Aus dieser schweren Zeit - Eine Jüdin aus Jever berichtet über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Rettung durch den 'Transport 222' vom KZ Bergen-Belsen 1944 nach Palästina

Aus dieser schweren Zeit - Eine Jüdin aus Jever berichtet über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Rettung durch den 'Transport 222' vom KZ Bergen-Belsen 1944 nach Palästina

von: Änne Gröschler, Hartmut Peters

Fuego, 2020

ISBN: 9783862872282 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 6,99 EUR

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Aus dieser schweren Zeit - Eine Jüdin aus Jever berichtet über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Rettung durch den 'Transport 222' vom KZ Bergen-Belsen 1944 nach Palästina


 

Historische Rahmenbedingungen des „Transports 222“


Die Wissenschaft spricht vom „dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch“.3 Dieser wird meist griffig als „Transport 222“ bezeichnet. In Wirklichkeit gelangten durch ihn jedoch 282 Menschen nach Palästina. In Wien kamen nämlich 61 Juden mit britischen und amerikanischen Staatsangehörigkeiten aus den Internierungslagern Vittel und Laufen zu den 222 aus Bergen-Belsen hinzu. Eine 77jährige Frau musste nach einem Schlaganfall in einem Istanbuler Hospital zurückgelassen werden, wo sie später starb.

Wegen der widrigen und komplexen Rahmenbedingungen und der Vielzahl der beteiligten Akteure mag es uns heute unglaublich erscheinen, dass der „Transport 222“ seinerzeit überhaupt stattfand. Zwar bestand seit Herbst 1943 eine grundsätzliche Übereinkunft der Kriegsgegner für den Austausch, doch eine Vielzahl von staatlichen Stellen war zu beteiligen. Für Deutschland sind außer dem verhandelnden Auswärtigen Amt Heinrich Himmler in seiner Doppelfunktion als „Reichsführer-SS“ und „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ (RKF), das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in den Abteilungen „Ausländerpolizei“ und „Judenangelegenheiten“ sowie auch die nachgeordneten SS-Dienststellen in den Niederlanden zu nennen. Auf der britischen Seite waren gleich drei Ministerien – Ausland, Krieg und Kolonien – sowie die Mandatsverwaltung der britischen Regierung in Palästina involviert. Von den beteiligten Nichtregierungsorganisationen besaßen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf und die Jewish Agency mit Dienststellen in London, Genf, Istanbul und Palästina gewissen Einfluss auf das Verfahren. Auch der „Joodsche Raad voor Amsterdam“ setzte sich 1943 für die Aufnahme von Personen auf die „Palästina-Liste“ ein. Die Hauptakteure Großbritannien (die Mandatsmacht von Palästina) und Deutschland kommunizierten wegen des Kriegszustands nur über die neutrale Schweiz, die dafür in ihrer Berliner Gesandtschaft die Abteilungen „Schutzmacht“ und „Austausch“ eingerichtet hatte. Zudem können die zeitraubenden Postwege einen Teil der monatelangen Verzögerungen seit der Übereinkunft und der ständigen, nur schwer nachvollziehbaren Änderungen an der Austauschliste erklären.

Gerade in der Zeit des Austauschs Mitte des Jahres 1944 ging der 2. Weltkrieg in seine dramatische Endphase. Die Deutschen hatten durch die Niederlage von Monte Cassino Italien verloren, die Rote Armee zerschlug die Heeresgruppe Mitte, die Westalliierten hatten am 6. Juni, also gut drei Wochen vor Fahrtantritt, die Invasion in der Normandie begonnen. Wenig später wäre die interkontinentale Aktion kaum mehr möglich gewesen, zumal im August 1944 die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland einfror. Die Fahrt führte durch Gebiete, die durch Partisanenkrieg und Luftangriffe gefährdet waren, und durch die Machtbereiche Deutschlands, der Türkei und Großbritanniens. Dennoch lief die Logistik der Züge, Fahrpläne, Versorgung und administrativen Begleitung nahezu perfekt. Auch in der „Gegenrichtung“ Palästina – Deutschland funktionierte der Austausch, soweit bekannt, gut.

Welches Interesse an einer Freilassung von Juden lag überhaupt vor, wenn das unausgesprochene deutsche Staatsziel seit 1941 die „Auslöschung der jüdischen Rasse“ war? Deutschlands verbrecherische, rassenideologische Position war zwar dominant, aber in diesem Fall auch widersprüchlich, weil beeinflusst durch die Interessen der beteiligten staatlichen Organe und Kompetenzen. So gab es eine realpolitische Linie des Auswärtigen Amts (AA) unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Diese wollte es sich in Kriegszeiten nicht mit jedem Staat der Welt verderben, von dem sich Staatsbürger zufällig im Machtbereich befanden – und Juden waren. Deshalb waren jüdische Bürger neutraler oder befreundeter Staaten von der Ermordung zurückgestellt. Diese deshalb seit 1941/42 an verschiedenen Orten gefangen gehaltenen Juden wollten AA und SS gegen von Kriegsgegnern internierte Deutsche oder dringend benötigte Devisen austauschen. So hatte ein Jude amerikanischer oder britischer Staatsangehörigkeit Überlebenschancen im Gegensatz zu den Juden mit der Staatsangehörigkeit der okkupierten Länder Europas, die meist sofort ermordet wurden.

