Abdul Bashur und die Schiffe seiner Träume - Roman. Die Abenteuer und Irrfahrten des Gaviero Maqroll

von: Álvaro Mutis

Unionsverlag, 2019

ISBN: 9783293310681 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Abdul Bashur und die Schiffe seiner Träume - Roman. Die Abenteuer und Irrfahrten des Gaviero Maqroll


 

 


Seit Langem trage ich mich mit dem Vorhaben, einige Episoden aus dem Leben von Abdul Bashur zusammenzustellen, dem langjährigen Freund und Komplizen des Gaviero und Mitbeteiligten in etlichen der Unternehmungen, bei denen sich Maqroll regelmäßig in Gefahr brachte. In vielen davon spielte Bashur den Retter, indem er Maqroll mit der listigen Geduld, die einen der vorherrschenden Züge des levantinischen Charakters bildet, aus kritischen Situationen erlöste. Nun habe ich beschlossen, diese immer wieder auf unbestimmte Zeit verschobene Aufgabe des Chronisten endlich anzugehen. Der Grund dafür hat sich aus einem für das Auf und Ab und die zahllosen Überraschungen im Leben des Gaviero bezeichnenden Ereignis ergeben.

Als ich, unterwegs nach Saint-Malo, wo ich an einem Treffen von Freunden teilnehmen wollte, deren Ziel es ist, die Tradition der Abenteuer- und Reisebücher hochzuhalten, in Rennes umsteigen musste, verpasste ich den Anschluss und musste auf den nächsten Zug warten, der mich zu dem berühmten bretonischen Hafen bringen würde. Es fiel eisiger Dauerregen, sodass ich beschloss, mich nicht aus dem Bahnhofwartesaal wegzurühren und ein Buch von Michel Le Bris über das mittelalterliche Okzitanien zu lesen. Diese Säle sind auf der ganzen Welt gleich. Eine Niemandslandstimmung, der heruntergekommene Ausschank, wo man uns den bewussten dünnen, undefinierbar nach Verlassenheit schmeckenden Kaffee und die widerlichen Schnäpse der Region mit ihrem ziemlich unwahrscheinlichen Farbton und Aroma anbietet, der Kiosk mit den mehrere Wochen alten Zeitungen und Zeitschriften, die keine Beachtung mehr finden, da ihre Meldungen und die belanglosen, blassen Lokalbilder veraltet sind. Die Tourismusplakate an den Wänden empfehlen immer Kurorte mit einem Beigeschmack von Krankheit und Dekadenz oder zeigen verschneite Gipfel mit nichts sagenden Namen, die nicht im Geringsten zur albernen Großtat ihrer Besteigung laden. Die Fahrgäste auf den stets harten, wackligen Bänken warten so schicksalsergeben auf ihren Zug, als hätten sie jede Hoffnung aufgegeben, die Nacht zu Hause zu verbringen. Alle fügen sich in das, was geschieht, was immer es sei.

Auf einmal sagte jemand meinen Namen, in einer Ecke des Saals, wo ein Gasofen vergeblich gegen Kälte und Feuchtigkeit ankämpfte. Ich sah nicht, wer es war, und trat neugierig und zugleich verdrießlich näher, beunruhigt, dass mich im Bahnhof von Rennes, wo ich noch nie zuvor gewesen war, jemand kannte. Neben dem Ofen saß, einen etwa zehnjährigen Jungen in den Armen, eine Frau, die noch immer die Anmut der Frauen des Nahen Ostens zeigte, und lächelte mir schüchtern und ein wenig ängstlich zu. Ihre Gesichtszüge, der Akzent, etwas in ihren Bewegungen lösten auf dem Grund meines Gedächtnisses eine Welle verschwommener Erinnerungen aus.

