Die drei Schwestern - Das Leben der Geschwister Soong und Chinas Weg ins 21. Jahrhundert

Die drei Schwestern - Das Leben der Geschwister Soong und Chinas Weg ins 21. Jahrhundert

von: Jung Chang

Blessing, 2020

ISBN: 9783641212230 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 19,99 EUR

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Die drei Schwestern - Das Leben der Geschwister Soong und Chinas Weg ins 21. Jahrhundert


 

Einleitung

Das wohl bekannteste moderne chinesische »Märchen« ist die Geschichte der drei Schwestern aus Shanghai, geboren Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Familie hieß Soong, war wohlhabend, bekannt und zählte zur Oberschicht der Stadt. Die Eltern waren fromme Christen, ihre Mutter gehörte dem angesehensten Clan an, dem der Xu, nach dem ein Bezirk Shanghais benannt ist, und ihr Vater war der erste Chinese, der im Süden der Vereinigten Staaten von Methodisten bekehrt wurde. Die drei Töchter der Familie Soong – Ei-ling (»liebenswürdiges Zeitalter«, 1889 geboren), Ching-ling (»glorreiches Zeitalter«, 1893 geboren) und May-ling (»schönes Zeitalter«, 1898 geboren) – wurden als Kinder in die Vereinigten Staaten auf die Schule geschickt, was damals sehr ungewöhnlich war. Jahre später kehrten die Mädchen nach China zurück und sprachen besser Englisch als ihre Muttersprache. Mit ihrer zierlichen Statur und einem kantigen Kinn entsprachen sie nach traditionellen Standards nicht dem gängigen Schönheitsideal; ihre Gesichter hatten nicht die Form von Melonensamen, die Augen glichen nicht Mandeln, und die Augenbrauen bildeten keine eleganten Bögen. Aber sie hatten eine sehr zarte Haut, feine Gesichtszüge und eine anmutige Haltung, die sie durch modische Kleidung zusätzlich zu betonen verstanden. Die Schwestern hatten die Welt gesehen, sie waren klug, eigenständig und selbstsicher. Sie hatten »Klasse«, wie man heute sagen würde.

Was sie letztlich zu modernen chinesischen »Prinzessinnen« machte, waren ihre außergewöhnlichen Eheschließungen. Ein Mann, der sich zuerst in Ei-ling und dann in Ching-ling verliebte, war Sun Yat-sen, der Vorreiter der republikanischen Revolution, die im Jahr 1911 die Monarchie stürzte. Der als der »Vater (des republikanischen) Chinas« bekannte Sun wird in der gesamten Chinesisch sprechenden Welt bewundert. Ching-ling wurde seine Frau.

Sun starb im Jahr 1925, und sein Nachfolger, Chiang Kai-shek, machte May-ling, der Kleinen Schwester, den Hof und heiratete sie. Chiang bildete im Jahr 1928 eine nationalistische Regierung und regierte in China, bis ihn die Kommunisten 1949 zwangen, sich nach Taiwan zurückzuziehen. Die Kleine Schwester war während der zwanzig Jahre, die ihr Mann an der Macht war, die First Lady des Landes. Im Zweiten Weltkrieg, als Chiang den chinesischen Widerstand gegen die japanische Invasion anführte, wurde sie zu einer der berühmtesten Frauen ihrer Zeit.

Ihre älteste Schwester Ei-ling, die Große Schwester, heiratete H. H. Kung, der, dank der Beziehungen seiner Frau, viele Jahre lang die Posten des Regierungschefs und Finanzministers bekleidete. Diese Ämter halfen wiederum Ei-ling bei ihrem Aufstieg zu einer der reichsten Frauen Chinas.