Der mörderische Staatsrassismus wurde also in Randbereichen mit dem pragmatischen Primat der Politik abgeglichen. Heinrich Himmler – nach Hitler der machtstärkste Nationalsozialist – hatte spätestens nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 erkannt, dass das Reich jetzt verstärkt Devisen zum Ankauf von Rohstoffen benötigte. Deshalb gestaltete er das frühere Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen zum zentralen Austauschlager um und benutzte jüdische Menschen als Druckmittel und Handelsware. Bekannt sind die ca. 1.700 sogenannten Kastner-Juden aus Ungarn, die die SS von Bergen-Belsen aus im August und Dezember 1944 gegen Lösegeld – angeblich 1.000 $ pro Person – in die Schweiz transferierte.

Himmler war aber gleichzeitig auch „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ (RKF) und wollte, wie auch der Chef der Auslandsorganisationen der NSDAP, SS-Gruppenführer Ernst Wilhelm Bohle, alle „arischen“ Auslandsdeutschen in das Deutsche Reich „heimführen“ bzw. sie im Rahmen der deutschen „Großraumpolitik“ in den besetzten Gebieten Osteuropas ansiedeln. 1942 führte der RKF aus: Das Klima Palästinas werde „…dieses wertvolle deutsche Blut zugrunde gehen“ lassen und in „der fremdvölkischen – heute noch zu einem erheblichen Teil jüdischen – Umwelt […] diese Volksgenossen auf die Dauer der nationalsozialistischen Weltanschauung entfremden“.4 Im Gespräch für die Umsiedlung war unter anderem die Krim.

Während also aus rassenideologischen Motiven heraus die Juden in fast ganz Europa ermordet wurden, bedeutete gleichzeitig die „rassenhygienische“ Paranoia vom gefährdeten deutschen Blut in fremdvölkischer Umwelt in der Perspektive „arisierender Großraumpolitik“ eine Chance für einige wenige Juden. Diese bestand darin, tatsächlich ausgetauscht zu werden – oder als „austauschwertig“ nicht sofort, sondern erst später, wenn der Austausch nicht zustande kam, umgebracht zu werden. Fast wäre der Transport noch am Einspruch des Großmufti Al-Husseini von Jerusalem gescheitert, der sich in seinem Berliner Exil als alleiniger Vertreter aller arabischen Interessen verstand und als Befürworter des Holocaust jeden weiteren Juden in seinem beanspruchten Bereich durch Eingaben an das AA und den Reichführer-SS zu verhindern suchte.5

Deutschlands Verhandlungspartner Großbritannien befand sich bezüglich Palästinas in einer schwierigen Situation in der Konsequenz seiner widersprüchlichen Politik. In der territorialen Abwicklung der Folgen des 1. Weltkriegs war Großbritannien Mandatsmacht über das Gebiet Palästina geworden, wo laut Balfour-Deklaration von 1917 eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“ geschaffen werden sollte. In der Zeit vor September 1939, dem Beginn des 2. Weltkriegs, war gerade Palästina zu einem wichtigen Zufluchtsort der von NS-Deutschland verfolgten Juden geworden. Die meisten Staaten, die danach neutral blieben oder sich im Krieg mit dem Deutschen Reich befanden, waren schon vor 1939 nur sehr eingeschränkt bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Welt teilte sich nach dem berühmten Satz von Chaim Weizmann „in Länder, die die Juden loswerden wollten, und in Staaten, die sie nicht aufnehmen mochten.“6

Diese mangelnde Aufnahmewilligkeit zog unweigerlich einen sich weiter verstärkenden Flüchtlingsdruck auf Palästina nach sich. Die exponierte Stellung des Mandatsgebiets führte zu der im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und danach während des Krieges, der ja auch in Nordafrika stattfand, immer klareren Absicht Großbritanniens, die Konflikte mit den arabischen Anrainer-Staaten nicht weiter zu schüren. Das „White Paper“ von 1939 schränkte beispielweise die jüdische Einwanderung gerade in der Phase extrem ein, als Tausende Juden aus Deutschland und Österreich noch hätten gerettet werden können.

Auch als Deutschland 1941 keine Auswanderung mehr zuließ, sondern die Juden in Ghettos zusammenpferchte und den Massenmord begann, wandelte sich die britische Position nur wenig. Der von Deutschland ins Gespräch gebrachte Austausch, der den Anlass für die Einrichtung des „Aufenthaltslagers“ Bergen-Belsen gegeben hatte, blieb trotz der geringen Zahlen für London heikel. Nur wenige Gruppen unter den von Nazi-Deutschland angebotenen „Austauschjuden“ wurden akzeptiert. Am besten geeignet war eine vorhandene palästinensische Staatsangehörigkeit, denn das führte rechtlich zu keiner zusätzlichen Einwanderung nach Palästina. Bekannte Anhänger der zionistischen Bewegung waren nicht erwünscht. Auf wiederholtes Drängen der zionistischen Jewish Agency wurden schließlich aber auch Personen als austauschfähig akzeptiert, die Angehörige in Palästina hatten, insbesondere Eltern von dort lebenden Kindern.7

Das traf auf Änne und Hermann Gröschler zu, lebte doch ihr Sohn Walter seit 1935 in Palästina. Vielleicht spielten auch seine Armeezugehörigkeit und eine Bürgschaft von Dr. Fritz Steinfeld, der seine Internistenpraxis im Zentrum Jerusalems betrieb, eine Rolle dabei, dass das Ehepaar Gröschler nicht nur auf eine der zahlreichen Palästina-Listen kam, sondern Änne schließlich tatsächlich zu den 222 „chosen people“8 gehörte. Aus ihrem Bericht erfahren wir, dass sich das Ehepaar von Westerbork aus, als noch eingeschränkt Postverkehr möglich war, an das Internationale...