Barrie - Wie ich eine Hündin rettete - und sie mich

von: Sean Laidlaw

HarperCollins, 2020

ISBN: 9783749950133 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Barrie - Wie ich eine Hündin rettete - und sie mich


 

1

Das erste Mal begegnete mir Barry an einem ganz normalen Montagnachmittag. Der Himmel war bedeckt, und es war ein wenig kühl, nicht ungewöhnlich für Syrien im Februar. Er hatte sich in den Haufen Schutt eines nahe gelegenen Schulgebäudes verkrochen, wo er stur die Stellung hielt und aussah, als würde er sich dort verstecken. Winselnd kauerte er unter einer Betonplatte von der Größe einer Tür.

Barry war winzig und sichtlich verängstigt. Tiefe Traurigkeit überkam mich, als ich diesen kleinen wimmernden Hund betrachtete, inmitten der Überreste einer Schule, die nun überall verstreut lagen. Er war ein Bild der Unschuld, und ich fragte mich, was ihn dorthin gebracht hatte.

Ich konnte es nicht gut erkennen, aber trotz der Verwüstung um ihn herum wirkte er einigermaßen unversehrt, wobei die Betonung hier auf einigermaßen liegt.

Die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens bin ich Soldat gewesen und habe erlebt, wie gewaltig sich ein Krieg auf alles auswirkt, was seinen Weg kreuzt. Unsere morgendlichen Fahrten durch die Stadt Rakka boten eine Diashow all dieser Schrecken. Wir fuhren kilometerweit an ausgebombten Gebäuden vorbei, an Häusern, deren Wände mit Einschusslöchern übersät waren. Der Krieg ist gnadenlos, und Barry war im Bauch dieses Monsters geboren worden.

Barrys Ohren waren einen Hauch dunkler als der Rest seines Körpers, der bis auf den schwarz und braun gefleckten Kopf weiß war. Sie standen seitlich von seinem runden Köpfchen ab. Er war von einer Staubschicht umhüllt wie von einer Decke, ich konnte sie auf seinem Fell zittern sehen.

»Ich habe auch Angst«, sagte ich zu dem Kleinen, der natürlich nicht wissen konnte, dass mich im Alter von fünf Jahren ein Rhodesian Ridgeback angegriffen hatte – ein fieser alter Hund, der unseren Nachbarn gehörte. Dieses Erlebnis war hängen geblieben, weshalb mir jetzt, gelinde gesagt, ein klein wenig beklommen zumute war.

Aber ich dachte mir: Ach, zur Hölle, was soll’s! Im schlimmsten Fall beißt er mich, dann erzähle ich allen, eine Bestie von Hund hätte sich auf mich gestürzt.

»Hi, ich bin Seán. Wie heißt du?«, fragte ich vielleicht eine Spur zu optimistisch.

Natürlich antwortete er mir nicht direkt – wie auch, er war schließlich ein Hund –, aber er würdigte mich keines Blickes, hielt den Kopf nur starr in derselben Position. Irgendwann bemerkte ich, wie er mich vorwitzig aus den Augenwinkeln ansah. Freches Kerlchen, dachte ich.

»Du brauchst einen stolzen, würdevollen Namen«, sagte ich zu ihm. Ich wollte, dass er einen coolen Namen bekam, keins dieser süßen Kosewörter wie Schnuffel oder Marshmallow. Oder Flecki – um Himmels willen nicht Flecki. Das passt nicht zu dir. Ich besah ihn mir näher, und da kam mir eine Idee.

»Barry. Ich nenne dich Barry!«

Eines meiner Teammitglieder – wir waren neun Leute und hießen Team 1 – hieß Barry, und auch wenn er sich immer wieder einredet, ich hätte den Hund nach ihm benannt, ist das nicht der Fall.

Ab jetzt war Barry meine Mission. Obwohl er wie ein kleiner Frechdachs wirkte, brauchte es nicht mehr als diesen einen flüchtigen Seitenblick von ihm, und es war um mich geschehen. Ich war hin und weg.

Es war ein Glück, dass ich Barry gefunden habe, nicht zuletzt, weil ich ihn, dem Wimmern nach zu schließen, zuerst für ein syrisches Kind hielt, das irgendwo eingeschlossen und womöglich verletzt war.

Hinter uns lag ein langer Arbeitstag in Rakka, der ehemaligen Hauptstadt des sogenannten Islamischen Staats. Mein Team hatte die Aufgabe, eine Green Zone zu schaffen, ein Gebiet, das frei von Sprengfallen und sicher für Zivilisten war, und an diesem Tag hatten wir Tonnen von dem Scheiß in die Luft gejagt. Der IS war eine gnadenlose, heimtückische Truppe, die uns bergeweise Fallen und Bomben hinterlassen hatte. Gegen drei Uhr nachmittags hatten wir die letzte Sprengfalle in einem Regierungsgebäude am Ufer des Euphrat im Süden der Stadt beseitigt. Wir waren müde und froren. Die Sonne verbarg sich hinter gewaltigen weißen Wolken. Am anderen Ufer des Flusses standen unsere Fahrzeuge an einer Tankstelle. Dorthin gingen wir nun zurück und wärmten uns an einer Tasse Chai.

Wenn ich sage, dass wir tonnenweise Scheiß in die Luft gejagt hatten, dann meine ich wirklich eine Menge. Ich war Spezialist für Bombenentschärfungen in der am heftigsten bombardierten Stadt der Welt; die Kakophonie der Explosionen und Schießereien brach nie ab, bis wir sie irgendwann nur noch als ein Hintergrundrauschen wahrnahmen. Man gewöhnt sich einfach daran. Ohrenbetäubende Explosionen waren in Syrien nicht ungewöhnlich, aber an jenem Tag war es, als befänden wir uns in einem leeren Raum, in dem nur das Echo von Barrys Wimmern zu hören war.

