Die Offenbarung des Uhrwerks

von: Sven Haupt

Mystic Verlag, 2019

ISBN: 9783947721375 , 340 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Die Offenbarung des Uhrwerks


 

Siam, 1897


 

»Halten Sie jetzt ganz still, Frau Doktor, ich würde Sie nur äußerst ungerne verletzen.« Die Stimme war ruhig, machte jedoch deutlich, dass der Besitzer keinerlei Probleme mit der Alternative haben würde.

Irene Cameron erstarrte. Sie fühlte deutlich, wie etwas sehr Scharfes ihre Haut am Hals aufritzte. Sie schielte vorsichtig an sich herab und sah eine golden schimmernde Schneide aufblitzen, die über ihre Schulter hinweg an ihrem Hals vorbeilief und in dem Baumstamm endete, an dem Irene sich gerade vorbeidrücken wollte. Mit der Klinge durch den Hinterleib an den Stamm genagelt, zappelte die größte Spinne, die die ihr jemals vor die Augen gekommen war. Einen Moment lang glaubte sie, ihre Beine würden nachgeben. Das Tier war so groß wie ein Essteller. Irene versuchte verzweifelt, Gewalt über ihre Stimme zu bekommen, als eine riesige Hand sie sanft, aber bestimmt, an der Schulter griff und zur Seite zog.

Major Charles Browning trat an den Baum heran, während sich die Klinge mit einem leisen Sirren und Klicken wieder faltete und in seinem rechten Unterarm zurückschob. Er zog das letzte Stück mühelos aus dem Stamm und betrachtete einen Moment lang das immer noch schwach zuckende Geschöpf, welches kopfüber auf seiner Waffe hing. Er schnaubte kurz und ließ die Spinne kommentarlos einem der Träger hinter ihm vor die Füße fallen. Der Einheimische sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden. Diese Reaktion entsprach weitestgehend jener, welche alle Fremden gegenüber dem Major zeigten. Der riesige Mann aus Bronze schnaufte, wandte sich ab und verschwand mit zwei langen Schritten seiner sanft zischenden Pneumatik-Beine im Unterholz.

»Ich habe es ihnen gesagt«, murmelte er vor sich hin. »Frauen gehören nicht in den Urwald.« Das leise Grummeln des mächtigen Mannes konnte man problemlos zehn Meter weit hören.

Irene atmete noch immer schwer.

»Ich neige immer stärker dazu, Ihnen zuzustimmen!«, flüsterte sie ihm schwach hinterher. Der Schock ließ langsam nach und Irene ärgerte sich schon wieder über die nachlässige Unachtsamkeit, mit der sie hier durch den Wald stapfte. Sie war schließlich nicht auf dem Weg zu einem Picknick im Hyde-Park. Andererseits, wozu hatte sie eine Elite-Kriegsmaschine dabei, wenn nicht zum Schutz?

Sie rief sich innerlich zur Ordnung, drückte ihr Taschentuch gegen die Wunde am Hals und folgte dem schmalen Trampelpfad weiter durch das Dickicht.

Zwei Stunden später veranlasste der kleine Mönch, der ihre Expedition führte, auf einer kleinen Lichtung das Nachtlager aufzuschlagen. Der Tag war weit fortgeschritten und sie mussten die Feuer entfacht haben, bevor die Dunkelheit kam. Nicht, dass Irene in diesem verdammten Zwielicht irgendetwas von dem Himmel über ihnen sehen konnte, geschweige denn wusste, wann hier die Dämmerung anbrach.

Erschöpft ließ sie sich auf einen der Klappstühle fallen, die ihr Diener Keno aufgestellt hatte. Es fühlte sich lausig an, wann immer Irene abends auf ihrem Stuhl saß und sich als Einzige ihren Tee bringen ließ, aber sie machte sich nichts vor. Weder konnte Irene die schweren Zelte aufbauen, noch das Gelände sichern, Feuer machen oder etwa kochen. Außerdem war ihre heilige Tasse Tee in den letzten Wochen das Einzige gewesen, was sie daran erinnert hatte, wen sie hier vertrat und wo sie eigentlich hingehörte. Trotzdem sank ihre Stimmung von Tag zu Tag. Der einheimische Träger, der seine Machete benutze, um die riesige Spinne über dem Lagerfeuer zu grillen, half dabei nicht unbedingt. Die Krone schien weit fort. Dennoch, sie musste sich als Botschafterin verstehen, ein Leuchtfeuer der Kultur in dieser vom Uhrmacher verlassenen Hölle. Das durfte sie nie vergessen.

Irene beobachtete, wie Major Browning die Soldaten anbellte. Das Gelände wurde durchsucht und gesichert. Feuer entfacht. Rund um die Lichtung standen Wachposten, die Gewehre im Anschlag. Die Männer erhielten Weisung, auf alles zu schießen, was sich bewegte, ohne Fragen zu stellen. Die Gruppe lernte. Seit ihrem Aufbruch in Bangkok vor drei Wochen hatten sie schon fünf Soldaten und ihren Anführer verloren. Seitdem hatte der Major die Leitung der Expedition übernommen und das Kriegsrecht verhängt.

Armer Lord Wintersmith, dachte Irene. Als der berühmte Weltreisende und Großwildjäger von ihrer Majestät persönlich gebeten worden war, die Bemühungen in Siam zu leiten und die Interessen der Krone zu vertreten, hatte er wohl nicht damit gerechnet, nachts brüllend in den Wald geschleift zu werden. Irene schauderte.

»Ihr Tee, Madame.«

Irene schreckte auf. Keno stand neben ihr und reichte mit niedergeschlagenen Augen ihren Abendtee. Sie seufzte erleichtert und nahm dem Jungen das Tablett ab.

