Mein Weg nach Catan

von: Klaus Teuber

LangenMüller, 2020

ISBN: 9783784483665 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Mein Weg nach Catan


 

Mein Berufswunsch-Geist

Mit sieben Jahren hatte ich einen Traum, in dem mir ein Geist erschien. Es war ein traditioneller Geist, wie ich ihn aus meinen Bilderbüchern kannte. Er verbarg seine Gestalt unter einem weißen Tuch mit zwei Augenschlitzen.

Sein Anblick erinnerte mich an meine liebe Großmutter Anna, die meinen Glauben an das Christkind, den Nikolaus und den Osterhasen unabsichtlich mit einem Schlag vernichtet hatte.

Ich war fünf Jahre alt, als sie mir am Weihnachtsabend als Christkind erschien. Meine Großmutter hatte sich einen halb durchsichtigen Stoff übergezogen. Wahrscheinlich hatte sie sich kurzfristig ihrer Gardinen bedient, die sie am nächsten Tag wieder aufhängen würde. Ihre Verkleidung hatte allerdings keine Löcher für die Augen. In den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die meisten Menschen gewiss nicht so viel Geld, wegen eines – wenn auch geliebten – Enkels ihre teuren Gardinen zu ruinieren.

Ich erinnere mich, wie ich das vermeintliche Christkind erstaunt und ehrfurchtsvoll anblickte. Das Christkind war für mich auf die Erde gekommen? Welche Geschenke würde es mir bringen? Erwartungsvoll stand ich da, als es sich zu mir hinunterbeugte und mir einen schmatzenden Kuss durch die Gardine gab. Mein schöner Glaube an das Christkind war mit einem Mal erloschen. So inbrünstig küsste mich nur meine Großmutter Anna. Selbst durch eine Gardine. Und das echte Christkind wäre sicher nicht so füllig gewesen. Damit verpufften auch meine Illusionen vom Osterhasen und vom Nikolaus. Alles Lug und Trug! Wenn auch aus meinem kindlichen Paradies verstoßen, genoss ich dennoch meine Geschenke an diesem Heiligabend.

„Hallo, kleiner Junge“, meldete sich der Geist etwas ungeduldig zu Wort. „Ich bin nicht deine Oma. Ich bin ein wahrhaftiger Geist und du sollst MIR gefälligst zuhören!“

Da der Geist keine Anstalten machte, mich zu küssen, steckte hinter seiner Verkleidung wohl tatsächlich nicht meine liebe Großmutter Anna. „Ja, Herr Geist“, antwortete ich höflich und widmete ihm mit weit offenen Augen meine volle Aufmerksamkeit. Seltsamerweise empfand ich keine Furcht vor ihm. Vielleicht lag es an seiner großväterlichen, vertrauenerweckenden Stimme, vielleicht aber auch daran, dass die Geister in meinen Kinderbüchern immer nur gute Vertreter ihrer Zunft waren.

„Also“, sprach der Geist, „ich bin dein Berufswunsch-Geist. Daher frage ich dich: Was möchtest du denn gern einmal werden?“

Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich überlegte lange. Mir fiel nichts ein. Der Geist räusperte sich. Mir fiel danach auch nicht mehr ein.

Doch dann wusste ich plötzlich, was ich werden wollte! „Lieber Herr Geist, ich möchte ganz schnell groß werden!“ Erwartungsvoll blickte ich die weiße Erscheinung an.

Ich wusste, wenn man groß war, gab es keine Langeweile mehr, die für kleine Jungen und Mädchen meist so unerträglich war.

Ich hatte jedenfalls nie das Gefühl, meine Eltern hätten sich gelangweilt. Beide waren immer rund um die Uhr beschäftigt. Mein Vater hetzte zur Arbeit und kam gehetzt zurück. Meine Mutter kochte freudig mittags und abends die leckersten Speisen, die meinen Vater im Lauf der Nachkriegsjahre zu einem stattlichen Mann heranreifen ließen.

Heute würde man die damalige physische Präsenz meines Vaters schlicht als „zu dick“ bezeichnen. In den 50er-Jahren aber galt Körperfülle als Zeichen des Wohlstands und des Erfolgs. Kein Wunder, denn die Erinnerung an den Krieg, der viele Menschen ihrer Heimstatt beraubte und sie hungern und frieren ließ, war in der Nachkriegszeit in den Köpfen der Menschen noch präsent.

Wenn meine Mutter nicht gerade kochte, putzte oder spülte, umsorgte sie mich. Schließlich war ich ein Einzelkind, auf das sie zwangsläufig alle Fürsorge konzentrierte. Da ich keine Geschwister hatte, mit denen ich mich balgen und streiten konnte, bedankte ich mich für die Fürsorge meiner Mutter mit kleinen Streichen. So hatte ich sicher einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran, dass sie selbst in ihren Koch- oder Putzpausen nie Langweile empfand. Nach einem besonders gelungenen Streich setzte es dann schon mal eine leichte Backpfeife. Die war damals leider noch ein gebräuchliches Erziehungsmittel, half letztlich aber auch gegen Langeweile.