»Ich bin Fatima. Fatima Bashur. Erinnern Sie sich nicht? Wir haben uns in Barcelona gesehen, als ich das Geld brachte, um Maqroll aus dem Gefängnis zu holen«, sagte sie halb lächelnd, halb betrübt. Ich beugte mich nieder, um sie auf die Wangen zu küssen, und setzte mich dann neben sie, während ich eilig irgendeine Entschuldigung murmelte, dass ich sie nicht gleich erkannt hatte.

Fatima Bashur. Warum muss der Zufall so oft den Tonfall eines bestürzenden Rufs der Götter annehmen? Die ganze Episode unserer Begegnung kam mir in den Sinn, mit der ungeordneten Hast dessen, was wir dem Vergessen überantwortet haben, um das labile Gleichgewicht unserer Tage zu wahren. Tatsächlich war Fatima, Abduls jüngere Schwester, mit der Summe in Barcelona erschienen, die ihr Bruder schickte, um die Kosten eines Prozesses zu bestreiten, der Maqroll den Gaviero beinahe für lange Jahre hinter Gitter gebracht hätte. Als er im kleinen Hafen von L’Escala eine Ladung Waffen und Sprengstoff löschte, die in Ersatzteilkisten für eine Fischkühlanlage versteckt waren, erschien, zweifellos im Voraus von einem Denunzianten benachrichtigt, die Hafenpolizei. Abdul und Maqroll hatten den Transport der Ladung mit einem Paar vereinbart, das angeblich seine Flitterwochen in Tunis verbrachte. In Wirklichkeit gehörten sie zu einer Anarchistenbande, deren Aktionszentrum damals Barcelona war. Seit längerem hatten sie die Fahrten des zypriotischen Frachters verfolgt, den die beiden Freunde auf dem Mittelmeer betrieben, und kamen zum Schluss, diese seien die idealen Figuren, um die Ladung an die Costa Brava zu bringen. Bashur war als Geisel in Bizerte geblieben. Als die Beschlagnahme des Schiffs mitsamt Maqroll und der Ausrüstung bekannt wurde, war das Paar wie vom Erdboden verschwunden. Bashur reiste nach Beirut ab und kratzte dort so viel zusammen, wie er konnte, um seinen Partner zu retten, der vor der spanischen Polizei darauf beharrte, einem Betrug zum Opfer gefallen zu sein und nicht gewusst zu haben, was die Kisten wirklich enthielten, die er nach L’Escala gebracht hatte. Aus berechtigter Vorsicht beschloss Abdul, eine seiner Schwestern zu schicken, anstatt selbst zu fahren, und übertrug die Mission Fatima, deren Ernst und Ausgeglichenheit aufs Beste zu dieser Aufgabe passte. Abdul hatte drei Schwestern: Yamina, schon verheiratet und mit einem Sohn, der an einer seltsamen, von den Ärzten beharrlich als Leukämie diagnostizierten Krankheit litt; Fatima, damals noch ledig, deren heitere, etwas zurückhaltende Anmut im ersten Moment jeweils kaum beachtet wurde, um dann, wie es bei mir der Fall war, zu einem obsessiven, rätselhaften Bild zu werden; und schließlich Warda, von blühender, umwerfender Schönheit, deren Geschichte teilweise zu erzählen ich bereits Gelegenheit hatte.

Von der Verhaftung Maqrolls erfuhr ich durch Bashur in Paris, wo ich mich, von Hamburg kommend, auf der Durchreise nach Hause befand. Sogleich änderte ich meine Pläne und brach nach Barcelona auf, um zu sehen, was wir für unseren Freund tun konnten. Als ich ihn im Modelo-Gefängnis besuchte, war er in eine seltsame Apathie versunken, was bei ihm unter solchen Umständen üblich war. Ich legte ihm Bashurs Pläne dar und erzählte ihm, in Kürze werde Fatima mit dem nötigen Geld kommen, um einen Anwalt zu nehmen. Er zuckte die Schultern und lächelte vage.

