Rechtsphilosophie zur Einführung

von: Alexander Somek

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601166 , 230 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 12,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Rechtsphilosophie zur Einführung


 

Rechte und Pflichten


III. Die Formen subjektiver Rechte


§ 23. Willkür und Recht

Die Willkürfreiheit ist die Freiheit, etwas zu tun, zu unterlassen oder sogar anzuordnen, ohne umfassenden moralischen Rechtfertigungsanforderungen genügen zu müssen.

Der Genuss dieser Freiheit wird als Ausübung von subjektiven Rechten verstanden. Deswegen haben Rechte – nach weitverbreiteter Auffassung – eine sogenannte peremptorische Wirkung. Wenn eine Person ihr Recht ausübt, dann kann man sie nicht unter Hinweis darauf daran hindern, sie dürfe dies nicht tun, weil es unzweckmäßig, unweise, keck oder unmoralisch sei. Gründe der Klugheit oder der moralischen Rücksichtnahme, die gegen die Rechtsausübung sprechen mögen, sind irrelevant, solange sich jemand im Rahmen dessen bewegt, wozu er oder sie ein Recht hat.

Der im Rechtsverhältnis enthaltene Schritt über das bloße moralische Urteil hinaus bleibt im Begriff des subjektiven Rechts also erhalten. Gleichwohl gilt auch hier, dass die Idee gleicher Rechte moralisch gehaltvoll ist. Moralische Argumente sind für die Abgrenzung von Rechten durchaus relevant, auch wenn sie letztlich in eine Entscheidung münden müssen (siehe dazu im ersten Kapitel).

§ 24. Das Recht auf alles

Welche Rechte haben wir?

Am Ausgang aus der reflexiven Universalisierung sind wir bei einer Situation angelangt, in welcher der eine sein Einräumen oder Nachgeben vom Einräumen oder Nachgeben des anderen abhängig macht: »Ich will, was du willst, wenn du willst, was ich will.«

Dabei sind wir vorläufig stehen geblieben. Das wechselseitig bedingte Einräumen sieht nach einer Pattsituation aus. Indessen gibt es eine Lösung. Sie besteht aus dem Recht auf alles. Dieses lässt sich gegenseitig einräumen. Unter seinem Vorzeichen ist jedem alles erlaubt und nichts verboten oder geboten.

§ 25. Ein Recht auf nichts?

Das Recht auf alles macht seinen berühmten Auftritt in der politischen Philosophie von Thomas Hobbes (1588–1679). Dieses Recht sieht Hobbes in der natürlichen Freiheit der Menschen begründet, ihre eigene Macht zur Erhaltung ihres Lebens nach Belieben zu gebrauchen.

Das Recht auf alles ist das Recht, sich alles zu nehmen, was man nach seinem eigenen Urteil benötigt, also auch, nach Hobbes, »den Körper eines anderen«. Allerdings hat auch jeder andere das gleiche Recht. Folglich ist das Recht auf alles ein Recht, das den Genuss der Güter, in deren Besitz man sich versetzt, nicht garantieren kann. Mein Recht auf alles erlaubt es mir, allen anderen alles wegzunehmen. Ihnen gestattet wiederum ihr gleiches Recht auf alles, dasselbe im Verhältnis zu mir zu tun. Niemand kann sich seiner Güter sicher sein. Jedem darf alles genommen werden.

§ 26. Erlaubnisse bzw. Freiheiten

Man mag einwenden, beim Recht auf alles handle es sich um kein Recht. Aber dem ist nicht so. Es ist bloß kein Recht auf etwas. Ein solches Recht würde die Pflicht anderer implizieren, meine Kontrolle über dieses etwas respektieren zu müssen.

Gleichwohl bringt das Recht auf alles die gegenseitige Anerkennung von Willkür zum Ausdruck. Der Starke sagt zum Schwachen »Hol’ dir, was dir zusteht, wenn du kannst!«

Es basiert auf der wechselseitig zugestandenen Erlaubnis, sich alles nehmen zu dürfen. Die Willkür wird ohne Einschränkung anerkannt. Dem Recht auf alles korrespondiert keine Pflicht, einen einmal entstandenen Besitzstand zu respektieren.

Der amerikanische Rechtstheoretiker Wesley Newcomb Hohfeld (1879–1918) hat die Struktur von Rechten dieser Art hellsichtig unter dem Titel privilege analysiert. Im Deutschen können wir sie als »Erlaubnisse« oder als »Freiheiten« bezeichnen. Jemand ist rechtlich frei, etwas zu tun, wenn das Tun weder geboten noch verboten ist. Aber niemand anderer muss darauf verzichten, den Berechtigten an der Ausübung seiner Freiheit de facto zu hindern. Jeder Schachspielerin steht es frei, ihre Gegnerin zu besiegen. Aber diese darf das mit fairen Mitteln verhindern und selbst gewinnen.

