Bonner Verrat - Kriminalroman

von: Alexa Thiesmeyer

Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN: 9783839261880 , 314 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Bonner Verrat - Kriminalroman


 

Bärbel


»Diesen Raum nutzen wir ausschließlich privat.« Der Mann mit dem grauschwarzen Haar, das im Nacken zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengefasst war, zog die Tür des Wintergartens langsam zu. Er hatte Bärbel nur einen kurzen Blick hineinwerfen lassen und die Hand nicht von der Klinke genommen.

Und damit sollte die Sache erledigt sein? Ging da nicht noch was?

»Ach, bitte, Herr Freiturm …« Bärbel, für die meisten Barbara oder Frau Thorgast, seufzte und schickte ein trauriges Lächeln hinterher. Sie wusste um dessen Wirkung. Ihre Ehemänner waren daraufhin regelmäßig eingeknickt. »Darf ich nicht doch hineingehen? Nur ganz kurz? Dieser unglaubliche Blick zum Garten …«

Die Tür mit dem querovalen Milchglasfenster im oberen Teil öffnete sich wieder. Bärbel trat über die Schwelle.

Ja, wirklich, dachte sie, dieser Raum muss es sein! Er war nicht groß, aber auch nicht zu klein. Hier wären sie ganz für sich. Sie hatte den Wintergarten, dem verschnörkelte Holzstreben und bunte Zierscheiben am Rand der Fensterteilungen eine besondere Atmosphäre verliehen, rein zufällig entdeckt, als sie zur Toilette gegangen war und die falsche Tür erwischt hatte. Und nun wollte sie nichts anderes für ihr Fest.

Es passte einfach alles: Das Restaurant »Der Rabe« in der Königstraße war nah am Zentrum, das Gründerzeithaus strahlte den Charme vergangener Zeiten aus und die Küche galt als hervorragend, wenngleich zu Preisen, die für Bärbel normalerweise nicht infrage kamen.

Immerhin hatte sie den Eindruck, dass ihr Vorhaben Herrn Freiturm, der anscheinend der Chef des Hauses war, faszinierte. Hut ab, Frau Thorgast, hatte er zu Anfang ihres Gesprächs gesagt. Es sei ungewöhnlich, sich nach mehr als fünf Jahrzehnten mit Menschen zu treffen, die man aus den ersten vier Schuljahren kannte und danach nie wiedergesehen hatte. Und dass sie solche Mühe darauf verwandt habe, diese Leute zu finden!

»War Ihre Schule hier in der Nähe?«, fragte er.

»Maarflach, Nähe Hofgarten, ›Volksschule‹ sagte man damals.«

Möglich, dass er das Bonn der 50er- und 60er-Jahre selbst kannte. In seiner Stimme schwang ganz leicht die rheinische Sprachmelodie mit, wie bei vielen Menschen, die hier geboren waren oder seit Langem hier lebten. Er musste mindestens Mitte 70 sein, die hellbraunen Augen und den Mund umgaben eine Menge feiner Fältchen. Ihre Großmutter hätte gesagt: Das ist ein Herr – mit dieser edel gewölbten Stirn, den gepflegten schlanken Händen und der liebenswürdigen Art.

Bärbel trat ans Fenster. Der Wintergarten befand sich im Hochparterre, das Gelände dahinter lag anderthalb bis zwei Meter tiefer. Direkt am Haus war ein kleiner gepflasterter Hof, der um die Ecke herum verlief und dort mit der Einfahrt verbunden sein musste, die man von der Straße aus sah. Der Garten war kürzer als der, in dem sie unzählige Stunden ihrer Kindheit verbracht hatte, aber ähnlich angelegt: Im Vordergrund und an den Seiten Blumenbeete, in der Mitte eine ovale Rasenfläche, umgeben von einer niedrigen Buchsbaumhecke, drum herum ein schmaler Pfad und vor der Grenzmauer zum hinteren Nachbargrundstück eine dichte Reihe Sträucher.

