Alltagsgötter

von: Michaela Feitsch, Freya Phoenix

BookRix, 2019

ISBN: 9783748702061 , 206 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Alltagsgötter


 

1. Kapitel


 

 

 

Schon seit Stunden zählte er die flachgedrückten Fliegen- und Mückenleichen mit denen er im Laufe der Jahre seine Bürowand tapeziert hatte. Es waren immer noch vierundsechzig an der Zahl, doch der nächste Anwärter auf einen Platz als Dekoelement an der Wall of Blame schwirrte bereits an der linken konisch zulaufenden Schuhspitze seiner Boots vorbei. Wenn Colt seine Beine nicht lässig wie John Wayne auf dem schweren Eichenholzschreibtisch abgelegt hätte, dann würde er dieses Biest wesentlich einfacher erwischen. Aber gut, er stellte sich der Herausforderung und übte sich weiterhin in Geduld. Denn was er in unerschöpflichem Ausmaß zur Verfügung hatte, war Zeit. Seit einigen Wochen schon betrat nicht ein einziger Kunde sein marodes Büro. Nicht einmal die leiseste Ahnung eines neuen Auftrags wehte der Wind durch die mit Milchglas versehene Tür. Die Fliege kreiste um die mattgoldene Spore seines robusten Lederstiefels. Sie überlegte bestimmt gerade, ob sie es sich darauf gemütlich machen sollte.

In Lethargie versunken beobachtete Colt das Schauspiel. Es gab nur eines, das Colt noch mehr hasste, als hier in dieser gottverdammten, von der globalen Erderwärmung aufgeheizten Stadt, festzusitzen. Und zwar, völlig demotiviert und ohne Auftrag, im von den Göttern verdammten Hellwood, vor Langeweile zu verrotten. Warum bloß kam er tatsächlich jeden Morgen erneut hierher, wo doch nichts als diese nervigen Viecher auf ihn warteten? Er hätte vor Langeweile sterben können. Wenn er denn auch tatsächlich sterben könnte.

Colt gähnte und die Fliege brummte gemächlich weiter. Ohne einen Anflug von Scheu passierte sie den Aufschlag seiner Jeans, surrte an dem ausgefransten Saum vorbei, immer weiter aufwärts, hinauf zu seinem Knie. Ein Schweißtropfen löste sich von Colts Stirn. Plötzlich kehrte Stille ein.

Der enorm fette Brummer eines wirklich ekelhaften Exemplars der Gattung der Zweiflügler hockte auf seinem Oberschenkel und starrte Colt aus seinen gigantischen Facettenaugen an. Leichte Übelkeit kroch aus Colts Magen in seinen Mund. Vorsichtig schielte er hinüber zum Fenster und bereute sofort, dass er es heute früh nicht geöffnet hatte. Doch hätte er das getan, dann wäre dieses widerliche Insekt mit Sicherheit nicht das Einzige, das jetzt sein Nervenkostüm strapazierte. Colt und die Fliege lieferten sich ein intensives Starrduell, wobei Colt sich seines triumphalen Sieges sicher fühlte. Das bewiesen immerhin die vierundsechzig Trophäen an seiner Wand.

Diese korpulente Ausgabe hier würde einen besonders gewaltigen Fleck auf der trüb vergilbten Wand hinterlassen. In Gedanken rieb er seine Handflächen aneinander und machte sich bereit endlich zuzuschlagen. Nur noch einen kurzen Moment Geduld. Nur keine zu hastigen oder unüberlegten Bewegungen ausführen.

In Zeitlupe richtete sich Colt in seinem Bürostuhl, so gut es ihm ohne hastige Bewegungen möglich war, auf. Seinen Rücken hielt er beinahe durchgestreckt, seine Beine zitterten vor der enormen Muskelanspannung. Innerhalb einer Sekunde drückte er seine Finger fest gegeneinander und krümmte die Handfläche zu einem Gefäß. Ein kurzer Ruck und schon im nächsten Augenblick schwirrte die Beute in seiner Faust.

Colt spürte ihre papierdünnen Flügelchen auf seiner Haut, der Beweis dafür, dass er sie erfolgreich in sein Handgefängnis gesperrt hatte. Die Fliege torquierte sich panisch und donnerte immer wieder gegen die Innenseite seiner Hand. Der ruhmreiche Gott erhob sich, begleitet von einem inneren Triumphgeschrei, ausgeführt von seinen imaginären abertausenden Fans. Der von Schmutzflecken übersäte Bürostuhl rollte durch die Wucht nach hinten und bremste erst ab, als er die gegenüberliegende Wand mit dem Fenster hinter dem Schreibtisch erreichte.

Gerade als Colt ihn wieder an seinen eigentlichen Platz zurückrollen wollte, erblickte er eine betörend schöne Frau, die genau unter dem Fenster stand und aus stechend blauen Augen direkt zu ihm hochsah. Die zuckende Fliege entwich aus seiner mittlerweile wieder geöffneten Faust. Schönheit war ja ein kaum einheitlich zu erklärender Begriff, sehr subjektiv, immer ausgehend vom jeweiligen Betrachter. Doch Colt war sich zu hundert Prozent sicher, nicht nur er empfand ihren Anblick als wunderschön. Auch jeder Andere, der sie gerade in dieser Pose gesehen hätte, würde das mit Sicherheit von ihr behaupten. Ihr kohlrabenschwarzes Haar wehte verspielt im Wind, während sie die darin verflochtenen Federn mit den filigranen Fingern ihrer linken Hand festhielt. Ihre Haut, wirkte wie matte Seide oder in Milch getränktes Porzellan. Der Sonnenschein, der ihre Wangen küsste, wirkte im Vergleich geradezu trist. Sie lächelte ihn an und nickte. Dann senkte sie ihren Kopf und ging weiter, bis sie im Eingang des maroden Gebäudes verschwand.

