Theorien der Intersektionalität zur Einführung

von: Katrin Meyer

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960601067 , 180 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 12,99 EUR

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Theorien der Intersektionalität zur Einführung


 

Einleitung


Im Jahr 1851 erkämpfte sich die ehemalige Sklavin Sojourner Truth bei einem Treffen der Women’s Rights Convention in Ohio gegen den Widerstand weißer Feministinnen im Saal das Rednerpult und fragte ins Publikum: ›Ain’t I a woman?‹ Bin ich nicht eine Frau? Sie sei zwar als Sklavin von den weißen Sklavenhaltern nie wie die weißen Frauen im Herrenhaus auf Händen getragen worden und sie habe genauso hart arbeiten müssen wie ihre männlichen Mitsklaven, aber, so ihr Fazit: Bin ich nicht eine Frau? Diese Frage und die Bedeutung, die Truth ihrer Erfahrung als ehemalige Sklavin in den USA in einer feministischen Öffentlichkeit gab, kann als eine der Geburtsstunden intersektionaler Theorie avant la lettre bezeichnet werden. In der Intervention von Truth kommen zwei Motive zusammen, die für Intersektionalitätstheorien bis heute entscheidend sind: Zum einen machte sie auf die Tatsache aufmerksam, dass sich rassistische Strukturen wie das US-amerikanische Sklavereisystem und patriarchale Strukturen, die Frauen sexistischer Diskriminierung unterwerfen, historisch verbinden und Menschen, die in dieses Herrschaftsgefüge eingebunden sind, unterschiedlich diskriminieren und privilegieren. Zum anderen forderte Truth emanzipatorische Bewegungen wie den Feminismus dazu auf, diese unterschiedlichen Erfahrungen in ihre Theorien und Politiken zu integrieren. Die Kritik an den blinden Flecken und Ausschlüssen feministischer Theorien und die Fundierung dieser Kritik in der persönlichen Erfahrung von mehrdimensional diskriminierten Frauen waren wichtige Voraussetzungen dessen, was wir heute als Intersektionalitätstheorien bezeichnen.

Intersektionalitätstheorien, so eine erste und knappe Definition, analysieren, kritisieren und überwinden eindimensionale Perspektiven auf gesellschaftliche Macht. Die Intersektionalitätsforschung untersucht, wie unterschiedliche Herrschaftsstrukturen nach Geschlecht, ›Rasse‹, Klasse, Sexualität und vielem mehr in einer Gesellschaft zusammenwirken, wie sie das Leben von Individuen und Gruppen unterschiedlich prägen, wie sie unterschiedlich sichtbar sind und wie emanzipatorische Theorien und Praktiken daran mitwirken, intersektionale Erfahrungen und Machtformationen unsichtbar zu halten.

Das vorliegende Buch führt ein in die Geschichte und die aktuelle Ausrichtung von Intersektionalitätstheorien und erläutert deren grundlegende Dimensionen. Der Begriff der Theorie wird dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden. Er steht für vielfältige Ansätze und Perspektiven, die sich theoretisch mit Fragen zur Intersektionalität auseinandersetzen, ohne dass sich daraus ein einheitliches und systematisch geschlossenes Theoriegebäude ableiten lässt. Dabei ist hier auch nicht entscheidend, ob die theoretischen Ansätze mit dem Begriff der Intersektionalität arbeiten oder ob sie andere Begriffe entwickeln, um Verbindungen und Wechselwirkungen von Machtstrukturen zu bezeichnen und die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Menschen sichtbar zu machen. Entscheidend ist vielmehr die Perspektive auf die Verschränkung von Machtstrukturen und das Interesse, diese Verschränkung analytisch zu erfassen und zu benennen, um sie kritisieren und überwinden zu können. Ziel dieses Buches ist es, den Stand dieser aktuellen Diskussionen zur Intersektionalität abzubilden und die zentralen Anliegen von Intersektionalitätsansätzen einführend zu vermitteln.1 Zu diesen gehört es, so die These des Buches, durch die Kritik an eindimensionalen Analyseperspektiven herrschende Sichtweisen auf Macht infrage zu stellen und theoretische Konzepte und gesellschaftliche Verhältnisse so zu verändern, dass sie gerechter werden und Herrschafts- und Gewaltverhältnisse überwinden können. Das Konzept der Intersektionalität ermöglicht die kritische Wahrnehmung von Ungleichheit und Diskriminierung, Ausschluss und Marginalisierung mit dem Ziel, die Rechtsgleichheit aller Menschen, die Anerkennung von Differenz und die gesellschaftliche Solidarität zu befördern. Dieser Einführungsband will dieses kritisch-transformative Potenzial des Intersektionalitätskonzepts in seinen Möglichkeiten und seinen Grenzen vermitteln und die Bedeutung der intersektionalen Perspektive für die aktuelle Machtkritik aufzeigen.

