Jacques Derrida zur Einführung

von: Susanne Lüdemann

Junius Verlag, 2019

ISBN: 9783960600978 , 199 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 11,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Jacques Derrida zur Einführung


 

Vorwort: Derridas Erbe


»Eines ist es, Meinungen der
Philosophen festzustellen und zu beschreiben.
Ein ganz anderes ist es, das, was sie
sagen, und das heißt das, wovon sie sagen,
mit ihnen durchzusprechen.«
Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?

»Wir müssen irgendwo, wo immer
wir sind, beginnen […]. Irgendwo, wo immer
wir sind
: schon in einem Text, in dem wir
zu sein glauben.« (G 280-81)

Als Jacques Derrida im Oktober 2004 in Paris starb, war er eine Art philosophischer Medienstar. Seine Vorlesungen an der École Normale Superieure, später an der École des Hautes Études en Sciences Sociales waren eine Institution, zu der Hörer aus aller Welt in den übervollen Hörsaal drängten. Wenn er über Themen wie »Politiken der Freundschaft« oder »Fragen der Verantwortung« las, war sein Pult stets von einer Batterie von Tonbandgeräten umgeben, die jedes seiner Worte aufzeichneten. Sein Werk ist in vierzig Sprachen übersetzt. Er hatte Gastprofessuren und hielt Vorträge in aller Herren Länder, bekam von fünfundzwanzig Universitäten die Ehrendoktorwürde verliehen und gab zahlreiche Interviews zu Fragen der Philosophie und des Zeitgeschehens. Es gibt sogar zwei Filme über ihn, die, des Publikumsinteresses sicher, neben dem Philosophen auch den Privatmann Derrida und seine Biografie in Szene setzen.

Diese Publizität ist für einen Philosophen, selbst für einen so schreibfreudigen wie Jacques Derrida, ungewöhnlich. Einerseits sind die Zeiten, in denen die Philosophie im öffentlichen Bewusstsein die Rolle einer Leitwissenschaft spielte, vorbei – Antworten auf ›letzte Fragen‹ erhofft man sich heute eher von den Bio- oder Neurowissenschaften. Andererseits steht die Popularität Derridas in umgekehrtem Verhältnis zum Schwierigkeitsgrad seiner Texte. Zwar wurde »Dekonstruktion« in den 1980er und 1990er Jahren zum modischen Theorielabel, jedoch gab es nur wenige, die die darunter befassten Texte wirklich lasen. In gewisser Weise war die mediale Aufmerksamkeit der Rezeption seiner Texte sogar hinderlich, gab sie doch, besonders in Deutschland und in Amerika, immer wieder Anlass, den Autor als modischen Scharlatan, seine Sache als rhetorisches Blendwerk abzutun – und sich so die eigene Lektüre gleich ganz zu sparen.

Diese Einführung hat dagegen nicht die Absicht, die Lektüre der Texte Derridas zu ersparen oder zu ersetzen. Eine solche Absicht wäre aus mindestens zwei Gründen verfehlt: Zum einen ist das Korpus der Texte, die unter diesem Autornamen – Jacques Derrida – erschienen sind, zu umfangreich, um in einer Einführung in extenso dargestellt, kommentiert oder gar zusammengefasst zu werden. Es umfasst, je nach Zählung, zwischen fünfundzwanzig und vierzig Bücher, mehrere Sammlungen von Essays und unzählige Einzelpublikationen – von den Tausenden Seiten des Nachlasses, die noch unpubliziert im Critical Theory Archive der University of California in Irvine liegen, ganz zu schweigen (die ersten beiden nachgelassenen Seminarbände sind unter dem Titel La bête et le souverain 2008 und 2010 bei Galilée in Paris erschienen). Zum anderen verbietet sich ein solches synoptisches Verfahren hier aber auch aus Gründen, die bereits mit der ›Sache selbst‹ zu tun haben. Wer einmal durch die Schule des Lesens gegangen ist, die die Dekonstruktion zumindest auch, wenn nicht sogar vor allem anderen ist, kann nicht mehr meinen, dass die Lektüre eines Textes sich durch die Lektüre seines Kommentars, wie immer kenntnisreich, gelehrt und durch die Autorität akademischer Weihen abgesichert er sei, ersetzen ließe. Die klassische Figur des Kommentars – noch einmal zu sagen, was der Autor schon gesagt oder gemeint hat, nur womöglich kürzer, systematischer, klarer – ist ›nach Derrida‹ nicht mehr haltbar, es sei denn um den Preis der Verkennung dessen, wovon er, der Kommentar, zu sprechen vorgibt (vgl. dazu unten S. 77f.).

Diese Einführung hat daher auch nicht die Absicht, andere Einführungen zu ersetzen, die ihre eigenen Rechte und Verdienste haben. Sie versucht stattdessen, der Leserin/dem Leser einen eigenständigen Zugang zu Derridas Werk zu ermöglichen, indem sie die Zugänge nachzeichnet, die die Verfasserin selbst über die Jahre zu diesen Texten gefunden hat. Diese Zugänge werden immer bestimmte unter anderen möglichen gewesen sein, Spuren einer Lektüre, die von den Zufällen einer akademischen und persönlichen Geschichte gezeichnet bleibt. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, wenn Lesen heißt, eine »signifikante Struktur« zu erstellen, »die von der Lektüre erst produziert werden muß« (G 273; vgl. dazu unten S. 64f.).