Der Geist hüstelte. „Hallo, kleiner Junge, die Langeweile kleiner Kinder und deine Eltern sind nicht unser Thema. Wenn du brav deine Butter auf dein Brot streichst und es auch isst, wirst du sicher zumindest mittelgroß werden. Aber ich bin dein Berufswunsch-Geist und ‚schnell groß werden‘ ist kein Beruf. Also noch mal: Was möchtest du werden?“

Vergangene Woche war ich mit meinen Eltern am Bahnhof gewesen, die dort eine Freundin abholten. Die vielen Züge, die anhielten, abfuhren oder einfach nur durch den Bahnhof ratterten, hatten mich fasziniert. Gespannt blickte ich den Geist an: „Ich möchte Lokomotivführer werden!“

„Ahhhrg“, stöhnte der Geist, „nicht das schon wieder, das wünschen sich fast alle Buben. Ich bin es so leid, immer denselben Wunsch erfüllen zu müssen. So viele Züge kann es niemals geben, dass so viele Jungen Lokomotivführer werden könnten. Bitte, überleg doch noch mal.“

Der Geist war resigniert in sich zusammengesackt und seine Stimme hatte brüchig und kläglich geklungen. Anscheinend hatte man nicht nur als Kind, sondern auch als Geist von Zeit zu Zeit Langeweile. Ich bekam Mitleid mit ihm und überlegte fieberhaft. Eisverkäufer? Rennfahrer? Fußballer? Das waren alles Berufswünsche, die meine Klassenkameraden ständig aufzählten. Aber würde ich sie äußern, würde der Geist wohl noch weiter verzweifeln.

Ich erinnerte mich an das Kartenspiel „66“, das ich mit meiner Oma Anna gern spielte. Gerade gestern hatten wir die Karten wieder hervorgeholt. Das Spiel war toll und ich wollte es immer und immer wieder spielen. Meine Oma leider nicht. Unter dem Vorwand, das Abendessen zubereiten zu müssen, zog sie sich geschickt aus der Affäre. Ich fügte mich murrend meinem Schicksal. Schließlich hatte sie in den zwei Stunden zuvor schon als geduldige Passagierin eines mit allen in der Wohnung verfügbaren Stühlen und Sesseln nachgebauten Eisenbahnwaggons ihre Pflicht erfüllt. Natürlich war ich der Lokomotivführer und Schaffner in einer Person, der sich äußerst aufopferungsvoll um seinen einzigen Fahrgast kümmerte.

Plötzlich kam es mir so vor, als würde die helle Birne Daniel Düsentriebs, des genialen Erfinders in meinen Comics, über meinem Kopf aufglimmen. Ich hatte eine Erleuchtung. „Herr Geist, ich weiß jetzt, was ich werden will! Spieleerfinder!“

Der Geist zuckte und wurde wieder ein kleines bisschen größer. „Spieleerfinder? Das ist etwas Neues, wirklich etwas Neues“, murmelte er und schaute eine Weile in eine Glaskugel, die – wie aus dem Nichts – vor ihm aufgetaucht war. „Mein lieber Junge, das wird eine große Herausforderung für mich, dich auf deinem Weg zum Beruf des Spieleerfinders zu begleiten. Das wird schwer, sehr schwer.“

„Warum schwer?“, hinterfragte ich. „Ich denke mir etwas aus, bastle ein bisschen und dann spielen alle fröhlich mein Spiel.“

„Wenn das Ausdenken eines Spiels so einfach wäre, wie du glaubst, und jeder einfach mal so ein Spiel erfinden könnte, das die Menschen erfreut, dann würden alle Menschen sehr oft glücklich miteinander spielen. Tun sie das denn?“

Nein, das taten sie nicht, musste ich zugeben.

© privat

Anna Ehrig Anfang der 50er Jahre: die geduldigste und liebevollste Großmutter, die ich mir vorstellen kann.

Meine Eltern spielten kaum. Dazu hatten sie einfach keine Zeit oder nahmen sich keine. In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts galt es aufzubauen, Wohlstand zu mehren und die Gräuel des vergangenen Krieges zu vergessen. Spielen wurde den Kindern überlassen, die manchmal – wenn sie Glück hatten – eine liebende, aufopferungsbereite Großmutter oder einen gutmütigen Großvater zum Mitmachen überreden konnten.

„Also fangen wir an, dich auf deinen Weg zum Beruf des Spieleerfinders vorzubereiten“, dozierte der Geist. „Zunächst musst du träumen lernen, um kreativ sein zu können.“ Der Geist zögerte einen Moment. „Entschuldige, kleiner Junge, sicher verstehst du nicht, was ‚kreativ‘ bedeutet. Ich meine mit ‚kreativ‘, du musst lernen, in deinen Gedanken ins Jenseits des Alltäglichen zu reisen, um Unbekanntes zu entdecken.“

„Träumen kann ich schon“, erwiderte ich stolz. „Gestern habe ich mein erstes Zeugnis erhalten. Dort steht drin: ‚Klaus träumt sehr oft. Seine Leistungen leiden darunter.‘ Das ist doch ein erstklassiges Zeugnis für einen angehenden Spieleerfinder“, triumphierte ich.

Tatsächlich bekam ich in der ersten Klasse nicht viel vom Unterricht mit. Oft sah ich aus dem Fenster und sinnierte über die Comics, die ich gelesen hatte. Comics wie Tarzan, Falk oder Sigurd. Ich malte mir aus, wie meine Helden im nächsten Band agieren könnten. Oder ich fantasierte, wie ich die Feinde noch heldenhafter in die Flucht geschlagen hätte.

Manchmal überlegte ich auch nur ganz profan, wie ich auf dem Nachhauseweg von der Schule am besten den Rabauken ausweichen konnte, die es ganz besonders auf kleine Jungs abgesehen hatten, die gern träumten. Offenbar waren meine Überlegungen hilfreich, denn verprügelt wurde ich nie.

Der Geist unterbrach meine Gedanken: „Hey Junge, du hast ja schon ganz glasige Augen! Wach auf! Du hast mich überzeugt. Offenbar kannst du sogar im Traum...