Unter dem Obstbaum in der Mitte des Rasens saß ein hagerer Mann in eine Wolldecke gehüllt auf einem Gartenstuhl. Er mochte gut zehn Jahre älter sein als Freiturm und trug eine graue Walkjacke und eine altmodische braune Ohrenklappenmütze.

Trotz der Entfernung trafen sich ihre Augen. Er winkte Bärbel zu und erhob sich umständlich. Die Decke fiel aufs Gras. Er trat an den Rollator, der vor einer Lücke in der Hecke stand, und schob ihn aufs Haus zu. Bärbel hatte den Eindruck, dass er ohne diese Gehhilfe ausgekommen wäre. Vielleicht hatte er Angst zu stolpern.

»Mein Schwiegervater«, sagte Freiturm hinter ihr. »Ich fürchte, er kommt rauf. Er will immer wissen, was läuft.«

Aus der Düsternis des schmalen Flurs trat in goldfarbenen Ballerinas zunächst eine Frau an Freiturm heran, rotwangig und korpulent, mit tizianrotem Haar und großer Brille, bedeutend jünger als er, mit tief ausgeschnittener Schlabberbluse und fünfreihiger Perlenkette. Keine Dame, hätte Omi gesagt, auch wenn sie bemerkt hätte, dass die wurstigen Finger hübsche Brillanten trugen.

»Meine Frau«, erklärte Freiturm.

»Georg«, tönte es eindringlich, fast vorwurfsvoll aus dem Mund mit den kirschroten Lippen, »der Wintergarten ist für Familie und Freunde!« Das Ende des Satzes wurde von einem blubbernden Ton untermalt, als stiegen Luftblasen aus den Tiefen ihres Doppelkinns herauf.

»Das weiß Frau Thorgast, Anita.«

»Wir sind alle starke Esser und lieben guten Wein«, behauptete Bärbel kühn. »Das würde sich für Sie lohnen.«

Das kam ihr vor wie ein Wedeln mit Hunderteuroscheinen. Aber so falsch konnte es nicht sein. Ein Freund hatte gemeint, das Restaurant sei nicht gut besucht.

Aus dem Gastraum kam der Ruf, Frau Freiturm werde am Telefon verlangt. Eilig verschwand die Chefin im Flur.

»Wie viele seid ihr denn?«, wollte Georg Freiturm wissen.

»Elf«, erwiderte Bärbel und spürte, wie ihre Miene sich verfinsterte.

Es sollten zwölf sein! Dieses Dutzend war wenig genug. Von den 40 Mitschülern hatte sie nicht mehr aufgetan, abgesehen von dem Dreizehnten auf dem fernen Hawaii. Verbreitete Namen wie Hans Müller und Vornamen, zu denen ihr kein Nachname einfiel, hatten ihr nichts genutzt. Bei den Frauen waren die Ehenamen das Problem und Eltern, die man fragen konnte, lebten größtenteils nicht mehr. Dennoch hatte sie es geschafft, ein paar E-Mail-Adressen und Telefonnummern aufzutreiben. Sie hatte freudige Antworten von Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien erhalten – von der kinderreichen Garten-Designerin bis zur preisgekrönten Wissenschaftlerin, vom politisch aktiven Elektriker bis zum Regisseur von Spielfilmen. Zehn Frauen und Männer hatten zugesagt und würden zum Teil aus Berlin, Hamburg und München anreisen. Nur von Uwe, an dem ihr besonders lag, war keine Reaktion gekommen.

»Vielleicht auch zwölf«, fügte Bärbel hinzu.

Ich kriege dich noch, Uwe Ohlbruck, dachte sie, obwohl ich nur eine Nummer habe, unter der ich dich nicht erreiche, und eine E-Mail-Adresse, an die ich vergeblich die Einladung und mein Foto geschickt habe.

