Archiv der verlorenen Kinder

von: Valeria Luiselli

Verlag Antje Kunstmann, 2019

ISBN: 9783956143366 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Archiv der verlorenen Kinder


 

WEGE & WURZELN


Buscar las raíces no más que una forma

  subterránea de andarse por las ramas.

(Die Suche nach den Wurzeln ist nur der latente Versuch, das eigentliche Thema zu umgehen.)

JOSÉ BERGAMÍN

Wenn du dich unterwegs verirrst

Läufst du ins Ungewisse

FRANK STANFORD

SARGASSOSEE

Es ist nach Mittag, als wir schließlich das Aquarium in Baltimore erreichen. Der Junge führt uns durch die Menge direkt zum Hauptbecken, wo die Riesenschildkröte ist. Wir müssen stehen bleiben und zusehen, wie das traurige, schöne Tier pausenlos durch sein Wasserrevier paddelt und dabei an die Seele einer schwangeren Frau erinnert – ruhelos, unpässlich, gefangen in der Zeit. Nach ein paar Minuten fällt dem Mädchen die fehlende Flosse auf:

Wo ist ihr anderer Arm? fragt sie entsetzt ihren Bruder.

Diese Schildkröten brauchen nur eine Flosse, darum haben sie im Lauf der Zeit nur eine entwickelt, und das nennt man Darwinismus, erklärt er.

Wir sind nicht sicher, ob seine Antwort ein Zeichen von plötzlicher Reife ist, die seine Schwester vor der Wahrheit schützen soll, oder ein falsches Verständnis der Evolutionstheorie. Wahrscheinlich Letzteres. Wir lassen es so stehen. Der Wandtext, den wir alle lesen können, nur das Mädchen nicht, liefert die Erklärung, dass die Schildkröte ihre Flosse im Long Island Sound verlor, wo sie vor elf Jahren gerettet wurde.

Elf: Mein Alter plus eins! sagt der Junge mit heller Begeisterung, die er normalerweise unterdrückt.

Während ich dastehe und die gewaltige Schildkröte beobachte, fällt es mir schwer, sie nicht als Metapher für etwas zu sehen. Doch bevor ich herausfinde, wofür, fängt der Junge an, uns zu aufzuklären. Schildkröten wie Calypso, sagt er, werden an der Ostküste geboren und schwimmen sofort in den Atlantik hinaus, ganz allein. Manchmal kehren sie erst nach zehn Jahren in Küstengewässer zurück. Die Schlüpflinge beginnen ihre Reise im Osten und werden mit den warmen Strömungen des Golfstroms ins Tiefe getragen. Irgendwann erreichen sie die Sargassosee, deren Name, so der Junge, von den enormen Mengen der Sargassum-Alge stammt, die dort fast bewegungslos umhertreiben, gefangen von Strömungen, die sich im Uhrzeigersinn drehen.

Das Wort Sargasso ist mir nicht unbekannt, aber ich wusste nie, was es bedeutet. In einem Gedicht von Ezra Pound, an dessen Titel ich mich nicht erinnere, heißt es in einer Zeile, aus der ich nie so recht schlau wurde: »Dein Verstand und du sind unsere Sargassosee.« Während der Junge über die Schildkröte und ihre Reise in die Gewässer des Nordatlantiks weiterdoziert, gerate ich ins Grübeln. Dachte Pound bei dieser Zeile an Unfruchtbarkeit? Dachte er an Verschwendung? Steht das Bild für ein Schiff, das durch Jahrhunderte von Müll fährt? Oder geht es nur um den menschlichen Geist, der in sinnlos kreisenden Gedanken gefangen ist, unfähig, sich jemals von destruktiven Mustern zu lösen?

Bevor wir das Aquarium verlassen, will der Junge sein erstes Polaroid-Bild machen. Sein Vater und ich müssen uns vor das Hauptbecken stellen, mit dem Rücken zur Schildkröte. Er hält seine neue Kamera fest. Das Mädchen steht neben ihm – sie hält eine unsichtbare Kamera –, und während wir erstarren und sie verlegen anlächeln, betrachten sie uns, als wären wir die Kinder und sie die Eltern:

Sagt cheese.

Wir grinsen und sagen:

Cheese.

Cheese.

Aber das Bild kommt cremeweiß heraus, als zeige es unsere Zukunft und nicht die Gegenwart. Oder vielleicht ist es kein Bild unserer greifbaren Körper, sondern unserer Gedanken, die sich verloren im Kreis drehen – und fragen warum, denken wohin, sagen was jetzt?

LANDKARTEN

Hätten wir unser Leben in der Stadt festgehalten und eine Karte der täglichen Wege und Abläufe gezeichnet, dann sähe sie völlig anders aus als die Straßenkarte, der wir jetzt durch dieses weite Land folgen. Unser Alltag in der Stadt zog Linien, die sich nach außen verzweigten – Schule, Arbeit, Einkaufen, Termine, Treffen, Buchladen, Deli, Notar, Arztpraxis –, aber diese Linien verliefen immer im Kreis und kehrten am Ende des Tages zu einem einzigen Punkt zurück. Dieser Punkt war die Wohnung, in der wir vier Jahre zusammengelebt hatten. Ein kleiner, aber lichter Raum, in dem wir eine Familie geworden waren. Der Mittelpunkt, den wir jetzt plötzlich verloren hatten.

