Der Kaiser im Schnee

von: Philipp Mattes

Alea Libris Verlag , 2019

ISBN: 9783945814246 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 0,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der Kaiser im Schnee


 

Kapitel 1

 

 

 

Gab es etwas Friedvolleres als einen Park, gehüllt in Morgendunst? Zwischen einer Gruppe Winterkirschen murmelte ein Bächlein dahin, das einen kleinen Teich mit Wasser versorgte, dessen Oberfläche dicht mit Lotosblumen bedeckt war. Einen Moment lang verharrte Gatuan, ließ den Blick vom Teich zu den Bäumen wandern, und wandte sich schließlich der größten Schönheit dieses Parks zu. Hai Meis Augen lachten, als sie sich an den Händen nahmen und gemeinsam weitergingen. Der Gesang der Morgenvögel und ein Wind, der das Versprechen eines warmen Sommertages mit sich trug, begleiteten sie. Doch selbst in diesem Augenblick der Freude konnte er den Gedanken an die Schrecken, die in entfernteren Gebieten des Reiches herrschten, nicht ganz vergessen. Der Gedanke an das Morden ließ ihn sein Glück und seine Umgebung umso intensiver spüren. Hier waren er und Hai Mei in Sicherheit, in der Hauptstadt des Reiches, einer Oase des Friedens. Sie schritten dahin und genossen dankbar diesen Moment der ruhigen Zweisamkeit. Bald würden sie Briefe losschicken, um die Einwilligung der Eltern für ein gemeinsames Leben zu erhalten, denn noch wohnten sie, jeder für sich, in unterschiedlichen Stadtteilen Tai Jus. Gatuans Blick folgte einem Schmetterling, dessen hauchdünne Flügel von der Morgensonne angestrahlt wurden. Er betete zu den Ahnen, dass die Boten sicher an ihr Ziel gelangen und mit froher Kunde zurückkehren würden. Denn auch wenn die Zeiten unruhig geworden waren, war er zuversichtlich, dass sie eine gemeinsame Zukunft würden aufbauen können. Solange sie einander hatten, würden sie jedes Hindernis überwinden, dessen war er sich sicher. Mit dem Gefühl, noch nie einen solch ruhigen und glücklichen Moment mit ihr verbracht zu haben, wandte er sich Hai Mei zu, und sie umarmten einander. Sie lächelte nachdenklich, wohl wieder einmal in Gedanken bei den Problemen des Volkes in den Provinzen. Wie so oft, wenn sie sich umarmten, schien sie einen Teil ihrer inneren Anspannung fallen zu lassen, der Pein der Welt einen Moment des inneren Friedens abzutrotzen. Langsam, mit der Eile der aufsteigenden Sonne, lösten sie sich voneinander. Nicht weit von ihnen erhob sich ein Kranich aus einem der Teiche und stieg langsam immer weiter der aufgehenden Sonne entgegen. Gedankenverloren beobachtete er den Flug des großen Vogels. Zwischen den Baumkronen hindurch konnte er den morgendlichen Himmel sehen, der nur vereinzelt von zarten Wolken durchzogen wurde. Doch an einer Stelle schienen die Wolken zu erzittern. Dann zerrissen sie. Gatuan stieß entsetzt die Luft aus. Der Himmel selbst schien sich zu biegen, schien seine Konsistenz beinahe zu verlieren, wurde transparent und offenbarte einen Blick in ein Nichts, einen Abgrund, der sich am Himmel öffnete. Aus diesem Inferno schälte sich eine Wand aus ölig-schimmernden Streifen – Schlieren -, höher als die Wolken, die sich auf sie zubewegte. Was sie berührte, bewegte und verzerrte sich. Immer schneller bog sie sich, wand sich hin und her. Er machte einen angsterfüllten Schritt zurück und bemerkte erst nach einem Moment, dass er Hai Meis Hand ergriffen hatte, die ebenso fassungslos das Schauspiel beobachtete. Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in seinen Handrücken, doch wollte er sie unter keinen Umständen loslassen. Nicht jetzt. Nicht dann, wenn solch ein Schrecken hereinbrach. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Schließlich war das Zittern der Schlieren so gewaltig, dass es Hai Mei von ihm wegriss. Mit ihnen schien die Luft selbst zu zerbrechen. Gatuan meinte einen Knall zu hören, der sich wie glühende Messer in seine Ohren grub. Er schrie in die schmerzerfüllte Stille hinein. Mit tränenden Augen schaute er zu Hai Mei, die zwei Armlängen entfernt von ihm wieder auf die Füße kam. Blut lief aus ihren Augen und Ohren. Ihre Blicke begegneten sich. In Hai Meis Augen flackerten Schmerz und Angst, wie auch er sie fühlte, doch zugleich sprachen in einer Deutlichkeit von ihrer Liebe, wie es keine Worte hätten sagen können. Dann zerbarst die Welt in einem elenden, grellen Licht.

