Die Welt der Stoffe

von: Kassia St Clair

Hoffmann und Campe, 2020

ISBN: 9783455006421 , 416 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 19,99 EUR

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Die Welt der Stoffe


 

Frauenarbeit


Und was wurde aus mir, sobald die offizielle Version an Boden gewann? Eine erbauliche Legende. Ein Stock, mit dem andere Frauen geschlagen wurden. Warum konnten sie nicht so rücksichtsvoll sein, so vertrauenswürdig, so alles erduldend, wie ich es gewesen war? Auf diese Linie einigten sie sich, die Sänger, die Garnspinner. Folgt meinem Beispiel nicht, möchte ich in eure Ohren schreien – ja, in eure!

Margaret Atwood, Die Penelopiade, 2005

Gottheiten, die mit der Spinnerei und dem Weben in Verbindung gebracht werden, sind fast ausschließlich weiblich. Neith aus der ägyptischen Mythologie, Athene bei den Griechen, Frigg aus den nordischen Sagen – auch die kriegerischen Walküren webten –, Holda in der germanischen Mythologie; Mama Ocllo bei den Inkas und Tait (auch Tayet geschrieben) in der sumerischen Zeit Mesopotamiens. Die japanische Sonnengöttin Amaterasu webt, wie auch die Weberin aus der chinesischen Mythologie, aber nur, wenn sie von ihrem Mann, dem Kuhhirten, durch die Milchstraße getrennt ist. (Ihre Trennung wird herbeigeführt, damit sie ihre Handarbeit nicht vernachlässigt.)

Geschichten von leidenschaftlichen Fruchtbarkeitsgöttinnen, fingerfertigen alten Weibern und rachsüchtigen Jungfern wurden über Jahrhunderte hinweg täglich von Frauen weitergegeben, durch zahllose Nacherzählungen aufgedröselt und neu zusammengefügt wie Penelopes Gewebe. Märchen wurden gesponnen, dem Nachwuchs in der Dunkelheit zugeflüstert oder in Gesellschaft erzählt, während man zusammensaß und den eigenen Stoff bearbeitete. Das Herstellen von Garnen und Textilien wurde schließlich jahrhundertelang als Frauenarbeit betrachtet. Wahrscheinlich weil es eine Arbeit war, die sich gut mit der Kindererziehung vertrug: Man konnte sie zu Hause erledigen, mit etwas Erfahrung auch nur mit einem Auge, und sie konnte für gewöhnlich jederzeit unterbrochen und wieder aufgenommen werden.

Dennoch war es zeitintensive, handwerkliche Facharbeit, Fasern in Garn zu verwandeln, von vielen Millionen Frauen von Hand ausgeführt, bis sich durch die Industrielle Revolution die Mechanisierung verbreitete. Durch diese und andere mit Stoff verbundene Arbeit, wie die Seidenraupenzucht, versorgten Frauen ihre Familien mit unentbehrlichen Materialien, bezahlten ihre Steuern – die beizeiten in Form von Garn oder fertigem Tuch eingetrieben wurden – und trugen zum Haushaltseinkommen bei. Im Umkehrschluss wurde das benötigte Werkzeug unwiderruflich mit Weiblichkeit assoziiert. Viele Frauen wurden mit ihren Spindeln und Rocken begraben. In der Welt der alten Griechen gab man die Geburt eines Mädchens bekannt, indem ein Büschel Wolle an der Tür des Hauses befestigt wurde. Weniger konkret findet sich diese Assoziation auch in der Sprache. In China lautet ein bekanntes Sprichwort: »Männer pflügen, Frauen weben.« Die traditionelle englische Phrase »the distaff side« (»die Rockenseite«) bedeutet »mütterlicherseits«, wohingegen mit dem Wort »spinster« aus dem 16. Jahrhundert eine alte Jungfer gemeint ist.

Die jahrhundertealte Versippung von Frauen und Stoff kann man als Fluch oder Segen betrachten. Im Shijing, dem Buch der Lieder, einer Sammlung chinesischer Gedichte, die zwischen dem 12. und 7. Jahrhundert v. Chr. entstand, wird anerkennend über die Pflege von Seidenraupen und die Verarbeitung ihrer Fäden zu Seide und Stoff als angemessene Frauenarbeit gesprochen. Viele andere Gesellschaften – wenn auch nicht alle – empfanden das ähnlich. Männer waren (am Stoffgewerbe) oft durch den Anbau und die Ernte faseriger Nutzpflanzen, wie Hanf und Flachs, und die Haltung von Schafen und Ziegen beteiligt. Auch Kinder beiderlei Geschlechts halfen häufig dabei mit, etwa indem sie Wolle sortierten oder den Faden beim Spinnen drehten. Und in manchen Kulturen war es genauso üblich, oder vielleicht sogar noch gängiger, dass Männer webten. Das Arthashastra, ein altindisches Staatsrechtslehrbuch, dessen älteste Teile etwa aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. datieren, ist bei diesem Thema eindeutig: »Das Weben soll von Männern ausgeführt werden.« Frauen war es erlaubt zu spinnen, aber selbst das wurde zähneknirschend begrenzt auf »Witwen, Krüppel, [unverheiratete] Mädchen, allein lebende Frauen, Frauen, die ihre Strafe abarbeiten, Mütter von Prostituierten, alte Dienstmägde des Königs und Tempeltänzerinnen, die nicht mehr im Dienste des Tempels stehen«.

