Schandflut - Kriminalroman

von: Helge Weichmann

Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN: 9783839261989 , 400 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Schandflut - Kriminalroman


 

Königswinter, 14. Juni 1966


Die Kugeln schoben sich träge voran, Dutzende, Aberdutzende, es mussten Hunderte sein. Die orangefarbenen Bälle sahen fremd aus im trüben Rheinwasser, bunte Kleckse im graublauen Einerlei.

»Ich frag’ mich, wo die so viele von den Dingern hergekriegt haben.« Bodo Schmidtskath beobachtete die Masse an Kugeln durch den Kamerasucher. Die Optik vergrößerte den Bildausschnitt, alles schien zum Greifen nah. »Ich meine, 20 Orangen sind kein Problem, 50 auch nicht, aber die schmeißen ja Unmengen davon ins Wasser. Die müssen einen ganzen Laster davon besorgt haben.«

Rieke Vong, die eigentlich Ulricke mit ck hieß und ihren Namen hasste, hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Nordmende Globetrotter, den sie in ihrer Armbeuge hielt und schwenkte, um den Empfang zu verbessern. WDR 2 sendete über UKW, das Signal war hier am Rand des Siebengebirges immer wieder unterbrochen. Rauschen und Kratzen übertönten die Stimme des Sprechers, der über die aktuellen Geschehnisse in Bonn berichtete.

Mit hochgerecktem Radio drehte Rieke sich um sich selbst, schließlich ging sie ein paar Meter und stieg die Uferböschung hinauf. Hier wurde der Empfang besser, aus dem Rauschen schälte sich eine blecherne Männerstimme.

»… haben wir noch keine neuen Informationen über den Verbleib. Auf der Terrasse des Bundeshauses stehen die Menschen dicht an dicht, auch an den Straßen parken Autos, man sieht Schaulustige, jung und alt, Familien mit Kindern, viele mit Ferngläsern, einige tragen Fotoapparate bei sich. Im Wasser treiben Orangen, immer neue Früchte werden vom Fluss herbeigespült. Die städtische Ordnungsbehörde hat mitgeteilt, dass es zumeist jugendliche Störenfriede sind, Halbstarke, die flussaufwärts diese Vielzahl an Orangenfrüchten ins Wasser werfen. Durch Kraftwagen und Handkarren sind sie schnell und mobil, sodass die Behörden ihrer nicht einfach habhaft werden können.«

»Weißte, was mir mein Papa erzählt hat?« Bodo nahm sein Auge nicht vom Sucher, während er mit Rieke redete. »Die haben gestern sogar ein Luftschiff gehabt, irgendwo gemietet oder so, und dann haben sie die Orangen von oben reingeschmissen ins Wasser. Stell dir das mal vor, was für ein Aufwand!«

Rieke winkte ab und lauschte der Stimme aus dem Radio. Das Rauschen wurde wieder stärker, sie bog die Antenne in eine andere Richtung. Erfolglos. Verärgert ging sie die Böschung herab.

»Mistempfang hier. Das ist eine blöde Stelle, eine ganz blöde. Woher sollen wir bitte schön wissen, was los ist, wenn wir nichts hören?«

»Da haben wir doch lang und breit darüber geredet.« Bodos Knochen knackten, als er seine unbequeme Lauerposition hinter der Kamera aufgab und sich streckte. »Hier haben wir die besten Chancen auf ein gutes Bild. Weiter unten sind zu viele Leute, und flussaufwärts kommen wir nicht nahe genug ans Wasser ran.«

Tatsächlich hatten sie gestern mit Bodos Mofa eine Stunde lang gesucht, bis sie diesen Platz entdeckt hatten. Ein schmaler Streifen Kies erlaubte es ihnen, direkt am Wasser zu stehen, Bäume schotteten sie von der Straße ab. Am gegenüberliegenden Ufer erhoben sich die Häuser von Mehlem, dem südlichsten Stadtteil von Bonn. Auf ihrer Seite des Rheins gab es nur Ufergrün und die Bundesstraße 42, die Siedlungsgrenze von Königswinter lag einige Hundert Meter flussabwärts. Hinter ihnen erhob sich der bewaldete Rücken des Drachenfelses, so nannten ihn die Leute. Kein anderer Mensch war zu sehen, sie hatten den Platz ganz für sich allein.

