Welt, wie sie einmal war, auszuradieren. Diese Bombe fiel im April 1943, und im selben Monat wurde das Anwesen seiner Frau in Stomersee im hohen Norden Lettlands von den Russen überrannt. Beide waren auf einen Schlag heimatlos und verwaist. Jetzt durchwanderte er die Straßen seiner Stadt als ein anderer Mensch, einer, den der Verlust des Gewesenen nicht befreite, sondern belastete. Denn er war auf einem Mahagonitisch in dem verlorengegangenen Palazzo in der Via di Lampedusa geboren worden und hatte seine ganze Kindheit hindurch bis ins Erwachsenenalter und auch noch zehn Jahre nach seiner Heirat allein in einem kleinen Bett dort im Zimmer seiner Geburt geschlafen, und er wusste nicht, was aus ihm werden sollte ohne Zugang zu diesem Raum.

Daran dachte er jetzt oft, wenn er allein im Frühlicht aufstand, sich eine Decke um die Schultern schlang und leise am Schlafzimmer seiner Frau vorbeiging. Seine Mutter war nach dem Waffenstillstand todkrank in diesen Palazzo zurückgekehrt und hatte ihr letztes Lebensjahr in den Trümmern verbracht. Seine Frau fühlte sich der alten Welt von Palermo nicht derart verbunden. Wenn Alessandra Wolf‌f einen Raum betrat, schloss sich eine Tür und sperrte das Licht aus. Sie war Linguistin, Leserin von Literatur, die einzige Psychoanalytikerin Italiens und arbeitete bis spätabends mit den Patienten in ihrer Bibliothek, und er liebte sie wegen ihres Verstandes und ihrer geteilten Einsamkeit. Sie war die Tochter der Sängerin Alice Barbi, der letzten Muse des Komponisten Brahms, und als ihre Mutter sich wiederverheiratete, wurde sie die Stief‌tochter seines Onkels Pietro in London. Als sie sich kennenlernten, erinnerte er sich, hatte er kein Wort herausgebracht. Sagen Sie Licy zu mir, Cousin, verlangte sie gleich. Ihm gefielen ihr schwarzes Haar, ihre noch schwärzeren Augen und ihre breiten, starken Schultern, in denen die Kraft einer Bühnensopranistin lag. Schon als er sie vor dreißig Jahren in London zum ersten Mal zu Gesicht bekam und sie noch mit ihrem ersten Mann verheiratet war, hatte er sie für attraktiv und distanziert gehalten. Dass so viel Zeit vergangen war, verblüffte ihn. Er sah in ihr noch dieselbe Frau wie damals, älter als er, weltgewandter, eine Frau, die ihm auf der Straße immer ein paar Schritte vorausging und über ihre Schulter hinweg mit ihm redete, ohne sich umzudrehen, und deren strenge Anmut mit Arroganz verwechselt werden konnte. Dabei war so viel Zärtlichkeit in ihr. Und weil sie intelligent und nicht von klassischer Schönheit war, hatten ihre Ansichten es Männern oft unmöglich gemacht, ihre Gesellschaft zu ertragen, und das gefiel ihm auch an ihr.

 

An einem Morgen Ende Januar wurde er wegen der Ergebnisse eines Lungenfunktionstests zu seinem Arzt bestellt. Er war mit Schmerzen aufgewacht, hatte sein Bettzeug zerknüllt und war, als er die weichen weißen Füße auf den Boden schwang, über ein ihm neues Schwindelgefühl erschrocken, eine Kurzatmigkeit, als hätte sein Körper nun ernsthaft beschlossen, ihn im Stich zu lassen.

Diese Empfindung hatte sich gelegt, doch als er frühstücken gehen wollte, packten ihn an der Biegung der hohen Marmortreppe wieder die Schmerzen, und er krallte sich mit weißen Fingerknöcheln an das Geländer, die Porträts seiner Ahnen im Halbdunkel über sich, und zerrte keuchend am Knoten seiner Krawatte. War es nur Einbildung? Er legte zwei Finger ans Herz und atmete. Tatsächlich spürte er seit neuestem eine innere Unruhe, die er so nicht kannte. Beim Abendessen gestern hatte er seiner Frau nichts von dem Arzttermin gesagt, sondern nur still gelächelt und Licy gefragt, wann er so alt geworden sei.

Bäume sind alt, hatte sie ungerührt erwidert. Fürsten kommen in die Jahre.

Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. An dem kleinen Tisch in der Diele rückte er seinen Hut zurecht und musterte nachdenklich das Gesicht im Spiegel. In seiner Brust stieg ein Schmerz auf und legte sich wieder.

Au, dachte er.

Und wehmütig strich er die Fältchen an seinen Augen glatt.

Er hatte die mittleren Jahre hinter sich gelassen, wie andere aus einem Zimmer gehen, einfach so, als könnte er jederzeit wieder zurück. Er war neunundfünfzig. Seit dem Waffenstillstand 1918 hatte er jede wache Stunde seines Lebens geraucht. Seine Augenfältchen verdankten sich einer Traurigkeit, einer Scheu, die schon aus seinen Kindheitsfotos sprach. Damals war er sich in Gesellschaft Erwachsener dumm vorgekommen, und das Gefühl kannte er nach wie vor. Mit seiner leisen Art und seiner Ironie hatte man ihn zeitlebens für einen guten Zuhörer gehalten, obwohl er das Spiel des Lichts immer schon interessanter fand als ihm anvertraute Misslichkeiten. Er liebte die Einsamkeit und gutes Essen und war seit seiner Rückkehr aus England in den 1930er-Jahren dick geworden, von Palermos Zuckergebäck dann noch dicker. Da er Autos nicht mochte, lief er am Stock durch sein Viertel, schwerfällig, vornübergebeugt, im schmerzenden Körper eines zwanzig Jahre älteren Mannes, immer ein oder zwei Bücher unter den Arm geklemmt. Er trug einen feschen kleinen Schnurrbart wie schon in seiner Jugend, das geölte Haar glatt nach hinten gekämmt, und stieg jeden Morgen in einen feinen blauen Anzug, der längst aus der Mode gekommen war. Seit über einem halben Jahrhundert las er unersättlich auf Italienisch, Französisch und Englisch. Il Mostro nannten ihn seine Cousins, weil er die Bücher so verschlang. Das Monster.

Er traf pünktlich um zehn in der Praxis ein, und Dr. Coniglio empfing ihn sofort. Etwas merkwürdig Steifes am Benehmen des Arztes beunruhigte ihn, so dass er sich auf schlechte Neuigkeiten gefasst machte. Er kannte Coniglio seit Jahren. Sie waren im gleichen Alter. Ein großer, eleganter Mann mit kräftigen Schultern, sauberem, gestärktem Kragen und unweigerlich hochgekrempelten Ärmeln. Er mochte ihn, die Herzlichkeit seiner...