Im alten Griechenland dagegen waren alle Frauen – von Göttinnen über Königinnen bis hin zu Sklavinnen – in die Spinn- oder Webarbeit eingebunden. Das war nach Ansicht der zeitgenössischen Schreiber die Naturordnung.[16]

So eng die Tuchmacherei mit Frauen assoziiert wurde, galt sie für Männer als unglückselig: Jacob Grimm dokumentierte den alten deutschen Aberglauben, dass es ein sehr schlechtes Zeichen sei, wenn ein Mann zu Pferde auf eine spinnende Frau traf; der Mann sollte umkehren und einen anderen Weg nehmen. Vielleicht wurde aus diesem Grund, oder schlicht, weil Männer für gewöhnlich nicht in die Herstellung von Textilien involviert waren, das Endergebnis oft zu gering geschätzt. Freud war in dieser Hinsicht auch keine große Hilfe. »Man meint, daß die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben«, schrieb er in einer Vorlesung zum Thema Weiblichkeit. »Aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens.« Er argumentierte, sie hätten diese Fähigkeit als Reaktion auf ein unbewusstes Schamgefühl und »Penismangel« vervollkommnet: Frauen webten Stoffe, um ihren fehlenden Penis vor dem männlichen Blick zu verbergen. So viel zur Macht einer fixen Idee.[17]

 

Geschickte Spinnerinnen oder Näherinnen waren ein wichtiger, wenn auch oft unterschätzter Teil der Wirtschaft. Assyrische Kaufleute, zum Beispiel, schrieben im 2. Jahrtausend ihren weiblichen Verwandten regelmäßig wegen ihrer Tucharbeit, baten um einen bestimmten Stoff oder ließen sie wissen, was sich gut verkaufte. Lamassï, die Frau eines solchen Kaufmanns, rügte ihren Mann in ihrem Antwortbrief, weil er zu viele Forderungen stellte:

Dein Herz sollte nicht zürnen, weil ich dir nicht die Stoffe geschickt habe, nach denen du verlangt hast. Das Mädchen wurde erwachsen, so musste ich zwei schwere Stoffe herstellen, für die Fahrt auf dem Wagen. Zudem habe ich [welche] für die Mitglieder des Haushalts und die Kinder gemacht. Folglich war ich nicht in der Lage, dir Textilien zu schicken. Alle Stoffe, die ich herstellen kann, werde ich dir mit einer späteren Karawane zukommen lassen.[18]

Die Arbeit mit Stoffen wurde hauptsächlich im Haus ausgeführt – das hielt, so hoffte man, die Frauen beschäftigt und von Ärgernissen fern –, dennoch konnte sie eine Quelle rechtmäßigen Stolzes sein. Der Teppich von Bayeux, um nur ein berühmtes Beispiel zu nennen, wurde wahrscheinlich von englischen Handarbeiterinnen angefertigt, als Erinnerung an den Sieg der Normannen über ihre eigenen Landsleute im 11. Jahrhundert. Es ist ein Werk, das von großem Können und Schönheit zeugt und etwa 58 Einzelszenen im Stil einer Graphic Novel zeigt, auf Leinenbahnen von fast 70 Metern, mit nur acht Kammgarnfarben. Jahrhunderte später erschufen anonyme Spitzenklöpplerinnen barocke Kreationen von schwindelerregender Komplexität. Jede einzelne erforderte eine exakte mathematische Planung, um sicherzugehen, dass die korrekte Anzahl von Spulen im Einsatz war. Viel jüngeren Datums ist die Arbeit von Sonia Delaunay, einer abstrakten Malerin, die Anfang des 20. Jahrhunderts Textilien entwarf. Eines ihrer ersten Stücke, 1911 gefertigt, war »eine dieser Decken, zusammengesetzt aus Stoffstücken, wie ich sie im Haus russischer Bauern gesehen habe«. Das Resultat beschwört die Werke der Kubisten herauf. Ihr Œuvre umfasst Filmkostüme, die Inneneinrichtung einer Boutique, ein Vogue-Cover und Hunderte überwältigende Textilien, so bunt, dass sie fast summen vor Energie. 50 Jahre später begann Faith Ringgold in Zusammenarbeit mit ihrer Mutter üppige, mit Geschichtsdarstellungen geschmückte Quilts herzustellen. (Diese mehrlagigen Steppdecken sind wegen ihrer Wärme und der Fläche, die sie für aufwändige Verzierungen bieten, sehr beliebt; die...