Denn das Leben ist eine Reise - Roman

von: Hanna Miller

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783732586486 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Denn das Leben ist eine Reise - Roman


 

PROLOG


Sommer 2012


Aimée stieg nicht sofort aus. Wie immer, wenn sie ihre alte Trödlerkommune erreichte, blieb sie noch eine Weile im Wagen sitzen und blickte durch die Windschutzscheibe auf den See. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht, die Blätter der Bäume ringsherum regten sich kaum.

Schau nicht hinüber!

Einmal musste sie es doch schaffen, nicht als Allererstes zur großen Wiese mit den Unterkünften zu sehen. Ganz am Ende der Wiese, hinter den Bauwagen der anderen, stand das Wohnmobil ihrer Mutter.

Aimée richtete ihren Blick fest aufs Wasser. Die haarigen Zweige der Trauerweide strichen in leisen Bewegungen über den See und trieben träge Kreise über die Oberfläche. Es war ein warmer Morgen, der einen heißen Tag versprach, einen heißen ersten Sonntag im August. Das würde sie wohl nie vergessen.

Langsam glitt ihr Blick nun doch übers Schilf, sie konnte nicht anders. Das Wohnmobil ihrer Mutter war alt, ein Ford Transit in Beigebraun, Baujahr 1983, klein, aber mit einem Alkoven. Die Tür war in einem grünlichen Gelb gestrichen. Jedes Mal, wenn sich ihre Mutter ein neues altes Wohnmobil zulegte, tat sie das als Erstes: Sie strich die Tür in diesem grellen Schwefelton. Keine Ahnung, wann Marilou das letzte Mal mit dem Wohnmobil gefahren war. Marilou, so nannte sich ihre Mutter. Eigentlich war es albern, eigentlich hieß sie Marielouise. Aber darauf reagierte sie nicht. Und Mama passte schon lange nicht mehr.

Aimée ließ das Wagenfenster hochfahren und schob den Sitz ganz nach hinten. So konnte sie leichter aussteigen. Sie war erst im sechsten Monat, aber ihr Bauch war schon riesig. Gerade gestern hatte die Frau im Blumenladen, bei der sie jede Woche frische Lilien kaufte, gefragt, wann es denn so weit wäre. Als sie sagte: Anfang Dezember, in vier Monaten, hatten sich sämtliche Leute im Laden entgeistert zu ihr umgedreht. Sie selbst hatte auch Anfang Dezember Geburtstag, sie wurde dreißig.

Aimée schloss die Wagentür hinter sich zu. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen, kein Mensch war heute hier. Aber es gab ihr ein gutes Gefühl. Sie parkte mitten auf dem Hof, wo an regenfreien, verkaufsoffenen Tagen die Stände aufgebaut waren, vor ihr der See, von dem sie wusste, dass er viel tiefer war, als er aussah. Links von ihr grenzte das Kopfsteinpflaster an die Wiese mit den Bauwagen. Rechts stand die große ehemalige Scheune, in der alle ihre Verkaufsnischen hatten. Die alte Melkkammer war schon immer der Bereich ihrer Mutter gewesen, vollgestopft mit angelaufenem Silberschmuck, Vasen und Kleidern, die sich in der Hand mürbe anfühlten. Noch vor zwei Jahren hatte Aimée hier auf dem Hof an ihren Möbelstücken gearbeitet. Dann war sie zu Per gezogen, und er hatte ihr diese wundervolle Werkstatt unterm Dach seines Hauses eingerichtet.