Voll Hoffnung, dieses bezaubernde Wesen klopfte jeden Moment an seine Tür, plumpste Colt ohne zu Zögern wieder zurück in seinen Schreibtischsessel, ließ sich hinüber zum Tisch gleiten und legte eilig die Beine in gewohnt männlicher John Wayne – Manier über die zerkratzte Holzplatte. Hastig griff er hinter sich und schnappte nach seinem Cowboyhut mit der durchlöcherten Krempe, Marke Stetson. Sein Bürostuhl kippte nach hinten. Colts Beine flogen unkontrolliert durch die Luft, er strampelte wie verrückt, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Zeitgleich erhaschte er einen Blick auf das Milchglas der Bürotür. Eine zarte Silhouette mit einem riesigen dunklen Umriss um den Kopf zeichnete sich darauf ab. Colt grapschte panisch nach seinem Hut, während er versuchte, sich mit der rechten Stiefelspitze unter dem Rand des Tisches einzuhaken. Er musste jetzt möglichst schnell seine Balance wiederfinden oder er würde vor dieser tollen Frau dastehen wie ein Idiot. Oder besser gesagt, er würde höchstwahrscheinlich gleich daliegen wie einer. Diese Blöße konnte und wollte er sich einfach nicht geben. Immerhin war er doch ein Gott. Einer unter vielen, zugegeben. Aber immerhin ein Gott. Da musste man doch wenigstens halbwegs autokratisch wirken, wenn potenzielle Kundschaft vor der Tür stand.

Dreimal ertönte ein glasig hohles Klopfgeräusch. Colt knallte beim dritten Klopfen unsanft zu Boden.

Er brachte gerade noch ein »Herein« heraus und rappelte sich umständlich auf, in der Hoffnung schneller wieder aufrecht zu stehen, als seine neue Kundschaft durch die Tür trat.

»Colt!«, funkelte ihn die atemberaubende Schöne ohne Umschweife an. Die Tür hatte sich wie von Zauberhand geöffnet. Nicht einen ihrer perfekten Finger hielt sie gegen das Türblatt gedrückt oder auf die Klinke gelegt.

Der nicht besonders souveränwirkende Gott kauerte halb über die Lehne seines Stuhls gebeugt. Colt hatte es nicht zustande gebracht, sich vollends aufzurichten. Gerade fühlte er sich ein klein wenig ertappt, als hätte er etwas Schlimmes angestellt. Noch keine Frau hatte es je geschafft, ihm das Gefühl zu geben, er benähme sich wie ein kleines Kind, das gerade unartig gewesen war und sich dafür zu schämen hatte.

Die junge Frau legte ein freches Grinsen auf und musterte ihn vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Sie tat das völlig unverwandt, starrte ihn direkt an, ohne Rücksicht darauf, ob diese Sondierung ihm vielleicht unangenehm zumuten mochte.

»Ich habe ewig nach dir gesucht«, sagte sie und legte eine kurze Pause ein, um ihm die Möglichkeit einer Antwort zu bieten. Doch Colt behielt seine Zunge verschluckt.

»Du versteckst dich ja ganz schön gut vor Deinesgleichen«, sprach sie weiter, nachdem Colt seine Zunge immer noch verschluckt hielt.

Sie schwenkte ihren Blick durch den winzigen Raum. Ihre Präsenz schien ins Unermessliche zu wachsen. »Hast dich gut angepasst wie ich sehe. Ich muss zugeben, dass ich Götter, die sich selbst leugnen noch nie ganz verstanden habe. Ihr amerikanischen Götter seid dafür das perfekte Beispiel. Zu jung und unerfahren, als dass ihr es endlich zustande bringt mit dem Fuß aufzustampfen und eure Machtstellung in dieser Welt einzufordern. Kein Wunder, dass du dich in dieser unmöglichen Stadt versteckt hältst, die kaum ein Gott freiwillig betritt. Gratuliere, du hast dein Ziel erreicht, du bist wirklich schwer zu finden und es ist fast unmöglich dich als das zu identifizieren, was du in Wahrheit bist.«

Colt schluckte schwer. Deinesgleichen hatte sie gesagt. Bedeutete das, was er dachte? Konnte es denn möglich sein und es handelte sich bei diesem umwerfenden Engel tatsächlich um eine Göttin? In der heutigen Zeit konnte einfach alles möglich sein. Ungefähr Zweidrittel der Götter lebte angepasst unter den Menschen, hielt sich verdeckt, ohne besonderes Aufsehen zu erregen. Colt zählte sich zu diesen Sechsundsechzig (komma sechs) Prozent. Das restliche Drittel rieb den Menschen tagtäglich ihre übermächtige Existenz unter die Nase und bestand darauf, als monumental und unabdingbar wahrgenommen zu werden. Natürlich war es unmöglich, alle Götter namentlich zu kennen. Sie waren schließlich kein Verein, der regelmäßig Mitgliedsnewsletter verschickte. Oder sich einmal im Monat zum Kaffeekränzchen traf. Noch dazu lebten...