Ich bin doch nicht zum Leiden geboren

von: Peter Leichtfus

Leichtfus-Verlag, 2019

ISBN: 9783966616676 , 175 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Ich bin doch nicht zum Leiden geboren


 

„Widerstandslos, im großen und ganzen,

haben sie sich selber verschluckt,

die siebziger Jahre…“

Hans Magnus Enzensberger, Andenken (1978)

 

 

 

 

 

ICH BIN DOCH NICHT ZUM LEIDEN GEBOREN


 

 

 

 

Dies ist kein Roman! Dies ist eine Erzählung - wie es war und wie es hätte sein können (ja, beides) in Coburg in den 70ern, in der Jugend von Hubert, dem deutschen Flüchtlingskind.

 

 

 

 

Eins


 

 

Hubert Shmale war ein deutscher Junge, soviel war ihm klar.

 

Natürlich entsprach das einem Zufall. Er hätte mit seinem feinen, blonden Haar, seinem großen runden Kopf, seinen offenen Gesichtszügen und seiner hellen Haut auch Pole, Russe oder Angehöriger jedweden mittel- oder nordeuropäischen Volkes sein können. Seine Familie war aber eine deutsche - das hatte er seine Mutter oftmals versichern hören - und zwar von beiden Zweigen her, dem mütterlichen und dem väterlichen.

 

Tatsächlich liegt die Heimatstadt seiner Eltern, Breslau, heute in Polen und trägt den polnischen Namen Wrocław, aber - so sagten jedenfalls die Eltern und alle Onkel und Tanten - bis zum Zweiten Weltkrieg war sie immer eine deutsche Stadt gewesen, war es von Rechts wegen immer noch und würde es eines Tages auch tatsächlich wieder sein, wenn es Gerechtigkeit gab.

 

Die Mutter schien auch ein bisschen besorgt zu sein über den Nachnamen „Shmale“, der seltsamerweise kein „c“ zwischen dem „S“ und dem „h“ trug, so wie es die deutsche Orthographie eigentlich vorsah. Vor kurzem hatte der Lehrer des Jungen sie gefragt, ob die Familie angelsächsischen Ursprungs sei, was die Mutter vehement verneint und anführt hatte, dass es ihr ein Rätsel sei, wann und wo sich das verdammte „c“ verloren habe.

 

Dieses Geschwätz war Hubert herzlich egal. Er war 1958 in Coburg geboren worden, einer Kleinstadt im Norden Bayerns, wohin 1945 seine Mutter mit einer einjährigen Tochter geflüchtet war, wo sein Vater 1946 - aus russischer Gefangenschaft kommend - die zu Kriegszeiten geheiratete Frau wieder gefunden hatte, wo 1947 noch eine Tochter zur Welt gekommen war und wo die Familie ein neues Zuhause in einer dieser bescheidenen Genossenschafts-Wohnungen gefunden hatte, die nach dem Krieg hochgezogen worden waren.

 

Als einziger Sohn war Hubert der ganze Stolz seines Vaters. Schade nur, dass der Stammhalter ein bisschen weich und nicht sehr tatkräftig war. Am liebsten lag er auf dem Sofa, las Geschichten über Abenteuer in fernen Ländern und aß dabei gesalzene Erdnüsse. Der Vater hätte gern einen Sohn gehabt, der zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie ein Windhund und flink wie ein Wiesel war. So wie er selbst, als deutscher Soldat, eben hätte sein sollen und wollen und nicht gewesen war.

 

Ihm gefiel die Brille, die der Junge wegen seiner Kurzsichtigkeit schon tragen musste, gar nicht. Außerdem war sie zu teuer gewesen.

 

 

«Ein neunjähriger Junge muss Sport treiben!», sagte der Vater.

 

«Warum nicht! - Was könnte ich denn machen?»

 

«Spiel Fußball, wie jeder normale Junge, vor ein paar Jahren waren wir Weltmeister.»

 

«Dann brauche ich aber richtige Fußballschuhe, mit meinen Turnschuhen geht das nicht gut.»

 

«Na gut, am Samstag gehen wir welche kaufen.»

 

Der Junge hatte nichts gegen den Vorschlag. Einige verschwommene Bilder stiegen vor seinem geistigen Auge auf. Er sah sich freudestrahlend auf den Schultern seiner Mannschaftskameraden sitzen, die ihn, den Schützen des entscheidenden Tores, zur Tribüne trugen, um den Pokal entgegenzunehmen, während die Fans wie verrückt jubelten und applaudierten. - Er lag eben viel vor dem Fernseher.

 

Die Fußballschuhe, die sie am Samstag darauf gekauft hatten, waren ihm ein wenig unbequem vorgekommen, als er sie in dem Laden anprobiert hatte, wahrscheinlich wegen der Stollen in der Sohle, aber der Verkäufer hatte gesagt, dass das so sein müsse, denn sie waren zum Laufen auf Rasen gemacht und nicht auf der Auslegeware eines Sportgeschäfts. Sie waren von Adidas. Die Sportmarke, die damals schon damit begonnen hatte, den Weltmarkt für Fußballschuhe zu erobern, besaß eine Fabrik in nur achtzig Kilometer Entfernung.

 

Der Vater beobachtete vom Wohnzimmerfenster aus den Sohn, wie der in Richtung Sportplatz schritt und dabei aussah wie ein Fußballspieler aus dem Bilderbuch. Die Brille hatte er zuhause gelassen, damit sie nicht kaputt ging. Der Mann spürte eine immense Genugtuung in sich aufsteigen. Sein Sohn würde es all diesen Lümmeln und ihren herablassenden Vätern zeigen, was Talent und Hingabe zu leisten imstande waren.