Das Entschärfen von Bomben folgt einem festgelegten Protokoll von dem Moment an, in dem wir die Sprengfalle finden, bis wir sie entschärfen oder in die Luft jagen – in der Regel geschieht Letzteres. Nachdem ein Sprengsatz identifiziert wurde, folgt immer ein Moment der Stille, ehe das Entschärfungsverfahren in Gang gesetzt wird. Oder kurz gesagt: Bevor sich die Gefahrenzone in das Set eines Katastrophenfilms verwandelt, informieren wir alle über Funk über unsere nächsten Schritte.

Das ist wichtig, sehr wichtig sogar, denn die Sicherheit jedes Einzelnen geht absolut vor. Wer da draußen überleben will, muss gut organisiert sein. Schließlich möchte niemand inmitten eines Kriegsgebiets plötzlich eine Explosion erleben, mit der man nicht gerechnet hat. Denn glaubt mir, das ist wirklich kein Vergnügen.

Wenn etwas nicht nach Plan läuft, wartet man einige qualvolle Minuten, in denen einem das Herz bis zum Hals schlägt, auf eine Bestätigung des anderen Teams. Man wartet darauf, dass das Funkgerät Informationen über Opfer preisgibt, hofft, dass diese furchtbare Stille bald unterbrochen wird.

Es wirkt vielleicht selbstverständlich, ist aber fundamental: Wir müssen hundertprozentig sicher sein, dass wir die Einzigen sind, die irgendetwas in die Luft jagen.

Plötzlich und heftig durchbrach ein Jaulen die unheimliche Stille, und sofort rannte ich zu der Stelle, von der das Geräusch kam. Als Soldat hat man vielleicht eine Sekunde Zeit für seine Emotionen, aber dann muss man sich zusammenreißen und handeln. Ich dachte, das könnte eine Rettungsmission werden.

Rakka ist nicht so verlassen, wie man vielleicht denkt – in gewisser Weise ist es sogar eine trubelige Stadt. Zumindest fühlte es sich so an. Morgens waren wir nicht die Einzigen, die mit Fahrzeugen unterwegs waren, es gab Märkte, und Kinder spielten in den Straßen. Viel zu oft fanden wir die leblosen Körper von Kindern, die einen falschen Schritt getan und dafür mit ihrem Leben bezahlt hatten.

Bei dem Gedanken an ein gefährdetes Kind entsteht im Kopf kurz eine Panik, die man unmöglich verhindern kann, aber sie wird fast unmittelbar danach von der Erkenntnis überlagert, dass es noch gerettet werden kann. Und dann blendet man alles andere aus. Es ist deine Mission, es ist das, wofür du ausgebildet wurdest.

Ich hatte einen Dolmetscher, damit ich mit meinen syrischen Jungs kommunizieren konnte, aber in diesem Augenblick brauchten wir ihn nicht. Wir alle scannten sofort die Umgebung und lauschten auf ein weiteres Wimmern.

Das Geräusch war von einer Stelle wenige Hundert Meter von dort entfernt gekommen, wo unsere Fahrzeuge parkten, aus dieser Schule, deren Mauern komplett nach innen eingestürzt waren. Rakka war in keiner guten Verfassung: Schutt und Staub, so weit das Auge reichte. Wind strich durch die Risse und Spalten seiner Gebäude und fegte grauen Staub durch die Stadt, was so unheimlich klang wie ein lang gezogenes Flüstern.

Heute glaube ich, Barry wollte uns mitteilen, wo er sich befand, denn er heulte noch einmal auf wie eine Sirene.

»Da lang!«, brüllte ich und zeigte auf eine Ansammlung von Steinbrocken. Sie waren kaskadenartig vom zweiten Stock des Schulgebäudes heruntergefallen und bildeten eine Art Treppe, die wir hinaufsteigen konnten.

Wir mussten uns dem Geräusch vorsichtig nähern, da wir das Gebiet noch nicht nach versteckten Sprengsätzen abgesucht hatten. Obwohl er nicht weit weg war, konnten wir nicht so schnell bei ihm sein, wie man sich das unter normalen Umständen vielleicht vorstellt. Es war nicht wie im Film, wo man wie ein Irrer auf das Opfer zurennt. Es dauerte. Auf unserem Weg suchten wir die Umgebung nach der Quelle des Wimmerns ab, aber auch nach Anzeichen für Sprengfallen oder Drähten.

Es war eine ziemlich gebräuchliche Taktik des IS, ein Kind weinen zu lassen, um Ersthelfer anzulocken. So war die Realität da draußen, und es macht mich immer noch krank. Jeder einzelne Schritt zählt in Syrien, das durften wir nie vergessen.

Nachdem ich mir meinen Weg durch noch mehr Schutt gebahnt hatte, fand ich ihn endlich, zitternd unter der massiven Betonplatte. Ich schob die Arme darunter, um die Platte hochzuwuchten, und drei meiner syrischen Jungs eilten mir zu Hilfe.

Ein weiterer kam dazu, um unter die Platte zu schauen und sicherzustellen, dass uns dort keine Drähte, insbesondere Stolperdrähte, Druckschalter oder Bewegungsmelder überraschten. Vorsichtig ging er auf den Boden und sah sich gründlich um. Alles sauber.

»Auf drei. Eins … zwei …« Bei drei hoben wir die Platte an und warfen sie über den Schutthaufen. Sie war schwer, bestimmt hundert Kilogramm.

Ein paar Sonnenstrahlen strichen trotz des...