Obwohl wir im Auto nah beisammensitzen, sind wir vier unverbundene Punkte – jeder auf seinem Platz, in eigene Gedanken versunken, beschäftigt mit unterschiedlichen Stimmungen und unausgesprochenen Ängsten. Auf dem Beifahrersitz studiere ich mit einem Bleistift in der Hand die Karte. Ein Netz von Autobahnen und Straßen überzieht das gewaltige, mehrfach gefaltete Stück Papier (es ist eine Karte vom ganzen Land, zu groß, um sie im Auto auszubreiten). Ich folge langen Linien, rot, gelb, oder schwarz, zu schönen Namen wie Memphis, zu unpassenden Namen wie Truth or Consequences oder Shakespeare, zu alten Namen, die durch neue Mythologien mittlerweile neue Bedeutung erlangt haben: Arizona, Apachen, Cochise Stronghold. Und wenn ich von der Karte aufblicke, sehe ich vor mir die lange gerade Straße, die uns in eine ungewisse Zukunft führt.

AKUSTEMOLOGIE

Klang und Raum sind auf eine weitaus tiefere Weise miteinander verbunden, als wir gewöhnlich annehmen. Wir erkennen, verstehen und fühlen unseren Weg im Raum durch Töne und Klänge – die offensichtliche Verbindung zwischen beidem –, aber wir erfahren Raum auch durch die vorhandenen Neben- und Hintergrundgeräusche. Für uns als Familie war es immer das Radio, das den dreifachen Übergang vom Schlaf, in dem jeder allein war, zu unserem engen Beisammensein am frühen Morgen und schließlich zur weiten Welt außerhalb unseres Heims darstellte. Den Klang des Radios kennen wir besser als alles andere. Es war das Erste, was wir jeden Morgen in unserer Wohnung in New York hörten, wenn mein Mann aufstand und es einschaltete. Wir hörten seinen Klang, der irgendwo tief in unseren Kissen oder in unseren Gedanken nachhallte, standen auf und gingen langsam in die Küche. Dann wurde der Morgen von Meinungen, Dringlichkeit, Fakten und dem Geruch von Kaffeebohnen erfüllt, während wir alle am Tisch saßen und sagten:

Gib mir die Milch.

Hier ist das Salz.

Danke.

Hast du das eben gehört?

Schreckliche Nachrichten.

Wenn wir jetzt im Auto durch dichter besiedelte Gegenden fahren, suchen wir eine Radiofrequenz und schalten ein. Bei jeder Nachricht über die Lage an der Grenze drehe ich lauter und wir hören zu: Hunderte Kinder kommen jeden Tag allein an, Tausende jede Woche. Die Ansager sprechen von einer Einwanderungskrise. Einen Massenzustrom von Kindern, nennen sie es, eine plötzliche Welle. Sie besitzen keine Papiere, sind Illegale, Fremde, sagen einige. Sie sind Flüchtlinge, haben einen Rechtsanspruch auf Schutz, argumentieren andere. Laut diesem Gesetz steht ihnen Schutz zu; ein anderer Zusatz spricht ihnen diesen Schutz ab. Der Kongress ist gespalten, die öffentliche Meinung ebenfalls, die Presse blüht bei diesem Überschuss von Kontroversen förmlich auf, Non-Profit-Organisationen machen Überstunden. Jeder hat eine Meinung zu dem Thema; niemand kann sich auf etwas einigen.

VORAHNUNG, DIESER LANGE SCHATTEN

Wir beschließen, heute und an den folgenden Tagen nur bis Einbruch der Dunkelheit zu fahren. Nicht länger. Sobald das Licht schwindet, werden die Kinder schwierig. Sie spüren das Ende des Tages, und die Vorahnung längerer Schatten, die sich über die Welt senken, verändert ihre Stimmung, drängt ihre weicheren Tagespersönlichkeiten in den Hintergrund. Der Junge, normalerweise so sanftmütig, wird launisch und gereizt; das Mädchen, immer begeistert und vor Leben strotzend, wird anstrengend und leicht melancholisch.

JUKEBOXES & SÄRGE

Die Stadt in Virginia heißt Front Royal. Die Sonne geht unter, und in der Tankstelle, wo wir angehalten haben, um den Tank aufzufüllen, läuft in voller Lautstärke irgendein weißer reaktionärer Song. Die Kassiererin bekreuzigt sich rasch und vermeidet Augenkontakt, als wir 66,60 Dollar zahlen müssen. Eigentlich hatten wir vor, ein Restaurant oder Diner zu suchen, doch nach diesem Stopp wollen wir lieber unbemerkt weiterfahren. Keine zwei Kilometer von der Tankstelle entfernt entdecken wir ein Motel 6 und biegen auf den Parkplatz ein. Bezahlt wird im Voraus, in der Rezeption gibt es durchgehend Kaffee, und ein langer, kalter Flur führt zu unserem Zimmer. Wir haben nur das Nötigste aus dem Kofferraum mitgenommen. Beim Öffnen der Tür empfängt uns ein Zimmer, dessen Licht selbst einen seelenlosen Raum wie diesen in eine schöne Kindheitserinnerung verwandelt: blumenbedruckte, fest unter die Matratze gezurrte Bettlaken, durch einen Spalt der grünen Samtvorhänge fällt ein Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel schweben.

Die Kinder nehmen das Zimmer sofort in Beschlag, springen zwischen den beiden Betten hin und her, schalten den Fernseher ein und wieder aus, trinken Wasser aus der Leitung. Zum Abendessen gibt es trockenes...