Das Gras unter ihren Füßen war vollkommen trocken, keine Spur von morgendlichem Tau. Aimée atmete tief durch und sog den vertrauten saftigen Geruch der grünblauen Landschaft ein. Sie brauchte das Wohnmobil nur von Weitem zu sehen und wusste sofort, was sich drinnen abspielte. Es gab vier mögliche Szenarien, vollkommen unabhängig von der jeweiligen Tageszeit. Entweder schlief ihre Mutter oben im Alkoven oder sie saß mit einer Flasche Wein am Tisch. Oder sie war nicht allein, was allerdings schon länger nicht mehr vorgekommen war. Heute lag sie, Szenario Nummer vier, zusammengerollt auf der Eckbank, da war sich Aimée sicher. Es war, als wäre das Schlafgewicht ihrer Mutter höher als ihr Wachgewicht und würde das Gefährt zu einer Seite neigen. Als vibrierte der Transit unter ihrem Schnarchen.

Die Tür quietschte, als Aimée sie aufzog und ins schummrige Wageninnere trat. Der Geruch von abgestandenem Dosenessen schlug ihr entgegen, von ungespülten Töpfen, billigem Rotwein, Schweiß, feuchten Klamotten und moderndem Holz. Mit angehaltenem Atem beugte sie sich über die Bank mit ihrer schlafenden Mutter und stieß das Fenster auf. Seit sie schwanger war, ertrug sie die Gerüche hier drinnen noch weniger als sonst.

Marilou rührte sich nicht. Schnell räumte Aimée die leeren Flaschen zusammen, packte den Abfall in einen großen Müllbeutel, die herumliegende Kleidung in den Wäschesack, sie wischte über den Tisch und spülte das Nötigste ab. Dabei sammelte sie alle Rechnungen, Kassenbons und sonstige Belege ein, die sie auf Tisch und Boden, oben auf der Matratze, in den Schränken, im Portemonnaie und unter dem schweren, warmen Körper ihrer Mutter finden konnte. Heute musste sie sich um Marilous Buchhaltung kümmern. Es war Aimée zuwider, in diesem Drecksloch zu kramen – anders konnte sie die höhlenartige Behausung kaum bezeichnen –, aber was wäre die Alternative gewesen?

Per hatte sie neulich beim Abendessen gefragt, was denn passieren könnte, wenn sie mal nicht nach Marilou schauen würde. Was wäre, wenn sie eine Woche oder noch länger nicht bei ihrer alten Kommune aufschlug? Sie hatte darauf keine Antwort gehabt, nur das diffuse Gefühl, dass es dann ein Unglück gab.

Aimée zog ihrer Mutter den einen Schuh vom Fuß und stellte ihn neben den anderen unter die Bank. Als sie sich aufrichtete, mühsam wegen ihres Bauches, blieb ihr Blick an Marilous Gesicht hängen. Normalerweise wandte sie sich sofort ab, weil sie das Fahle, Verquollene im Gesicht ihrer Mutter nicht ertrug. Aber diesmal sah sie nicht weg. Aus irgendeinem Grund glitt ihr Blick über die langen strähnigen Haare, die dunklen Schatten unter ihren geschlossenen Lidern, die gerötete Nase, die feinen Adern auf ihren Wangen, den verschmierten Schönheitsfleck rechts oberhalb der Lippe, den sich Marilou Tag für Tag aufs Neue mit einem Kajalstift aufmalte. Es war, als müsste sich Aimée an diesem ersten Sonntag im August jedes Detail im Gesicht ihrer Mutter sorgfältig einprägen.

Erst als sie noch mit geschlossenen Augen jede Falte und jedes Härchen vor sich sehen konnte, trat sie wieder hinaus ins Freie, mit einem Schluckauf, der nicht ihrer war, einem regelmäßigen Zucken unter ihrer gespannten Bauchdecke, wie ein Herzschlag.

Der See glänzte, die Vögel sangen, ein Buchfink tat sich mit hellem Pfeifen hervor. Aimée lief über die Wiese, umrundete Pers Wagen auf dem Kopfsteinpflaster und schloss das Tor zur Scheune auf.