Georg Freiturm lächelte. »Wenn Sie sich zuletzt mit zehn oder elf Jahren gesehen haben, erkennen Sie die anderen nicht wieder. Das sind Wildfremde. Aber die Idee ist schön, wirklich schön.«

Hinter ihm erschien geräuschlos wie ein Geist der Mann aus dem Garten im Türrahmen. Die hässliche Mütze hatte er abgelegt, das weiße Haar lag wie ein breiter Kranz um die kahle Mitte. Seine Augen hinter der randlosen Brille zogen sich zusammen. Das wirkte argwöhnisch. Vielleicht lag es nur daran, dass er aus dem dunklen Flur ins Tageslicht des Wintergartens blickte.

Für einen Mann seines Alters sah er richtig gut aus, fand Bärbel. Die leicht gebräunte Haut war erstaunlich glatt, die Gesichtszüge und die gebogene Nase waren scharf geschnitten, das magere Kinn und der schmallippige Mund wirkten energisch. Auch ein Herr nach Omis Maßstäben. Schwer vorstellbar, dass er der Vater von Anita Freiturm war, die wie ein Pudding zu zerfließen schien. Einzig die Nasen wiesen Ähnlichkeit auf, wenngleich seine hervorstach und ihre zwischen den aufgedunsenen Wangen fast versank.

Bärbel nickte ihm grüßend zu, bevor sie das Gespräch mit Freiturm fortsetzte. »Umso ärgerlicher, wenn man an einen der Mitschüler mit E-Mails und Anrufen nicht herankommt. Ich habe mich wirklich bemüht. Und ich gebe nicht auf. Das wäre der Zwölfte.«

Sieben Mal hatte sie angerufen, unzählige Male klingeln lassen. Einmal hob eine Frau ab und sagte, er sei nicht da, sie richte ihm aus, dass er zurückrufen solle. Aber er rief nicht zurück. Beim letzten Versuch bekam Bärbel das Gleiche zu hören und hatte den Verdacht, er sei im Hintergrund. Uwe, neben dem sie vier Jahre lang die Schulbank gedrückt hatte, ausgerechnet er sollte nicht zum Klassentreffen kommen? Das war unerträglich.

Georg Freiturm strich sich über die Stirn. »Will er nicht? Keine Lust?«

»Wenn jemand auf Hawaii lebt, verstehe ich, dass er nicht kommt«, sagte Bärbel. »Uwe wohnt aber hier in Bonn, und als pensionierter Lehrer müsste er Zeit haben.«

»Ah, Lehrer.«

»Clara-Schumann-Schule. Mathe und Physik.«

»Vielleicht kenne ich ihn. Meine Jüngste war zwei Jahre auf der Clara, ist ja quasi um die Ecke. Wie heißt er denn?«

»Uwe Ohlbruck. Wenn er keine Lust hat, soll er mir das sagen, statt sich am Telefon verleugnen zu lassen.« Eine Welle des wohlbekannten Unmuts überkam sie. »So muss ich ja denken, es steckt mehr dahinter.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Freiturm.

»Das ist nur so ein Gefühl.«

»Wollen Sie den Mann nicht lieber in Ruhe lassen?«

»Es würde mich ewig wurmen, nicht alles versucht zu haben«, entgegnete Bärbel.

Der Schwiegervater, der auf den Rollator gestützt mit unbewegtem Gesicht in der Tür stand, hüstelte. Er schien etwas sagen zu wollen. Georg Freiturm trat einen Schritt zurück, als wäre es selbstverständlich, dem älteren Mann die Bühne zu überlassen.

»Mein Name ist Rolf Plötting«, stellte der sich vor. »Ich habe den Laden hier aufgebaut.«

Seine Stimme klang überraschend jung. Bärbel konnte nicht heraushören, woher er stammte, und tippte auf Niedersachsen. Sie ging auf ihn zu...