 

Der Sportplatz - niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn als Rasen zu bezeichnen - besaß lediglich einen Hauch von Grün an seinen Außenseiten. Der Rest war Sand und harte Erde. Wie jeden Nachmittag hatten sich hier etwa zehn Burschen aus der Nachbarschaft versammelt, die aber noch nicht spielten, sondern diskutierend zusammenstanden. Nur die beiden Ältesten trugen richtige Fußballschuhe, die anderen normale Turnschuhe.

 

Als er hinging hörte Hubert, dass sie keinen Torwart hatten. Und als er fragte, ob er mitspielen dürfe, sagten sie ihm natürlich, dass er sich ins Tor stellen solle. Das gefiel ihm nicht besonders, aber als Neuling konnte er sich nicht gleich querlegen und so fand er sich zwischen den Pfosten wieder.

 

Immer wenn sie nicht genug Spieler waren, um mit zwei vollzähligen Mannschaften das ganze Fußballfeld zu nutzen, wählten sie zwei Teams, die zwar gegeneinander, aber auf ein und dasselbe Tor spielten. An diesem Tag gelang es beiden, viele Tore zu schießen. Hubert war kein guter Torhüter. Von Anfang an weigerte er sich, sich auf die Erde zu werfen. Das tat zu weh. Darüber hinaus hatte er allerdings auch nicht viel Erfolg mit anderen Paraden. Aber letztendlich liegt das Glück des Fußballers im Toreschießen und so waren alle, außer Hubert, glücklich, denn jeder hatte mehrere Tore geschossen, von denen er später erzählen konnte.

 

Als die Jungen nach Hause gingen, waren sie großzügiger Stimmung und daher trösteten sie den Torwart ein bisschen und sagten ihm, dass er für das erste Mal gar nicht so schlecht gehalten habe und dass alles nur eine Frage von mehr Training sei und dass er einfach den Mut haben müsse, sich zu schmeißen. Dadurch verbesserte sich seine Laune ein wenig.

 

Am nächsten Tag stand das zweistündige Training der D-Schüler-Mannschaft der Abteilung Fußball der TSG Creidlitz an. Creidlitz war der Name des Stadtviertels. TSG stand für Turn- und Sportgemeinschaft. Der Vater hatte ihn in dem Verein angemeldet. Das Training fand auf dem Sportplatz statt und wurde von einem gewissen Kurt geleitet, einem Mann in den Vierzigern, der schon einen kleinen Bierbauch hatte und in der Abteilung Tischtennis aktiv war. Da waren schon mehr Jungen, beinahe genug, um zwei vollzählige Mannschaften zu bilden.

 

Der „Trainer“, der sich eine Pfeife um den Hals gehängt hatte, schickte die Burschen zum Einlaufen, damit sich die Muskeln aufwärmten.

 

Nach zwei Runden um den Platz pfiff er dreimal und rief: «Genug jetzt! Spielen wir! Wer geht ins Tor?»

 

Alle die, die schon am Vortag gespielt hatten, sahen in Richtung Hubert.

 

Man konnte auch so etwas wie «Hub…» hören.

 

Daraufhin sah auch Kurt ihn an: «Na gut, Hubert macht den Tormann, ist ja auch höchste Zeit, dass wir einen finden, am Samstag ist das erste Punktspiel.»

 

Damit war die Angelegenheit entschieden. Zwei Mannschaften wurden gebildet, der „Trainer“ stellte sich ins Tor der anderen und das Spiel begann.

 

Kurts Team schloss gleich seinen ersten Angriff mit einem Tor ab.

 

«Schmeiß dich, Mann!», schrien die Mannschaftskameraden.

 

Kurze Zeit später, als einer aus Huberts Abwehr ihm den Ball zurückpasste, damit Hubert ihn aufnähme und abschlüge, ließ er ihn durch die Finger gleiten und … zweites Tor. Da war das Geschrei schon groß, aber immer noch ein Säuseln, verglichen mit dem, das sich erhob, als die Tore Nummer drei und vier fielen: das dritte war ein verunglückter Schuss, der langsam aufs Tor zurollte und den Hubert wegschlagen wollte, aber nicht traf und dabei irgendwie hinfiel, während ihm beim vierten der Ball entwischte, als er ihn aus der Luft fangen wollte. Kurt musste schnell über das ganze Spielfeld gelaufen kommen, um die Kameraden davon abzuhalten, dem Tormann eine Abreibung zu verpassen.

 

«Was für einen Scheiß machst du denn da? Was ist denn los? Kannst du nichts sehen? Hast du nicht sonst eine Brille auf? Wo ist die denn?»

 

«Zuhause! Die kann kaputtgehen. Mein Vater hat verboten, dass ich sie zum Fußball aufhabe.»

 

«Das darf doch nicht wahr sein! - Ich werde mit deinem Vater sprechen.»

 

«Aber ich will doch gar nicht ins Tor.»

 

«Das sehen wir dann noch. Erstmal brauchen wir dieses Wochenende einen Torwart. Da fangen die Punktspiele an.»

 

Nach dem Training ging Kurt mit nach Hause zu den Shmales. Er erklärte dem Familienoberhaupt, dass es beim Fußball unabdingbar sei,...