Mit einem lauten Schrei fuhr Gatuan aus dem Schlaf hoch. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschrocken wich er auf seinem Bett zurück. Das erste, was er in seiner dunklen Kammer sah, war das ausgemergelte Gesicht seines Vorgesetzten Lu Yue, das von einer Laterne unstet beschienen wurde. Ohne etwas zu sagen, bedeutete ihm dieser aufzustehen und sich anzuziehen. Einen Moment saß Gatuan in seine Decke gehüllt da und versuchte, den Schrecken des Albtraumes abzuschütteln. Wie hatte sich die Erinnerung an jenen Tag des vergangenen Sommers mit … was sollte die zweite Hälfte des Traums bedeuten? Nur kurz versuchte sein Verstand eine mögliche Antwort zu unterdrücken. Natürlich konnte es eine Vorahnung gewesen sein wie sie die Weisen Männer und Frauen und gelegentlich auch gewöhnliche Menschen hatten. Viel wahrscheinlicher war aber, dass es ein Albtraum gewesen war, wie er sie oft in letzter Zeit hatte, wenn auch sehr ungewöhnlich. Waren Albträume nicht wie andere Leiden, die schlimmer wurden, wenn man sie nicht behandelte? Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Letztlich spielte es keine Rolle. Bevor die Welt zerbrach, hatte er Pflichten zu erfüllen. Schwankend stand er auf, spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht und zog die schwarze Hose und eine ebenfalls schwarze Tunika an. Zuletzt hüllte er sich in das knöchellange violette Gewand des Kanalministeriums, das er mit einem breiten schwarzen Gürel zuschnürte. Aus den Augenwinkeln sah er Lu Yue ungeduldig winken. Was konnte so wichtig sein, dass sein Vorgesetzter nachts in seine Wohnung kam? Er beeilte sich, die Schuhe anzuziehen. Im letzten Moment erinnerte er sich an seine Beamtenkappe, und als er schließlich aus seinem kleinen Häuschen in die beißende Kälte der Nacht trat, wurde er augenblicklich hellwach.