»Kòp kun mâak«, entgegnete sie und sah glücklich auf das feine Porzellan hinab. Was würde sie ohne Keno machen!

Sie trank dankbar in kleinen Schlucken und befühlte mit der freien Hand unbewusst den frischen, weißen Verband an ihrem Hals. Gleichzeitig beobachtete sie den Major, wie er strikte militärische Ordnung in die Reihen seiner Soldaten brüllte. Dabei hätte er nicht einmal laut werden müssen, ein Flüstern hätte vollkommen gereicht. Die Männer erfüllte auch so eine panische Angst vor dem Mann. Irenes Meinung nach, eine vollkommen normale Reaktion in der Gegenwart eines zwei Meter großen, dreihundert Kilo schweren Soldaten aus Bronze. Tatsächlich war er nicht einmal vollständig aus Metall. Soweit Irene wusste, bestanden sein Oberkörper, sein linker Arm und die rechte Hälfte seines Gesichts noch aus Fleisch und Blut. Den Rest hatte er auf diverse Schlachtfelder verteilt, auf denen er im Namen der Krone die Kunde vom großen Uhrmacher im Himmel und seiner größten Nation auf Erden zu dunklen Orten trug.

Heutzutage, im Zuge des atemberaubenden Fortschritts, den die wissenschaftliche Revolution der Knochenmagie und der Knochenmechanik den europäischen Ländern gebracht hatten, starben Soldaten auf den Schlachtfeldern immer seltener an ihren Verletzungen. Schwere Wunden qualifizierten sie stattdessen immer häufiger für technische Aufrüstungen durch die Hände der Mechaniker und Magier der Hoch-Akademie der Krone.

»Der Perimeter ist gesichert, Madame«, meldete die durchdringende Stimme des Majors.

»Sehr gut, Browning«, erwiderte Irene über ihre Tasse hinweg. »Ihre Arbeit ist wie immer ausgezeichnet. Sie sollten jetzt aber wirklich einmal Pause machen. Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?«

»Mit allem Respekt, Madame, ich werde schlafen, wenn wir das Kriegsgebiet lebend verlassen haben.«

»Meinen Sie nicht, Sie übertreiben, Major? Wir sind nicht im Krieg. Dies ist offiziell immer noch eine diplomatische Mission und eine Expedition auf der Suche nach neuen Artefakten.«

»Danke, Madame. Ich werde versuchen mich daran zu erinnern, wenn ich das den Familien meiner toten Männer erkläre.«

Irene seufzte. Der Offizier salutierte und wandte sich wieder der Inspektion des Lagers zu. Er begann, den umliegenden Rand des Waldes in der zunehmenden Dämmerung systematisch zu scannen. Irene konnte die Linsen seines künstlichen Auges surren und klicken hören. Sie wusste um den Frust des Majors darüber, dass er nur noch über zehn Soldaten mit Gewehren verfügte. Jeder Teilnehmer der Expedition hatte ihn ausgiebig darüber fluchen gehört. Im Moment wäre sie ebenfalls dankbar, wenn die Gruppe etwas mehr Feuerkraft auf ihrer Seite hätte.

Der Nordosten Siams galt als unerschlossen in einem Land, in dem ein Gebiet als erschlossen bezeichnet wurde, wenn ein Pfad dorthin führte, der mindestens fünf Monate im Jahr benutzt werden konnte und sich jemand fand, der den Namen des Dorfs am anderen Ende kannte. Die Geografie ließ keine Wünsche offen. Die Landschaft zerklüftet und bergig, der Boden arm, der Wald gefährlich und das Leben hart. Siedlungen lagen teilweise mehrere Tagesreisen auseinander.

Und dann die Nächte.

Sie waren schon am Anfang der Reise in Bangkok gewarnt worden, noch bevor die Gruppe überhaupt ihr Gepäck auf den Flussdampfer geladen hatte. Nordwärts gegen den Strom den Mae Nam Chao Phraya hinauf und weiter auf dem Mae Nam Pa Sak Richtung Nord-Osten. Lord Wintersmith hatte nur gelacht.

»Tiger?«, rief er. »Wundervoll, dann kann ich meiner guten Marie zu Hause einen schönen neuen Fellteppich als Reisegeschenk mitbringen!« Der weltberühmte Jäger und Trophäensammler amüsierte sich köstlich und tätschelte dabei sein golden verziertes Kaliber .577 Nitro Express Jagdgewehr. Er nannte es Betsy. Mit ihren über zehn Zentimeter langen Patronen konnte sie problemlos eine Lokomotive erschießen. Sie hatte ihm nichts genutzt.

Das Fauchen der Tiger war die ganze Nacht hindurch zu hören und verfolgte einen bis in die Träume. Es riss nie ab und es kam von allen Seiten. Die einheimischen Träger hatten schon nach der ersten Nacht umkehren wollen. Lord Wintersmith musste ihren Lohn gleich zweimal erhöhen. Doch mittlerweile gab es keine Panik mehr. Es gab keine Möglichkeit mehr zu fliehen, zu weit entfernt lag die nächste Siedlung. Was blieb, war das gleichmäßige Gefühl des Entsetzens, mit dem die Siamesen umherstarrten. Manchmal wusste sie nicht, wer den Trägern mehr Angst einflößte: Die Tiger außerhalb ihres Lagers, oder Major Browning in seinem Innern. Irene konnte es den Männern nachfühlen.

An einem der ersten Tage war der Soldat in einen Ameisenhaufen getreten, als er einen potenziellen Lagerplatz inspizierte. In wenigen Sekunden hatten riesige, rote Ameisen seine Beine bedeckt und die Träger veranstalteten sofort ein großes Geschrei. Der Major jedoch sah lediglich milde interessiert an sich herab und aktivierte mit einer...