»Ich glaube nicht«, sagte er, »dass es sich lohnt, eine solche Summe auszugeben, die sie selbst dringend brauchen. Entweder ringt sich die Polizei dazu durch, mir meine Geschichte abzukaufen, die zugegeben ziemlich unglaubhaft klingt, oder man begräbt mich hier für weiß Gott wie viele Jahre. Ich habe es allmählich satt, ziellos durch die Welt zu fahren und ständig in Scherereien zu geraten, denen ich im Grunde wenig abgewinnen kann. In diesen Tagen habe ich darüber nachgedacht, dass es vielleicht an der Zeit ist, das Roulette anzuhalten und das Schicksal nicht weiter herauszufordern. Nun ja, ich weiß nicht. Wir werden sehen.« Ich mochte ihn nicht daran erinnern, dass ich schon bei früheren Gelegenheiten dieselben oder ähnliche Worte von ihm gehört hatte.

Doch er kehrte immer wieder zu seinen Abenteuern zurück. Solche Erwägungen waren seine Sache nicht. Ich teilte ihm nur mit, ich bliebe in Barcelona, bis Fatima käme und ich erführe, was sie unternehmen würde, um ihn freizubekommen. Er stimmte mit resignierter Miene zu, stand auf, warf sich, während er sich mit einer Handbewegung verabschiedete, die Lederjacke über die Schultern und verschwand durch die Tür des Besuchszimmers.

Zwei Tage später rief mich Fatima vom Flughafen aus an. Sie hatte ihre Reise vorverschoben, und man hatte vergessen, es mir mitzuteilen. Ich gab ihr die Adresse meines Hotels und änderte dann an der Rezeption das Datum ihrer Reservierung. Später schreckte mich ein vorsichtiges Klopfen an der Tür aus dem Halbschlaf, in den ich nach dem Mittagessen gefallen war. Ich machte auf und sah mich einer groß gewachsenen Frau mit kräftigen, schlanken Gliedern und geraden Schultern gegenüber, die ihr ein leicht martialisches Aussehen verliehen und auf denen ein Kopf saß, dessen Proportion und Gesichtszüge mich an indohellenische Skulpturen erinnerten. Ich bat sie herein, und sie nahm mit einer schlichten Vertraulichkeit Platz, die mir aus irgendeinem Grund rührend erschien. Sie sprach ein korrektes Französisch, wie es von fast keinem Franzosen mehr zu hören ist, dagegen von einigen Libanesen und Syrern des Handel treibenden Großbürgertums. Ich berichtete ihr von meinem Gespräch mit Maqroll, und sie sagte bloß: »Es ist ganz natürlich, dass er sich so fühlt. Immer passiert ihm das Gleiche. Irgendwie werden wir ihn da schon herausholen.« In ihren Worten lag eine derartige Sicherheit, dass sich meine Meinung über das Schicksal des Gaviero mit zwar grundlosem, aber nichtsdestoweniger festem Optimismus tönte.

Am nächsten Tag begannen wir alles Nötige in die Wege zu leiten. Am selben Nachmittag suchten wir einen Anwalt auf, dessen Ruf vor allem in der erfolgreichen Verteidigung von Ausländern gründete, die mit der spanischen Justiz in Konflikt geraten waren. Mehrere Wochen lang pilgerten Fatima und ich in Begleitung des beflissenen Juristen von einer Behörde zur andern, legten Schriftsätze vor und unterhielten uns mit den verschiedenartigsten Beamten. Es war eine Parade von reservierten und undurchdringlichen Gesichtern, die nicht den geringsten Anlass zur Hoffnung gaben. Unterdessen merkte ich allmählich, dass Fatima Bashurs Gesellschaft all diesen Gängen einen ganz besonderen Reiz verlieh. Ich muss erwähnen, dass ich eine Abneigung habe gegen jeden Kontakt mit der Welt der Justizbürokratie. Nach einem Abendessen mit Fatima im Restaurant ›La Puñalada‹, bei dem wir etwas persönlichere Themen jenseits des Falls unseres Freundes...