Brauner Nebel - Kriminalroman

von: Jörg Reibert

Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN: 9783839261583 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Brauner Nebel - Kriminalroman


 

Kapitel 1


Freitag, 14. März 1930

Zellengefängnis Moabit, Lehrter Straße, Berlin

Ping,

Ping,

Ping,

Ping!

Emil Bachmann wälzt sich auf die andere Seite. Der eiserne Bettrahmen quietscht, die Drahtbespannung gibt unter seinem Körpergewicht nach. Er zieht sich die abgenutzte Wolldecke bis zu den Ohren hoch. 5:30 Uhr, Weckzeit, wie an jedem Arbeitstag der Woche. Wachtmeister Jankowski, der Schinder, scheppert mit dem großen Schlüsselbund weiter geräuschvoll über die Stäbe der Geländer.

Ping,

Ping,

Ping,

Ping!

Nur einmal kurz liegen bleiben dürfen, nur noch ein paar Minuten Ruhe. Aber die sind ihm nicht vergönnt. Der gesamte Zellenbau erwacht. Jetzt hört er weitere Schritte auf dem Gang, das Eilen von Stiefeln der Aufseher und das Klappern der Häftlingspantinen. Die Metallkarre des Kalfaktors rattert durch den Trakt. Bachmann schlägt die Augen auf. Direkt vor seiner Nase zieht sich ein feines Spinnennetz aus Rissen über den Putz. Unter ihm, auf der Pritsche seines Zellengenossen Helmut Keßler, kommt ebenfalls Leben in die Matratze. Er dreht sich von der Wand weg und schaut über den Rand des Bettes. Dort hängen zwei Beine heraus, die in grauen Drillichhosen stecken. Die rechte Socke hat an der Ferse ein ausgefranstes Loch. Das sollte er gefälligst mal stopfen. Jetzt setzt auch das Klopfen der Häftlinge gegen die Heizungsrohre ein, mit dem sie sich von Zelle zu Zelle Zeichen geben.

Tak.

Tak, Tak, Tak.

Tak.

Eine Stimme ertönt auf dem Gang, so laut, dass sie nur von einem Aufseher herrühren kann. Wahrscheinlich bekommt der Kalfaktor seinen üblichen Anschiss, weil er mit der Essensausgabe in Verzug ist. Eine Metalltür fällt krachend ins Schloss. Keßler erhebt sich mit leichtem Stöhnen. Er sieht zu Emil hoch und kratzt sich die Brust.

»Hmm!«, brummt Keßler ihm als Morgengruß entgegen. »Raus aus der Furzmolle, damit wir die Betten hochklappen können.«

»Kannst mich mal«, entgegnet Bachmann und zieht sich die muffige Decke übers Gesicht.

»Selber«, kontert Helmut Keßler. Er tritt an das Blechschapp neben der Zellentür und klappt den Deckel nach oben. Emil hört den Urinstrahl in den darunter stehenden Eimer auftreffen. In der kleinen Zelle fängt es an, scharf zu riechen. Ein paar kostbare Sekunden bleiben ihm noch, dann muss er raus.

Helmut Keßler gießt einen Schwall Wasser aus der Kanne in seine Blechtasse, nimmt sich die Zahnbürste und hockt sich auf den Blechkasten, um sein Morgenei zu legen. Derweil steigt Emil aus dem Bett, faltet die Decke vorschriftsmäßig und deponiert sie auf dem Hocker. Helmuts Zudecke wischt er mit einer Armbewegung auf den Fußboden, dann klappt er die Metallrahmen der Betten an die Wand und legt die Riegel vor. Derart verschlossen bleiben sie bis zum Abend.

»Mach hinne, ich muss auch mal«, knurrt er in Richtung seines Zellennachbarn. Er nimmt sich die Waschschüssel und stellt sie auf den Tisch, um mit der Morgentoilette zu beginnen. Zuerst wickelt er sich den Lumpen vom Hals, den er nachts als Schalersatz gegen die feuchtkalte Luft trägt. Dann zieht er die Anstaltsjacke und das Hemd aus und legt beides auf den Hocker. Mit freiem Oberkörper beugt er sich über den Trog und schüttet sich mit der hohlen Hand Wasser auf die Haut.

Keßler hat seine Sitzung beendet und räumt die Zahnputzutensilien auf das kleine Regalbrett, das den Gefangenen für ihre persönlichen Dinge zur Verfügung steht. Als er in die Hocke geht, um seine Decke aufzuheben, lässt er einen lauten Furz fahren. Emil verdreht entnervt die Augen. Was gäbe er manchmal für eine Einzelzelle – oder wenigstens für einen anderen Mithäftling, nicht einen solchen Berufsverbrecher wie den Keßler, den sie vor ein paar Monaten zu ihm gesteckt haben.

Da klackt an der Zellentür der Judas, das kleine Guckfenster, und Emil hört, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wird: Aufschluss zum Frühstück. Doch wehe, einer von ihnen würde jetzt von selber die Zelle verlassen, das gäbe eine hausinterne Strafe und die ganzen mühsam verdienten Vergünstigungen wären mit einem Schlag gestrichen. Einzig der Kalfaktor darf die Tür aufmachen, um das Essen hereinzustellen.