Gleichwohl ist dieses kleine Buch nicht ohne Rücksicht auf jene geschrieben, für die es bestimmt ist. Das sind in erster Linie Studierende der Humanwissenschaften, darüber hinaus aber auch alle philosophisch und politisch Interessierten innerhalb und außerhalb der Akademie, die ›Einstiegshilfen‹ brauchen – Begriffserklärungen, die Erläuterung von Voraussetzungen und das Aufzeigen von geschichtlichen und thematischen Zusammenhängen, die nicht auf der Hand liegen. In diesem Sinne versucht es, zwischen dem Feststellen und Beschreiben von »Meinungen« einerseits und dem ›Durchsprechen‹ des Gesagten andererseits die Waage zu halten.

Das ›Durchsprechen‹ – in diesem Fall (und vielleicht immer) eher ein ›Durchschreiben‹ oder ein ›Durcharbeiten‹ im Sinne Freuds – ist, gemäß einer Einsicht Jacques Derridas, eine Form des Erbens, das heißt eine Form der Aneignung und Weitergabe von Überliefertem. Seinem Ruf als ›Nihilist‹ und ›Traditionszerstörer‹ zum Trotz hat niemand so oft wie Derrida betont, dass wir Erben sind, Erben einer philosophischen und politischen Tradition, für die wir die Verantwortung zu übernehmen haben. Dieses Erbe ist jedoch niemals einfach lesbar, es ist heterogen, in sich widersprüchlich und zerklüftet. »Ein Erbe versammelt sich niemals«, heißt es in Marx’ Gespenster von 1993,

»es ist niemals eins mit sich selbst. Seine vorgebliche Einheit, wenn es sie gibt, kann nur in der Verfügung bestehen, zu reaffirmieren, indem man wählt. Man muß, das heißt: Man muß filtern, sieben, kritisieren, man muß aussuchen unter den verschiedenen Möglichkeiten, die derselben Verfügung innewohnen. […] Wenn die Lesbarkeit eines Vermächtnisses einfach gegeben wäre, natürlich, transparent, eindeutig, wenn sie nicht nach Interpretation verlangen und diese gleichzeitig herausfordern würde, dann gäbe es niemals etwas zu erben. [Hervorhebung S. L.] Man würde vom Erbe affiziert wie von einer Ursache – natürlich oder genetisch. Man erbt immer ein Geheimnis – ›Lies mich!‹ sagt es, ›Wirst du jemals dazu imstande sein?‹« (MG 36)

Das gilt auch für das Erbe Derridas, ein immenses Korpus von Texten, die sich der Einheit des Buchs (oder dem Buch als Einheit, als ›Werk‹) nicht fügen. Themen werden exponiert, variiert, fallen gelassen, um an anderer Stelle, in einem anderen Vortrag oder Buch wieder aufzutauchen und erneut bearbeitet, verwandelt, weitergedacht zu werden. Ein Buch entsteht aus der Fußnote eines ›anderen‹ Textes oder wird zur Vorrede eines Buches, das erst noch zu schreiben wäre. Dieses Experimentieren mit Textformen ›hat‹ insofern ›Methode‹, als es den philosophischen Begriff der Methode als ein schrittweise deduzierendes Vorgehen zur Erkenntnis der Wahrheit auf aktive Weise negiert (aus Gründen, über die zu sprechen sein wird). Derridas Werk ist kein System von Thesen, das sich gemäß der Logik einer Entwicklung von A nach B rekonstruieren ließe. Es gleicht mehr einem offenen Netz von Verweisungen, einem »Gewebe von Spuren« (SD 443), einem Schreib- und Denk-Raum, in dem Lektüren sich überlagern, Motive einander antworten, Linien der Interpretation sich treffen, ihre Richtung ändern und wieder auseinanderlaufen. Dieser Schreib- und Denk-Raum ist in gewisser Weise der Raum der Tradition selbst, als dessen Erbe Derrida sich verstand und in den er sich einschrieb, und zwar in erster Linie als Leser. Mit Derrida wird Lesen (Lesen als Erben und Erben als transformierende Weitergabe) zur philosophischen Praxis schlechthin. Es ist daher ein wesentliches Ziel dieser Einführung, zu klären, was Lesen, im dekonstruktiven Sinn des Wortes, heißt. Es liegt in der Natur der Sache (sofern die Verfasserin ihr folgt), dass dies wiederum nur lesend geschehen kann. Auch aus diesem Grund wird im Folgenden der exemplarischen Lektüre von Texten vor dem Versuch einer Gesamtdarstellung (dem Schreiben über … oder dem »Beschreiben von Meinungen«) der Vorzug gegeben. Ein Kompromiss mit der klassischen Form der Einführung ist freilich insofern angestrebt, als die Chronologie gewahrt...