Wende in die Zukunft - Pivot to the Future - Werte und Wachstum in einer disruptiven Welt

von: Omar Abbosh, Paul Nunes, Larry Downes, Frank Riemensperger

Redline Verlag, 2019

ISBN: 9783962671617 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 2,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Wende in die Zukunft - Pivot to the Future - Werte und Wachstum in einer disruptiven Welt


 

1. Kapitel


DAS UNERSCHLOSSENE WERTPOTENZIAL


Disruption als Chance

WAS PASSIERT, WENN in rasantem Tempo neue Technologien entwickelt werden, mit denen Unternehmen verborgene Ertragsquellen erschließen? Ertragsquellen, die teilweise lange existierten und aus vielen Gründen nicht schon früher erschlossen werden konnten? Je besser, billiger und kleiner digitale Komponenten werden, desto wichtiger wird es für Unternehmen jeder Größe und Branche, diese Frage zu beantworten.

Der Grund ist, dass die Technologie zunehmend die Tools bereitstellt, die es Ihren Wettbewerbern erlauben – etablierten Unternehmen und Marktneulingen gleichermaßen –, neue digitale Produkte und Services auf den Markt zu bringen, die latente Bedürfnisse ansprechen und unerfüllte Wünsche bedienen. Wir bezeichnen dieses Ertragspotenzial als Trapped Value oder »unerschlossenes Wertpotenzial«. Wenn Sie es nicht schneller erschließen als andere, kann es passieren, dass Sie nicht nur Ihre Chance auf zukünftiges Wachstum verspielen, sondern auch Ihr bestehendes Geschäft verlieren. Diese Disruption kann sich schnell oder langsam vollziehen. In jedem Fall aber hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit bereits begonnen.

Unerschlossener Wert ist für Unternehmer wie Honig für Bären. Er lockt neue Investments und neue Mitspieler an. Diese warten nur darauf, in Ihrem Markt zu experimentieren und mit Ihren Kunden, Zulieferern und anderen Stakeholdern gemeinsame Sache zu machen. Sie sind bereit, den freigesetzten Wert zu teilen. Das ermöglicht ihnen, neuartige Geschäftsbeziehungen einzugehen und neue Strategien und Umsetzungsansätze zu verfolgen, die das konventionelle Managementdenken auf den Kopf stellen.

Die gute Nachricht lautet: Aus unserer persönlichen Erfahrung in der eigenen Branche und der Arbeit mit Organisationen aus aller Welt wissen wir, dass die etablierten Unternehmen mindestens ebenso gut und häufig sogar besser aufgestellt sind, verborgenen Wert zu erschließen, als jedes noch so disruptive Start-up aus dem Silicon Valley.

Das Schwierige ist nicht, neue Technologien zu beherrschen. Doch die meisten Unternehmen überwinden ihre alten Pläne, Prozesse und Systeme nicht. Obwohl diese für eine Zeit optimiert wurden, als der Wettbewerb überwiegend statisch war. Es fällt ihnen schwer, ihre Prinzipien aufzugeben. Damals veränderten sich Branchen nur langsam, Technologien verbesserten sich anders als heute in kleineren Schritten.

Lassen Sie uns mit einer Branche beginnen, deren schmerzliche Disruption und Neuerfindung für viele Schlagzeilen gesorgt hat.

Gefangen in der Einkaufspassage


Die letzten Jahre haben dem Einzelhandel übel mitgespielt.

Alteingesessene stationäre Handelshäuser, die sich lange immun gegen die vergleichsweise kleine Online-Konkurrenz wähnten, streichen reihenweise die Segel. Die Zahl der Insolvenzen und Geschäftsaufgaben erreicht Rekordniveau, mit Namen wie Sears, Radio Shack, the Limited, Sports Authority, Toys »R« Us und Payless ShoeSource. Allein 2017 schlossen die größten Einzelhändler in den USA mehr als 5000 Läden.2

Es ist ja nicht so, dass die Kunden nicht mehr einkaufen. Sie tun es nur anderswo.

Der offensichtliche Disruptor ist in diesem Fall Amazon. Der Pionier des Internethandels hat seinen Umsatz seit 2010 verfünffacht. Er verkauft heute fünfmal mehr als der Einzelhändler Sears, der von 2007 bis 2018 ebenso viel Ertragsvolumen verloren, wie Amazon hinzugewonnen hat. Heute, im Jahr 2019, ist jeder zweite US-Haushalt Abonnent von Amazon Prime, was die versandkostenfreie Lieferung binnen zweier Tage und den Empfang gestreamter Originalvideos über das Internet umfasst. In einer Branche mit einem Gesamtumsatz von 3,5 Billionen US-Dollar macht der Online-Handel mittlerweile fast 400 Milliarden US-Dollar aus.

Und doch war der Niedergang des stationären Einzelhandels alles andere als unvermeidlich. In Wahrheit hatte die Branche zwei Jahrzehnte Zeit, um sich neu aufzustellen. 1996 war das Shoppen im Internet eine Spielerei. Seither jedoch nahm sein Volumen jährlich um 15 bis 25 Prozent zu. Im Online-Weihnachtsgeschäft 2016 wurden fast 100 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Aber selbst das war nur ein Zehntel des Gesamtumsatzes.