Die Familie Soong, die neben den drei Töchtern auch drei Söhne hatte, bildete den engeren Kreis von Chiang Kai-sheks Regime, mit Ausnahme von Ching-ling, der Witwe Sun Yat-sens, die sich den Kommunisten anschloss, weshalb man sie gelegentlich auch die Rote Schwester nannte. Somit trennten zwei antagonistische politische Lager die Schwestern. Im Bürgerkrieg, der auf den Zweiten Weltkrieg folgte, unterstützte die Rote Schwester nach Kräften die Kommunisten in ihrem Kampf gegen Chiang, auch wenn dies den Ruin ihrer eigenen Familie bedeutete. Nach dem Zusammenbruch von Chiangs Regime und der Gründung des kommunistischen China unter Mao Tse-tung im Jahr 1949 wurde die Rote Schwester Stellvertretende Vorsitzende an Maos Seite.

Die Schwestern waren ohne Frage auch über ihre einflussreichen Ehepartner hinaus etwas Besonderes. In der Chinesisch sprechenden Welt werden die Menschen es nie müde, ihr Leben und Wirken zu thematisieren. Ich erinnere mich an zwei Episoden aus der Zeit meiner Kindheit und Jugend in den 1950er- bis in die 1970er-Jahre in Maos China. Das Land befand sich damals unter einer strengen totalitären Kontrolle und war völlig von der Außenwelt isoliert. So badete Frau Chiang – die Kleine Schwester – angeblich jeden Tag in Milch, damit ihre Haut so leuchtend hell blieb. Damals war die überaus nahrhafte und heiß begehrte Milch kaum erhältlich und für eine Durchschnittsfamilie unbezahlbar. Sie als Badewasser zu benutzen galt als empörende Ausschweifung. Einmal versuchte ein Lehrer, diesen verbreiteten Mythos auszuräumen, und raunte seinen Schülern zu: »Glaubt ihr denn wirklich, es wäre so angenehm, in Milch zu baden?« Wenig später wurde er als »Rechtsabweichler« gebrandmarkt.

Die zweite Geschichte, die großen Eindruck auf mich machte, handelte davon, dass Ching-ling, die Vizevorsitzende des puritanischen Rotchina, mit ihrem Hauptleibwächter zusammenlebte, der nicht einmal halb so alt war wie sie. Es hieß, sie hätten deshalb eine körperliche Beziehung entwickelt, weil der Leibwächter sie zu Bett gebracht und ihr beim Aufstehen behilflich gewesen sei, als Ching-ling alt und auf den Rollstuhl angewiesen gewesen sei. Die Leute spekulierten endlos darüber, ob die beiden geheiratet hätten, und stritten sich, ob die Beziehung geduldet werden dürfe. Es ging das Gerücht, die Partei habe die Affäre unter Berücksichtigung der Tatsache geduldet, dass Ching-ling lange Zeit verwitwet gewesen sei und einen Mann brauche. Angeblich gestattete die Partei ihr sogar, trotzdem den angesehenen Namen Madame Sun zu behalten. An diese Geschichte erinnere ich mich besonders gut, weil man so selten etwas über das Liebesleben einer führenden Persönlichkeit des Landes hörte. Niemand wagte es, über einen der höchsten Funktionäre Klatsch zu verbreiten.

Nach Maos Tod im Jahr 1976 und der Öffnung Chinas ließ ich mich in Großbritannien nieder und erfuhr noch viel mehr über die Schwestern. Mitte der 1980er-Jahre bekam ich sogar den Auftrag, ein kurzes Buch über die Rote Schwester Ching-ling zu schreiben. Aber obwohl ich umfangreiche Nachforschungen anstellte und einen Text von rund dreißigtausend Wörtern verfasste, berührte mich das Thema merkwürdigerweise gar nicht. Ich versuchte nicht einmal, dem Skandal um den Leibwächter auf den Grund zu gehen.