»Und hey, stell dir vor, wenn wir wirklich ein Foto kriegen. Dann haben wir endlich Bakschisch, wie wir wollten!«

›Bakschisch‹, das war ihr Ausdruck für Geld. Rieke hatte das Wort aus einem Buch, Bodo fand es witzig, und seither redeten sie von Bakschisch, wenn sie schauten, was sie am Wochenende unternehmen konnten und ob sie sich einen Abstecher ins Eiscafé gönnen durften.

Bodo war 17, Rieke 16. Seit einem knappen halben Jahr waren sie ein Paar, das durfte natürlich keiner erfahren, am wenigsten Riekes Eltern. Aber mit dem Bakschisch, das sie für eine gelungene Aufnahme bekommen würden, könnten sie sich ein Stück Freiheit kaufen, das wussten sie ganz genau. Einen gemeinsamen Urlaub vielleicht, eine Woche Italien oder so. Den Eltern würden sie eine Geschichte auftischen, und dann … Spaghetti und Rotwein in Rimini, nachts allein am Strand, das Meer rauscht … Auf Bodos Gesicht machte sich ein verzücktes Lächeln breit, während er sich seinen Tagträumen hingab.

»Hallo? Schaust du endlich mal?« Rieke holte ihn in die Wirklichkeit zurück und deutete mit hochgezogenen Brauen auf die Kamera. Er gab ihr einen schnellen Kuss und beugte sich wieder nach unten zum Sucher. Die Agfa Ambiflex gehörte seinem Vater, der das Fotografieren seit vielen Jahren als Hobby betrieb und eine teure Ausrüstung besaß. Bodo hatte ihm etwas von einem Schulprojekt vorgeflunkert, woraufhin sein Vater ihm tatsächlich die Kamera, das Stativ und das hochgeschätzte 240er Teleobjektiv lieh. Mit seinem letzten Bakschisch kaufte Bodo zwei Kodak Ektachrome, während Rieke ihrem großen Bruder den Nordmende Globetrotter abschwatzte. Dergestalt ausgerüstet brummten sie mit dem Mofa zu ihrem Beobachtungsposten und behielten den Rhein nun schon zwei Stunden scharf im Blick. Es war kurz vor zwölf mittags. Eigentlich hatten sie Schule, doch sie hatten gemeinsam entschieden, dass es heute Wichtigeres gab als Unterricht. Eine solche Gelegenheit kam so schnell nicht wieder!

»Diese blöden Orangen. Da wirst du ja verrückt beim Gucken«, murmelte Bodo. Die Früchte tanzten im Wasser, einige hatten sich in Strudeln verfangen und wirbelten durcheinander. Rieke strengte ihre Augen an. Sie suchte einen orangefarbenen Ball, der sich auf ungewöhnliche Art bewegte. Der vielleicht stillstand oder gegen den Strom schwamm. Doch nein, keine Chance, die bunten Punkte narrten ihre Augen. Sie musste es ihrem Freund und dem starken Teleobjektiv überlassen, nach der einen, ganz besonderen Kugel zu suchen. Mit gestrecktem Arm und hoch erhobenem Radio kletterte sie wieder die Böschung hinauf, um eine Stelle zu finden, an der die Reporterstimme gegen das Rauschen ankam. Das Nordmende pfiff und knisterte, Rieke kam sich doof vor, als sie sich drehte und den Apparat schwenkte. Wie in der Tanzschule, und die hatte sie noch nie gemocht.

