Große Elbstraße 7 - Das Schicksal einer Familie - Roman

von: Wolf Serno

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841218414 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Große Elbstraße 7 - Das Schicksal einer Familie - Roman


 

Kapitel 1


Nur wenige Stunden, bevor die Katastrophe ihren Lauf nahm, lähmte die Hitze alles Leben in der Stadt. Wie eine unsichtbare Glocke hing sie über den Straßen und Plätzen und trieb jedermann, der sich zu schnell bewegte, den Schweiß auf die Stirn. Sie ließ die Luft über den Pflastersteinen flirren, das Laub in den Bäumen erschlaffen und fauligen Gestank aus den Fleeten emporsteigen.

Niemand, auch nicht die Ältesten, konnte sich erinnern, jemals einen so heißen Tag im August erlebt zu haben. Die sonst so geschäftige Hafenstadt Hamburg stand still.

Am schlimmsten litten die Menschen in jenem Teil der Altstadt, der als Gängeviertel bekannt war – einem unübersichtlichen, lichtlosen Labyrinth aus unzähligen verwinkelten Pfaden und Gässchen. In der Niedernstraße jedoch, dort, wo das Gängeviertel am dunkelsten war, trotzten ein paar Kinder der sengenden Hitze. Fröhlich schreiend trieben sie einen eisernen Fassreifen mit Stockschlägen vor sich her. Der Reifen tanzte über die Steinplatten des Hinterhofs und geriet immer wieder gefährlich in die Nähe der Kellerfenster, doch jedesmal gelang es einem der Kinder, ihm rechtzeitig eine andere Richtung zu geben. Dann aber streifte der Reifen ein Geländer, geriet ins Trudeln und stieß gegen einen Jungen, der an einer Hauswand hockte.

Der Junge hieß Finn. Er wurde von den anderen Kindern »Vogelscheuche« gerufen, weil sein Hemd viele Flicken aufwies und die Hose ihm bei jedem Schritt um die Beine schlotterte. Finn war schon zwölf und damit älter als die anderen, aber er war nicht größer, was daran lag, dass er in den letzten Jahren kaum gewachsen war.

Finn hielt den Reifen fest.

Die anderen Kinder riefen: »Seuche, Seuche, Vogelscheuche! Rück den Reifen raus.«

Finn grinste. Er wusste, sie würden es nicht wagen, ihm ihr Spielzeug wegzunehmen. Er war zwar schwächer als sie, aber er hatte einen starken Vater. Einen sehr starken sogar. Und Vater musste jeden Augenblick zurückkommen. Eigentlich hätte er schon längst wieder da sein müssen. Vor einer halben Stunde hatte er über Kopfschmerzen geklagt und war gegangen, um in Gädgen’s Eck ein Bier zu trinken.

»Aber wirklich nur ein Bier, Hermann!«, hatte Mutter ihm nachgerufen. »Wir müssen sparen!«

Wo blieb Vater nur? Er gehörte nicht zu den Männern, die den halben Tag in der Kneipe hockten und sich über Gott und die Welt unterhielten. Er führte auch keine politischen Reden, wetterte nicht gegen kapitalistische Ausbeuter und kämpfte nicht für den Achtstundentag. Er war der Meinung, an Arbeit sei noch niemand gestorben, und fuhr sechs Tage in der Woche über die Norderelbe hinüber zum Kleinen Grasbrook, wo er die vom Flusswasser verschmutzten Siele reinigte. Vater war stolz auf das, was er tat, auch wenn sein Lohn kaum ausreichte, die Familie satt zu bekommen.

Wo blieb er nur?

»Seuche, Seuche, Vogelscheuche! Gib endlich den Reifen her, oder du kriegst was auf die Fresse!«

Finn fand, es sei klüger, sich von dem Reifen zu trennen. Unvermittelt gab er dem eisernen Ring einen Stoß, so dass er den fordernden Kinderhänden entwischte. Er rollte über den Hof, stieß gegen die Tür des allgemeinen Plumpsklosetts und fiel scheppernd um.

In diesem Augenblick passierte es.

Die Tür wurde aufgestoßen, und ein großer Mann taumelte heraus, die Hose hastig hochgezogen. Es war Finns Vater. Er war blaugrau im Gesicht und torkelte, als wäre er betrunken. Aber er konnte nicht betrunken sein, denn er kam nicht aus der Kneipe. Was war los mit ihm?

»Vater!« Finn rappelte sich auf und lief zu ihm hin.

»Finn.« Der Vater stützte sich schwer auf ihn. »Bring mich nach Haus. Muss mich hinlegen.«

»Mach ich! Was hast du bloß?«, fragte Finn ängstlich. So schwach hatte er seinen Vater noch nie gesehen. Dessen Beine zuckten so seltsam, und er zitterte am ganzen Körper. Finn legte sich Vaters Arm um die Schulter und machte einen Schritt. Es ging nicht. Der große Mann war zu schwer. Da fiel Finns Blick auf den eisernen Reifen. »Warte!« Er stellte ihn auf und drückte ihn in Vaters Hand. »Damit kannst du dich abstützen.«

»Danke, Junge.«

Finn drehte den anderen Kindern eine Nase. Sie würden sich ein neues Spielzeug suchen müssen. Mit schleppenden Schritten ging Vater zur Kellertreppe, deren fünf Stufen hinab zur winzigen Wohnung der Familie Flögl führte. Sie bestand aus zwei Räumen, die vollgestopft waren mit Bettgestellen und Strohsäcken, denn Finn hatte noch sieben Geschwister. Zwei Brüder und fünf Schwestern, alle jünger als er. Ein Regal mit Tellern und Tassen, ein Schrank mit Kleidern und ein halbblinder Spiegel – das machte schon fast die gesamte Einrichtung aus. Der einzige Schmuck im Raum bestand aus zwei fotografischen Aufnahmen an der Wand. Die eine zeigte den Kaiser in Feldherrnpose, die andere die Eheleute Flögl bei ihrer Hochzeit – steif und ernst und in Schwarzweiß. Am Handstein in der Ecke, neben Tisch und Herd, stand Mutter und riss die Augen auf. »Hermann, um Gottes willen, was ist mit dir?«

»Nichts.« Vater ließ sich kraftlos ins Ehebett fallen.