§ 27. Wettbewerb

Das Recht auf alles ist nicht die einzige Erlaubnis. Das Recht, andere zu schädigen, indem man mit ihnen konkurriert, gehört ebenfalls dazu. Wer Mitbewerber durch bessere Leistungen aus dem Feld schlägt, tut nichts Unerlaubtes. Natürlich dürfen die anderen ihm jederzeit dasselbe antun. Das Common Law spricht in diesem Zusammenhang von einem Schaden, der durch erlaubte wirtschaftliche Konkurrenz entsteht (damnum absque injuria).

Allerdings ist es so, dass Erlaubnisse oftmals durch Rechte (auf etwas) indirekt geschützt werden. Der Konkurrent darf seinen Mitbewerber weder einsperren noch verprügeln. Diesen indirekten Schutz von Erlaubnissen bezeichnete H. L. A. Hart (1907–1992) als deren protective perimeter.

§ 28. Erlaubnisse, Rechte auf etwas, Ermächtigungen und Immunitäten

Mit seinen einschlägigen Analysen hat Hohfeld mehr geleistet, als bloß die Erlaubnis zu analysieren. Er hat die Struktur von Rechtsverhältnissen generell durch die Spiegelung der Position des einen in die Position des anderen charakterisiert.

Wenn jemand ein Recht auf etwas hat, dann sind andere ihm gegenüber zu (diesem) Etwas verpflichtet. Mit dem Begriff dieses Rechts (des Rechts im engeren Sinn) ist mitgedacht, dass es dem Rechtsinhaber selbst überlassen bleibt, das Recht gegenüber dem Verpflichteten auch geltend zu machen. Deswegen hat Hans Kelsen (1881–1973) das subjektive Recht als Kompetenz verstanden (als eine »Rechtsmacht«, siehe dazu sogleich unten). Wer ein Recht hat, kann die Erfüllung einer bestehenden Pflicht geltend machen. Der Inhaber des Rechts mag darauf verzichten oder sich verschweigen.

Daraus erklärt sich die Attraktivität der sogenannten »Willenstheorie« der subjektiven Rechte, der üblicherweise die »Interessentheorie« gegenübergestellt wird. Nicht nur verleihen Rechte die Freiheit der Wahl im Rahmen wenigstens einer Handlungsalternative (»geltend machen oder nicht?«), sie verleihen auch eine Art Rechtsetzungsbefugnis (»Jetzt wird die Forderung fällig gestellt«, »Jetzt fechte ich die Entscheidung an und initiiere damit ein Verfahren«). Nach der Interessentheorie sind subjektive Rechte in den Interessen und Zwecken begründet, denen sie dienen. Die Willkür ist bloß das Mittel, die Zweckverfolgung zu garantieren. Rudolf von Jhering (1818–1892) spricht das deutlich aus:

Die Rechte sind nicht dazu da, um die Idee des abstrakten ›Rechtswillens‹ zu verwirklichen, sondern um den Interessen, Bedürfnissen und Zwecken des Verkehrs zu dienen. […] [D]ie Rechte gewähren nichts Unnützes, der Nutzen, nicht der Wille ist die Substanz des Rechts. (Rudolph von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 3, 5. Aufl., Leipzig 1906, 338, Hervorhebung getilgt)

Die Kontroverse um die richtige »Theorie« der subjektiven Rechte ist alt. Auf der Seite der Willenstheorie finden sich Vertreter wie Bernhard Windscheid (1817–1892) und John Austin (1790–1851), auf der Seite der Interessentheorie Autoren wie Jeremy Bentham (1748–1832), Rudolph von Jhering und Joseph Raz (*1939).

Das Etwas, zu dem ein Recht einerseits berechtigt und andererseits verpflichtet, ist stets eine Handlung (ein Tun oder ein Unterlassen). Auch mein Recht auf Eigentum verpflichtet nicht die Sache, sondern alle anderen, denen geboten ist, mein Verfügen über die Sache zu achten.

Eine Kompetenz ermächtigt dazu, die Rechtsposition anderer (oder die eigene, etwa durch Verzicht) zu verändern. Die Person, deren Rechtsposition durch einen anderen bestimmt werden kann, ist dieser Person im Hinblick auf diese Bestimmungsmöglichkeit unterworfen. So übt, wer ein Dauerschuldverhältnis kündigt, ein Gestaltungsrecht aus. Dieses ist eine Kompetenz. Der Vertragspartner, der mit dem Ende des Schuldverhältnisses konfrontiert ist, ist dem Wollen des anderen auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Die Terminologie ist übrigens höchst uneinheitlich (»Rechtsmacht«, »Befugnis«, »rechtliches Können«, »Gestaltungsrecht«). In der Sache geht es aber stets um die Ermächtigung zur Normsetzung.

Eine Immunität ist die Freiheit von der Macht anderer, eine Rechtsposition verändern zu können. Die ihr spiegelgleiche Position ist das Unvermögen, etwas zu ändern.

Mithilfe dieses Schemas lässt sich präzise angeben, was wir jeweils unter einem subjektiven Recht verstehen. So sind Grundrechte über weite Strecken bloße Erlaubnisse. Ich darf jeden Beruf ergreifen. Das bedeutet aber nicht, dass andere nicht mit mir um...