Bodo behielt derweil den Fluss im Auge und drehte am Schärfering. Diese Umweltschützer und ihre Orangen! Na ja, andererseits – eigentlich machten diese Leute ja alles richtig. Zu viel war passiert in den letzten vier Wochen: die Stangen, die Tennisnetze, die Radioreportagen, die Fernsehnachrichten. Die Menschen am Ufer. Nein, irgendwann reichte es.

Aber hier und jetzt ging ihm die Orangenflut auf die Nerven. Schon wieder trug der Fluss eine neue Ladung heran, eine schwimmende Armee in farbiger Uniform. Bodo konzentrierte sich auf das, was er im Sucher sah. Da, bewegte sich einer der bunten Bälle nicht auf eine seltsame Art? Schnell tastete er nach dem Auslöser der Agfa, seine Hände wurden feucht. Nein, Fehlalarm, die Orange schwappte weiter flussabwärts wie ihre zahllosen Geschwister.

Er zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen. Das Medieninteresse war riesig, jeder Sender in Deutschland brachte Berichte, es gab sogar Anfragen aus dem Ausland. Doch gute Fotos waren Mangelware und wurden teuer gehandelt. Sehr teuer. Bisher gab es nur Schnappschüsse in Schwarz-Weiß, oft verwackelt oder überbelichtet. Er wusste, dass er mit der Ausrüstung seines Vaters besser ausgestattet war als mancher Berufsfotograf. Eine gelungene Bilderserie in Farbe – damit könnte er bei jeder großen Zeitschrift anklopfen und seinen Preis nennen. Dann wäre endlich Bakschisch da, um mit Rieke die Zukunft planen zu können.

Mitten in seine Gedanken platzte die Stimme seiner Freundin. Rieke stand oben auf der Böschung und hatte eine Stelle gefunden, an der der Empfang gut war.

»Eben kommt ’ne aktuelle Meldung rein!«, rief sie aufgeregt. »Und zwar, warte …«, ihre Ohren klebten förmlich an dem Radio, »… es ist, eh, sie sagen …« Wieder hörte sie zu, während Bodo die Kamera wie ein Maschinengewehr schwenkte, als wollte er den Fluss in seiner ganzen Länge ablichten. Ein paar Sekunden tönte nur die krächzende Stimme aus dem Lautsprecher, dann ließ Rieke das Gerät langsam sinken. »Am Alten Zoll.« Ihre Stimme klang enttäuscht. »Gerade eben, es ist eine Direktübertragung.«

Bodo spürte, wie die Anspannung aus seinem Körper wich und sich Ernüchterung breitmachte. Der Alte Zoll lag fast zehn Kilometer flussabwärts mitten im Bonner Stadtgebiet. Zu weit weg. Viel zu weit. Dazu kam, dass dort jede Menge Trubel herrschte, Menschen, Reporter, Fotografen. Nun würde jemand anders die Bilderserie schießen. Sie hatten sich den falschen Platz ausgesucht.

Wortlos trottete Rieke heran, ihrem Gesicht sah Bodo an, dass sie genauso niedergeschlagen war wie er. Aus der Traum vom Bakschisch.

»He, pack mal an.« Bodo hob das schwere Metallstativ in die Höhe. Wenn sie sich beeilten, schafften sie vielleicht noch die letzte Stunde in der Schule und konnten sich eine Ausrede für ihr Fehlen einfallen lassen.

Mitten in der Bewegung stockte er, als Riekes Hand ihn packte. Der Blick seiner Freundin richtete sich starr auf den Fluss hinter ihm. »Da …«, mehr brachte sie nicht heraus. Er fuhr herum und bekam große Augen. Was war das denn?

Hektisch knallte er das Stativ auf den Boden und drehte die Kamera herum. Der Fokusring, schnell! Kaum hatte er das Bild scharfgestellt, da schnappte er auch schon nach Atem. Das...