Im Jahr 1991 erschien Wilde Schwäne. Die Geschichte einer Familie – Drei Frauen in China von der Kaiserzeit bis heute, das Buch, das ich über das Leben meiner Großmutter, meiner Mutter und mein eigenes Leben schrieb. Danach verfasste ich zusammen mit meinem Mann Jon Halliday eine Mao-Biografie. Mao und sein Schatten beherrschten die ersten sechsundzwanzig Jahre meines Lebens, und ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren. In einem weiteren Buchprojekt widmete ich mich der Kaiserinwitwe Cixi, der letzten großen Monarchenfigur Chinas (ungekrönt, denn Frauen war es nicht gestattet, Kaiserin zu werden). Nach ihrem Aufstieg vom Rang einer einfachen Konkubine zur Staatsmännin zog Cixi jahrzehntelang hinter dem Thron die Fäden, herrschte über das Reich und führte das mittelalterliche Land ins Zeitalter der Moderne. Beide Themen ließen mir zwanzig Jahre meines Lebens keine Ruhe und vereinnahmten mich völlig. Es war nicht einfach zu entscheiden, über wen ich als Nächstes schreiben sollte. Der Gedanke an ein Buch über die Soong-Schwestern begegnete mir, aber ich verwarf ihn. Seit Wilde Schwäne hatte ich über Menschen geschrieben, die ein politisches Programm vorgegeben und den Lauf der Geschichte verändert hatten, was auf die Schwestern nicht zuzutreffen schien.

Als Einzelpersonen blieben sie, nach den verfügbaren Informationen zu urteilen, Figuren eines Märchens, die treffend mit der viel zitierten Wendung beschrieben werden: »In China gab es drei Schwestern. Eine liebte das Geld, eine liebte die Macht, und eine liebte ihr Land.« Allem Anschein nach gab es keine inneren Konflikte, moralische Dilemmas geschweige denn qualvolle Entscheidungen – all jene Dinge, die Menschen erst real und interessant machen.

Stattdessen überlegte ich, ein Buch über Sun Yat-sen, den Vater des republikanischen China, zu schreiben. Sun, er lebte von 1866 bis 1925, stieg in der Zeitspanne von Cixi bis Mao zu großer Berühmtheit auf, stellte genau wie sie ein Programm auf und bildete eine Art »Brücke« zwischen ihnen. Unter Cixi hatte China die Reise zu einer parlamentarischen Demokratie angetreten und erwartete größere Freiheit und Offenheit. Nichtsdestotrotz übernahm vier Jahrzehnte nach Cixis Todesjahr 1908 Mao die Macht, schottete das Land ab und stürzte es in eine totalitäre Tyrannei. Was geschah in diesen vier Jahrzehnten, in denen Sun Yat-sen eine zentrale Rolle spielte? Dieser Frage, die mich nicht mehr losließ, wollte ich auf den Grund gehen.

Für die Chinesen, und für jene außerhalb der Chinesisch sprechenden Welt, die von ihm gehört haben, galt Sun fast als ein Heiliger. Aber war er das wirklich? Was leistete er tatsächlich für China und inwieweit schadete er dem Land, was tat er ihm an? Und was für ein Mensch war er? Ich wollte Antworten auf diese und zahlreiche andere Fragen finden.

Während ich Suns Leben – und das seiner Mitmenschen – wie ein Puzzle Teil für Teil zusammenfügte, trat die faszinierende Persönlichkeit seiner zweiten Frau und ihrer Schwestern nach und nach hervor und faszinierte mich zunehmend. Sun war, wie ich erkannte, ein vollendetes politisches Geschöpf, das seine Ambitionen zielstrebig verfolgte. Die Tatsache, dass er kein Heiliger war, kam geradezu einer Erleichterung (für die Biografin) gleich. Die Geschichte seines Wegs an die Macht, der voller Höhen und Tiefen, voller Verbrecher und verbrecherischer Methoden wie Vendettas und Attentate war, liest sich wie ein Thriller. Und es war auch erfüllend darzulegen, wie dieser Mann Geschichte geschrieben hatte. Doch das Leben der Frauen, die nicht nur für die Politik...