»Aber du hast doch was!«

»Nein. Ich fühl mich nur nicht.«

»Willst du ein Glas Wasser?«

»Nein.« Vater starrte gegen die Decke. Seine Augen waren eingesunken, seine Gesichtshaut war feucht. Die Familie umringte ihn ratlos.

Schließlich sagte Mutter: »Am besten lassen wir ihn erst mal in Ruhe.« Sie wollte zurück zum Handstein, um weiter zu spülen – und verharrte mitten in der Bewegung. Ein sehr vernehmliches Geräusch, das nichts Gutes ahnen ließ, hatte sie innehalten lassen. »Hermann, hast du etwa …?«

In Vaters Augen traten Tränen. Es waren Tränen der Scham.

Mutter schlug sich die Hand vor den Mund, doch sie fasste sich schnell. »So, Kinder, geht alle raus! Spielt im Hof und macht euch nicht schietig. Nur Finn bleibt hier.«

Als die Geschwister fort waren, schlug Mutter die Decke zurück und sah sich die Bescherung an. Vater hatte sich vollgemacht. Es stank entsetzlich. »Hol ein frisches Laken aus dem Schrank, Junge. Und bring den Eimer mit dem Spülwasser her. Und Kernseife.«

Finn gehorchte.

Mit vereinten Kräften wuchteten sie den schweren Mann auf die Seite, zogen ihm die Hose aus, entfernten das Betttuch und wuschen ihn sauber. Zuckend und wimmernd ließ er alles über sich ergehen. Finn beobachtete währenddessen die Mutter. Was mochte sie denken? War Vater ernstlich krank? »Ich glaube«, sagte sie laut, »wir sollten einen Doktor holen.«

Vater protestierte. »Für so was haben wir kein Geld.«

»Aber Hermann, meinst du nicht …?«

»Nein!«

Mutter fügte sich. Vater war krank, aber immer noch der Herr im Haus.

Lieber Himmel, dachte Finn, hoffentlich geht das gut.

*  *  *

Nur ein paar Gehminuten entfernt, in der Steinstraße, saß am selben Tag Doktor Johannes Dreyer vor einem Glas Bier. Er befand sich in einer Gaststätte, die sich ein wenig hochtrabend Ohlof’s Wirthschaft & Frühstücks-Lokal nannte, in Wahrheit aber eine billige Kneipe war. Gegen das Holsten-Export, das vor ihm im Glas schäumte, ließ sich nichts sagen, es kostete nur zehn Pfennig, und auch die Gemüsesuppe, die daneben in einer Terrine dampfte, war nicht schlecht, dennoch war seine Laune auf dem Nullpunkt. Vor nicht einmal zwei Wochen hatte er seine Anstellung als Arzt verloren, aus Gründen, die er bis heute nicht begreifen konnte. Klar war nur eines: Es würde schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden, den Arztberuf weiter in Hamburg auszuüben.

Hannes, wie er von seinen wenigen Freunden gerufen wurde, schob den Suppenteller zur Seite, trank einen Schluck Bier und ließ den Blick schweifen. Es war nicht viel los in der Kneipe. Außer dem Tisch, an dem er saß, gab es noch drei weitere, von denen zwei unbesetzt waren. Am dritten Tisch saßen zwei Arbeiter mit Schirmmützen, die Pfeife rauchten und dicke Qualmwolken in die Luft pafften. Sie tranken trotz der Hitze Schnaps und schimpften über die steigenden Mieten. »Eine Schande ist es, dass man sein schwer verdientes Geld den Hauswirten in den Rachen werfen muss«, tönte der eine.

Der andere nickte schwer. »Blutsauger sind’s, verdammte Blutsauger.«

»Statt kleine Wohnungen in der Stadt zu bauen, bauen sie Paläste, wo die Mieten keiner bezahlen kann, und wenn sie Arbeiterwohnungen bauen, dann welche, die anderthalb Stunden vom Arbeitsplatz weg liegen, und man muss jeden Morgen mit der Pferdebahn fahren …«

Hannes hörte nur mit halbem Ohr hin. Er hatte andere Sorgen. Mutter Ohlof, die nach dem Tod ihres Mannes die Kneipe allein betrieb, machte sich im Hintergrund am Tresen zu schaffen. Sie wischte den Messingzapfhahn blank und fragte: »Schmeckt Ihnen meine Suppe nicht, Herr Doktor? Sie haben ja erst einen Teller gegessen.«

»Doch, doch. Sie ist sehr gut. Ich habe nur keinen rechten Appetit.«

»Das erzählen Sie mir seit Tagen.«

»Ach, wirklich?« Hannes musste zugeben, dass Mutter Ohlof recht hatte. Weil er so knapp bei Kasse war, hatte er nach einer billigen Unterkunft Ausschau gehalten und Kost und Logis bei ihr gefunden. Das lag jetzt über eine Woche zurück. Und seit über einer Woche forderte die freundliche Frau ihn auf, kräftiger zuzulangen.

»Wer nicht richtig isst, fällt vom Fleisch. Das müssten Sie als Arzt eigentlich wissen.«

...