Wenigstens können die Gefangenen danach der engen Kammer entfliehen, da sie zur Arbeit in der Gefängnistischlerei eingeteilt sind. Für neun Stunden, zuzüglich der Pausen, dem Hofgang und der Unterrichtszeit entkommen sie diesem Loch. Doch dem Mithäftling Keßler entrinnt Emil dabei nicht. Der gehört nach seinem Empfinden zur Strafe dazu. Früher gab es nur Einzelzellen und ein absolutes Schweigegebot, da man nicht wollte, dass sich die Häftlinge gegenseitig auf dumme Ideen bringen. Seit dem Krieg ist das abgeschafft worden, weil mit der neuen Zeit auch der Gedanke der Humanität in den Gefängnissen Einzug gehalten hat. Der Gefangene wird nicht mehr verwahrt, nein, er soll sich bessern und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden! Wahrscheinlich kommen die Neuerungen jedoch eher daher, dass zu viele Häftlinge einen Koller gekriegt hatten. Zuerst fängt es damit an, dass die Leute mit sich selbst sprechen, irgendwann werden sie gewalttätig, schreien und schlagen um sich. Das kriegt man mit Dunkelarrest als Disziplinarstrafe auch nicht richtig in den Griff. Die Menschen, die nach Jahren entlassen werden, sind halb verblödet und zu nichts mehr zu gebrauchen. In den Zuchthäusern ging es früher sogar noch strenger zu als hier im Gefängnis. Normalerweise wäre Emil Bachmann ohne Wenn und Aber in solche Haft genommen worden, doch sein Anwalt hat vor Gericht auf »Gesinnungstäter« plädiert und sich letztendlich mit dem Richter entsprechend verständigt. Nur weil Bachmann Mitglied der SA ist und seine Opfer zufällig Juden waren, kriegt er nun Vergünstigungen und muss eine Stunde am Tag weniger arbeiten, als es im Zuchthaus der Fall gewesen wäre. Dabei wäre es ihm sogar recht, wenn er länger malochen dürfte. Hauptsache raus aus der Zelle, diesem stinkenden zehn Quadratmeter großen Loch, in dem er sich mit dem Proleten Helmut Keßler jede Nacht um die Ohren schlagen musste. Einem Dieb und Betrüger obendrein, der bereits mehrfach verurteilt wurde. Selbst der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, der eine Zuchthausstrafe mit sich gebracht hätte, wäre Emil lieber gewesen. Was hat er denn von seinen Rechten bisher gehabt? Die haben ihn schon früher nicht vor Krieg und Not bewahrt, und dass ihn jemand auf der Straße oder auf der Arbeit ordentlich mit »Herr Bachmann« anreden muss, ist ihm nicht wichtig.

An der Mauer zum Gang rumpelt es. Die Klappe zum Toilettenschapp wird durch einen Häftling von außen geöffnet und der schwappende Notdurftkübel aus seinem Blechgehäuse gezogen und geleert. Emil ist froh, dass er eine ordentliche Beschäftigung hat. Auch wenn die Beförderung zum Kalfaktor unter den Gefangenen als erstrebenswert gilt – fremder Leute Ausscheidungen zu entsorgen hat er schon beim Kommiss gehasst. Die beiden Zelleninsassen stehen sich gegenüber und warten auf das Eintreffen der Morgenverpflegung. Gekämmt und gewaschen, die abgewetzte Anstaltskleidung schlotternd um die dünnen Körper, verbringen sie die nächsten Minuten, wie schon so viele zuvor, mit Warten.

»Morgensuppe!«, meint Keßler schlecht gelaunt. »Wetten die würden die Scheißeeimer noch in der Küche verkochen, wenn sie könnten?«

»Ach, halt die Fresse«, knurrt Emil Bachmann angeekelt zurück. Noch 30 Minuten, denkt er sich, und wir werden in die Tischlerei im Keller geführt. Dann muss der Mann arbeiten und dabei die Klappe halten. Dort würde später auch das Mittag- und Abendessen verabreicht. Erst um 19 Uhr ginge es zurück in die Zelle. Dort müsste er noch drei Stunden lang diesen Idioten ertragen bis zum Zapfenstreich, dann wäre es vollbracht. Wieder einen Tag in Würde totgeschlagen. Am schlimmsten sind die Sonntage, an denen es keine Arbeit gibt und sich die Minuten zäh wie Honig ziehen. Emil ist im Gefängnis geradezu zum Bücherwurm geworden, Hauptsache, er hat etwas, was er sich vors Gesicht halten kann, um nicht Keßlers ständiges Geplapper aushalten zu müssen. Dem scheint der Bau nichts anhaben zu können. Kunststück, der ist ja schon das vierte Mal hier drin.

Im Krieg hat Keßler angefangen zu klauen. Zuerst aus Not, dann aus Gewohnheit. Ab und zu ist er der Polente dabei in die Finger geraten – Künstlerpech. Beim letzten Mal gab es viereinhalb Jahre für einen bewaffneten Raubüberfall auf einen Großhändler von Wirkwaren – zuzüglich einem Rest der Bewährungszeit vom letzten Mal. Das hat sich für ihn wirklich nicht gelohnt. Sein Kompagnon, der Schmiere stand, konnte sich vor dem Gericht fein herausreden, obwohl ihm Keßler in der Hoffnung auf Haftverkürzung ordentlich eine eingetunkt hat. Aus Mangel an Beweisen musste der Richter den Komplizen jedoch laufen lassen. Dafür hat sich der Kerl anständig gerächt und zieht nun mit Keßlers Mädel um die Häuser. Sauber hat er sie ihm ausgespannt. Was soll der Gute im Gefängnis dagegen machen? Zweimal kam sie ihn noch besuchen, dann war Schluss mit dem Theater, und Emil durfte sich die ganzen Jammergeschichten des Beziehungsendes anhören.

Der alte Bratsch, der Küchenkalfaktor, öffnet die Zellentür. Er bewegt sich so langsam, dass man beim Zusehen schon müde wird. Aber warum sollte er sich auch beeilen? Der wird in seinem Leben ohnehin keine Aussicht mehr ohne Gitterstäbe haben, und das ist ihm nur allzu deutlich...