Die Entstehung intersektionaler Perspektiven

Die Entwicklung einer intersektionalen Perspektive auf Machtverhältnisse wurde maßgeblich durch feministische und antirassistische Bewegungen in den USA im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Wirkmächtig wurden diese Denkansätze besonders in den 1980er Jahren, als Women of color in den USA, aber auch in Europa öffentlich thematisierten, wie sie durch Rassismus, (Hetero-)Sexismus und ökonomische Marginalisierung diskriminiert werden, im feministischen Mainstream unsichtbar sind und in Antidiskriminierungspolitiken übergangen werden. Diese Marginalisierung vergleicht die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Kimberlé W. Crenshaw in ihrem Text Demarginalizing the Intersection of Race and Sex von 1989 mit der Situation eines Verkehrsopfers, das an einer Kreuzung (intersection) von Fahrzeugen, die aus verschiedenen Richtungen kommen, verletzt wird. Diese Metapher prägte den Begriff der Intersektionalität und gab dieser Theorierichtung den Namen. Er steht metaphorisch für den Anspruch, die komplexen Diskriminierungserfahrungen von Menschen zu erfassen, die am Schnittpunkt von Geschlecht, ›Rasse‹, Ethnizität, Klasse, Sexualität und anderen sozialen Machtstrukturen mehrfach marginalisiert werden.

Seit den 1990er Jahren entwickeln sich intersektionale Analyseperspektiven in sehr unterschiedliche Richtungen. Intersektionalität wird heute in verschiedenen Forschungsfeldern und mit unterschiedlichen Forschungsfragen und Methodologien untersucht. Dieser Einführungsband wird sich darauf konzentrieren, die grundlegenden Anliegen der Intersektionalitätsforschung verständlich zu machen und ihr emanzipatorisches Potenzial freizulegen.

Das transformative Potenzial der Intersektionalitätsperspektive

Alle theoretisch bedeutsamen Beiträge zur Intersektionalität, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind einem emanzipatorisch motivierten, kritisch-transformativen Anspruch verpflichtet. Leitend ist dabei die Einsicht, dass Machtkritik sowie Diskurs- und Wissenskritik zusammengehören. So schreibt Kimberlé Crenshaw zwanzig Jahre nach Erscheinen ihres berühmten Aufsatzes von 1989, es sei ihr in diesem Text nicht nur darum gegangen, den Nachweis zu erbringen, dass Rechtsansprüche von Schwarzen Frauen marginalisiert werden, sondern vor allem darum, das dominante Konzept von Diskriminierung infrage zu stellen und zu überwinden (Crenshaw 2011b: 229). Auch die Soziologinnen Floya Anthias und Nira Yuval-Davis betonen in ihrem Buch Racialiced Boundaries von 1992, dass gesellschaftliche Exklusion und Unterwerfung nur bekämpft werden können, wenn die Rassisierung und Ethnisierung von sozialen Gruppen im Kontext von Geschlecht und Klasse analysiert und konzeptionell neu verstanden werden (Anthias/Yuval-Davis 1992: 198). Die Intersektionalitätstheoretikerin Ange-Marie Hancock fordert entsprechend, Intersektionalitätsforschung müsse so betrieben werden, dass sie eine »paradigmatische« Wirkung entfalte, indem sie neue Fragen und Antworten auf Fragen ermöglicht, die vorher undenkbar waren (Hancock 2015: 2981). Vivian M. May bezeichnet diesen Aspekt der Intersektionalität als »resistant imaginary«, das in das historische Gedächtnis interveniert und die dominante soziale Imagination durchbreche »by thinking ›otherwise‹« (May 2015: 34). Anders zu denken bedeutet also, dass sich dem kritischen Denken neue Fragen stellen, weil alte Sichtweisen und Konzepte fragwürdig werden.

Das transformative Potenzial des Intersektionalitätskonzepts bezieht sich demnach auf praktische wie auf theoretische Veränderungen. Transformativ ist eine kritische Analyseperspektive nicht nur, wenn sie gesellschaftliche Machtverhältnisse in emanzipatorischer Absicht überwinden will, sondern auch, wenn sie das theoretische und begriffliche Instrumentarium verändert, mit dem die Gesellschaft traditionellerweise interpretiert, erklärt und angeeignet wird. Theorien der Intersektionalität können dieses Potenzial aktualisieren, wenn sie durch kritische Analysen erkennbar machen, was in herrschenden Diskursen und Praktiken verborgen und unausgesprochen bleibt, und wenn sie damit zu einer Veränderung der Denk- und Wissensformen beitragen.

Nicht jede Intersektionalitätsforschung beansprucht im gleichen Maß, kritisch und transformativ zu sein. Der transformative Anspruch fehlt in identitätsorientierten Ansätzen, in denen es lediglich darum geht, die Vielfalt von sozialen Identitäten sichtbar zu machen und anzuerkennen. Er fehlt auch in liberalen, policy-orientierten Ansätzen, deren primäres Ziel es ist, marginalisierte Menschen in bestehende gesellschaftliche Institutionen zu integrieren. Diese Ansätze sind zwar kritisch gegenüber gesellschaftlichen Ausschlüssen, ihr transformatives Potenzial ist aber gering. Denn so wie es aus feministischer Perspektive...