Zunächst haben die alteingesessenen Einzelhändler die Risiken ignoriert, die ihnen durch Online-Konkurrenten erwuchsen. Anschließend versuchten sie, die neuen Wettbewerber nachzuahmen. Sie ergänzten ihr traditionelles Geschäft um »Me too«-Webseiten. Aus Sorge, ihre Standorte zu »kannibalisieren« und die Zulieferer vor den Kopf zu stoßen, waren diese Online-Angebote nur Kompromisslösungen. So gab es dort beispielsweise nicht das vollständige Sortiment oder lediglich Sonderangebote. Manchmal konnte die Ware nur in den Läden in Empfang genommen oder umgetauscht werden. Die Preise spiegelten nur selten die geringeren Kosten des Online-Dienstes wider.

Was viele Händler nicht begriffen hatten: Durch die sinkenden Technologiepreise und das Internet entstanden neue Chancen, die Kunden effizienter und persönlicher anzusprechen und zu bedienen. Die Einzelhändler hatten die technologische Innovation überwiegend abgeschrieben. Selbst der Kundendienst blieb durch Kostensenkungen auf der Strecke und zurück blieben frustrierte Kunden.

Wo sollten Sie einkaufen, waren sie doch weiter in den Einkaufspassagen.

Bis die Online-Händler ihre Chance erkannten. Geringere Preise? Kein Problem! Maßgeschneiderte Angebote? Hier sind sie! Selbstbedienung statt keiner Bedienung? Bitte schön!

Was die Händler mit digitalem Schwerpunkt auszeichnet, ist nicht die digitale Technik. Es ist ihr Fokus auf den Kunden. Sie wollen für diesen das Einkaufen persönlicher, bequemer, unterhaltsamer, kostengünstiger und sogar sozialverträglicher gestalten.

Amazon, eBay, Apple, Zappos, Dell und andere stehen in engem Kontakt zu den Verbrauchern. Sie ermitteln, was diese wollen, und geben es ihnen. Das Ganze wird unterstützt durch sicheres Bezahlen, Videos und andere Extras auf ihren Webseiten. Hinter den Kulissen errichten sie modernste Warenlager und Vertriebsnetze. Sie investieren in Robotik, Drohnen und mächtige Datenanalysetools, die ihnen verraten, was die Kunden wollen und wann sie es wollen. Heute können Produkte über sprachaktivierte Smart-Home-Hubs wie Amazons Echo oder Google Home einfach wie nie nachbestellt werden.

Während die traditionellen Einzelhändler die Mitarbeiterzahl reduzierten, das »Licht dimmen« und. veraltete Artikel horten, investieren die webgestützten Händler alles, was sie haben – und manchmal sogar mehr. Sie versenden Waren kostenlos, liefern sie am selben Tag und nehmen sie unkompliziert zurück. Sie werben zielgerichtet, lassen Kunden bewerten und ermöglichen den Einkauf über mobile Geräte. Alles zusammen macht das Online-Shopping zu einem weitaus beglückenderen Erlebnis, als sich ins Auto zu setzen, zum Einkaufszentrum zu fahren, einen Parkplatz zu suchen, zu hoffen, dass das gewünschte Produkt vorrätig ist und sich jemand findet, der das Geld entgegennimmt.

Führende Online-Händler experimentieren sogar mit stationären Outlets. Die Apple Stores mit Self-Checkout, In-Store-Kursen und Genius-Bar-Kundenservice sind gut gefüllt. Amazon testet Lebensmittelläden, in denen die Kunden für ihre Einkäufe automatisch zahlen, sobald sie den Laden verlassen – möglich gemacht durch maschinelles Sehen, maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz (KI).

Heute erlauben es automatisierte Warenlager und die Abwesenheit physischer Standorte – die gemietet, beheizt, mit Personal bestückt und bewacht werden müssen, unabhängig von der Anzahl der Kunden im Laden –, für Online-Einkäufe erheblich weniger zu berechnen.

Der Online-Handel wurde so besser und billiger als der stationäre Handel. Diese zwei Katalysatoren zusammen sind geeignet, jene Art von Disruption auszulösen, die sich nicht länger ignorieren lässt. Nachdem die Reaktionskette einmal in Gang gesetzt worden war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis bei immer mehr Einkaufszentren die Türen krachend zufielen.

Barbara Kahn, Marketing-Professorin und ehemalige Direktorin des Retailing Center an der Wharton School, fasst es gegenüber der New York Times so zusammen: »Die Einzelhändler, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, wissen, dass Amazon das Konsumentenverhalten für immer verändert hat. Einkaufen darf sich nicht länger wie Arbeit anfühlen.«

Der Einzelhandel schrumpft nicht, sondern entwickelt sich weiter. Eine Flut neuer Technologien, Netzwerke und Geräte ermöglicht es, Wert aufzuspüren und abzuschöpfen – durch eine personalisierte Kundenansprache, komfortable Bestellmöglichkeiten und vorausschauende Datenanalysen. Diesen Wert teilen die Marktneulinge über kollaborative Anwendungen fröhlich miteinander. Was jeder aus den frühen Experimenten lernte,...