Staub tanzte im Sonnenlicht, und auch wenn hier schon jahrelang kein Heu mehr lagerte, hingen noch immer feine Reste von trockenen Gräsern in der Luft. Vermischt mit Schimmel, dem Geruch von Räucherstäbchen und speckigem Leder war das für Aimée heute keine gute Mischung. Sie war heilfroh, dass sie nicht mehr hier arbeiten musste. Arbeiten und leben. Schnell lief sie an den Nischen der anderen vorbei und wollte sich gerade Marilous Klapptisch schnappen, als ihr Blick auf eine große Tüte fiel. Für Aimée stand auf einem Zettel, der mit einer Nadel ans Plastik gepinnt war. Und darunter: Vielleicht kannst du das gebrauchen. Take care, my love. Barbara x.

Aimée schaute in die Tüte und lächelte. Barbara hatte ihr ein ganzes Dutzend ausgewaschener Leinenlaken eingepackt. Sicherlich hatte sie die von einer der Haushaltsauflösungen mitgebracht, wo sie bei Kaffee und Kuchen den Geschichten der Hinterbliebenen lauschte. Aimée konnte solche Bauernwäsche bestens gebrauchen. Sie würde sie in Rechtecke zerschneiden und daraus kleine Ballen formen, mit denen sie alte, glanzlose Holzflächen aufpolierte. Baumwolle eignete sich dafür überhaupt nicht, da wurde alles nur fusselig. Barbara war ein Schatz. Aimée kannte sie seit ihrem sechsten Lebensjahr, seit Marilou und sie sich der Trödlerkommune angeschlossen hatten – Barbara und ihren Sohn Daniel. Aimée strich ein paarmal über den kühlen Stoff, bevor sie sich Tüte, Klapptisch und Klappstuhl unter die Arme klemmte, was so gerade eben ging, und mit dem Fuß das Scheunentor aufstieß.

Sie stellte den Tisch direkt vor die Scheune und breitete alles darauf aus: zusammengeknüllte Rechnungen, unleserliche Kassenbons, Quittungen über Kleinstbeträge, die Marilou in ihrer weitschwingenden Handschrift mehr oder weniger korrekt ausgefüllt hatte. Das alte Backsteingemäuer im Rücken legte sich Aimée eine Hand auf den Bauch und spürte der Wärme nach, die tief in ihr war. Noch vier Monate. Sie konnte es kaum erwarten. Zu Hause neben ihrem Bett stand schon die breite Jugendstilwiege, die sie in den letzten Wochen in aller Ruhe aufgearbeitet hatte. Sie rückte sich den Stuhl zurecht und fing an, die Belege zu sortieren.

Die Sonne war höhergewandert und stand jetzt auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, noch immer regte sich kein Lüftchen. Es war ein friedlicher Tag. Ein Tag, wie sie ihn immer gemocht hatte, wenn sie früher ihren Stoffballen, hier vor der alten Scheune, in die Schellacklösung getaucht hatte und Stunde um Stunde über die matte Platte eines Tischs gefahren war.

Aimée hielt eine der Quittungen gegen das Licht, um das Datum zu entziffern, als sich in das Singen der Vögel ein Schnarren mischte, ein kratzender Laut, vielleicht von einem Eichelhäher. Die Vögel in den Bäumen waren unsichtbar, nur die Schwalben flogen kreuz und quer über den See. Aimée richtete sich auf, noch bevor die schwefelgelbe Tür am Ende der Wiese aufgestoßen wurde.

Marilou war wie eine Katze. Sie kam und ging, wann es ihr passte, und wenn sie fiel, landete sie auf den Füßen. In ihrem grauen Batikkleid wankte sie in Richtung See und schwenkte dabei den prall gefüllten Wäschesack.

»Waschtag!« Ihre Stimme klang wie so oft überdreht.

Aimée unterdrückte ein Stöhnen. Diese abrupten Stimmungswechsel ihrer Mutter hatte sie schon viel zu oft erlebt.

Marilou stolperte, fing sich an...