Schweigend eilte Gatuan hinter seinem Vorgesetzten her, der mit seiner Laterne den Weg beschien. Die Mischung aus zertretenem Schnee und aufgeweichtem Schlamm, die die Straßen bedeckte, machte bei jedem Schritt laute, schmatzende Geräusche. Gatuan erinnerte sich kurz daran, dass er früher seine weite, bis auf den Boden reichende Hose und sein Gewand hochgehalten hatte, damit sie nicht schmutzig wurden. Und er dachte darüber nach, warum er es jetzt nicht mehr tat, ließ aber den Gedanken wieder fallen. Es machte ohnehin keinen Sinn. Sein Vorgesetzter begann nach einer Weile mit seiner üblichen Klagelitanei, die er leise vor sich hinmurmelte. Gegen seinen Willen musste Gatuan lauschen, denn außer den Geräuschen ihrer Schritte war es noch still in Tai Ju, der Hauptstadt des Kaiserreichs Pwyrin. Von den niedrigen, teilweise windschiefen Häusern zu beiden Seiten, sah er nur die Umrisse in der wolkenlosen Nacht. Die kalte Luft war erfüllt mit den Gerüchen von Abfällen, menschlichen und tierischen Exkrementen und nassem Stroh. Nach den vielen Jahren in dem Viertel waren ihm diese Gerüche zu gewohnt, als dass sie ihn von den Klagen Lu Yues abgelenkt hätten. Offensichtlich hatte die letzte Zerrung bei seinem Vorgesetzten starke Schmerzen hinterlassen, außerdem beschwerte er sich über die viele Arbeit. Gatuan hob resigniert die Schultern. Das alles traf letztlich auch auf ihn zu, doch sagte er nichts und eilte weiter hinter Lu Yue her. Sie holten noch weitere Beamte aus ihren Häusern und kamen schließlich zu dem dreistöckigen Verwaltungsgebäude des Ministeriums für Kanäle und Kanaltransport, in dem sie arbeiteten. Gatuan erkannte erleichtert, dass die Fenster im Erdgeschoss nun endlich zugemauert waren und eine größere Truppe Soldaten in Schuppenpanzern und mit Speeren bewaffnet davorstand. In den letzten Wochen waren die Unruhen bis in die zentralen Stadtviertel Tai Jus vorgedrungen. Auch das Kanalministerium war regelmäßig angegriffen worden, was zu ärgerlichen Verzögerungen in der Bürokratie geführt hatte. Das war vermutlich auch der Grund, warum sie alle so früh am Tag – oder besser: Nacht – wieder in ihre Schreibstuben mussten.

Schweigend begab sich Gatuan in seine Stube. Er zündete mehrere Kerzen an und setzte sich an seinen Tisch, der neben zwei Stühlen das einzige Möbelstück darstellte und auf dem noch mehrere unbearbeitete Dokumente herumlagen. Geduldig wartete er, ob neue Anweisungen kommen würden. Als nach einer viertel Stunde Lu Yue nicht mit neuen Befehlen gekommen war, rollte er die nächstbeste Schriftrolle auseinander und las sie durch. Der Stadtgouverneur Xu Dius bat eindringlich um vierzig Kisten Bolzen, fünf Kisten Repetierarmbrüste und eine Barke mit Reis. Diese sollten so schnell wie möglich mit Kanalschiffen zu der am äußersten Rand des Reiches gelegenen Provinzstadt geschickt werden. Ein ungutes Gefühl beschlich Gatuan, während er die Zeilen las. Er war kein Soldat, aber mittlerweile hatte er eine gewisse Erfahrung, was die Versorgung von militärischen Stützpunkten betraf. Die modernen Repetierarmbrüste, mit denen man schnell hintereinander Bolzen abschießen konnte, wurden von der kaiserlichen Armee oft für die Verteidigung von Städten und Burgen verwendet. Bedeutete das, Xu Diu wurde belagert? Es war die zweitgrößte Stadt in der Bürgerkriegsprovinz Ham Kar. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Zugleich wunderte er sich, weshalb so wenig Reis gefordert wurde. Die Stadt hatte schließlich hunderttausende Einwohner. Die Säcke Reis würden wohl nur für die dort stationierten Truppen genügen. Was war mit den Bürgern? Ein beunruhigender Verdacht erstarkte in seinem Hinterkopf. Mit zitternder Hand schrieb er die nötigen Anordnungen für die Hafenmeisterei. Was konnte er schon tun, um das Grauen in den Provinzen zu lindern? Wie schon bei einigen früheren Anordnungen zuvor, kam ihm der Gedanke, zusätzliche Kanalbarken mit Reis...