Das Strandhaus der kleinen Kostbarkeiten - Roman

von: Jan Steinbach

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841218155 , 204 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Das Strandhaus der kleinen Kostbarkeiten - Roman


 

Kapitel eins


Ratternd und schaukelnd bewegte sich die U-Bahn eine gefühlte Armeslänge vor ihrem Fenster über die Hochbahntrasse. Hinter regennassen Scheiben hockten müde Pendler, die auf ihre Smartphones starrten, auf Zeitungen oder einfach ins Leere. Flackerndes Neonlicht zog vorbei, das Signalgelb der Berliner Verkehrsbetriebe, dann war die U-Bahn verschwunden, und der blinkende Weihnachtsmann im grauen Fenster gegenüber trat von Neuem ins Blickfeld.

»Es wird schon wieder dunkel«, sagte Karen missmutig. »Dabei war es gar nicht richtig hell. Was für ein deprimierendes Wetter.«

Unten huschten Menschen mit eingezogenen Schultern über den Bürgersteig. Versuchten, sich vor dem kalten Regen in Sicherheit zu bringen. Autos und Straßenbahnen verstopften die Straßen, und in den Schaufenstern der Ramschläden leuchtete billige Weihnachtsdekoration.

»Heut ist eben Mittwinter«, erwiderte Gaby, ihre Sekretärin, die es sich mit Ingwertee und brennendem Adventsgesteck hinter ihrem Schreibtisch gemütlich gemacht hatte. »Du weißt schon, der einundzwanzigste Dezember. Der kürzeste Tag, die längste Nacht.« Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Spürst du es nicht, Karen? Heute liegt Magie in der Luft.«

Unten fiel Karen ein dürres Mädchen ins Auge, dem ein halb verhungerter Hund hinterherlief. Der Hund ging plötzlich in die Hocke, machte mitten auf dem Gehweg einen Haufen und trottete unbeirrt weiter. Ein älterer Mann bemerkte es und brüllte dem Mädchen mit hochrotem Kopf etwas hinterher, doch die zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger, ohne sich auch nur umzudrehen. Im Gewühl waren beide schnell verschwunden, zurück blieb nur der Hundehaufen.

»Ja, Magie«, kommentierte Karen.

Das Telefon klingelte. Sie wandte sich vom Fenster ab, doch Gaby war bereits am Apparat.

»Literaturagentur Peters«, flötete sie, und wie jedes Mal, wenn sie den Hörer nahm, setzte sie dabei ein Bühnenlächeln auf. Rückte ihr grellrotes Brillengestell zurecht, streckte den Rücken durch und nahm so schwungvoll den Hörer, wie es ihr massiger Körper nur zuließ. Alles wie gemacht für den ganz großen Auftritt. Und so klang dann auch ihre Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«

Karen lächelte. Das trübe, trostlose Wetter konnte Gaby nichts anhaben. Sie war einfach unerschütterlich. An Tagen wie diesen wünschte Karen, sie hätte ein bisschen von dem sonnigen Gemüt ihrer Mitarbeiterin.

Sie ließ den Blick erneut über die triste Stadtlandschaft gleiten. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass Weihnachten vor der Tür stand. Und dass sie wie jedes Jahr das Weihnachtsfest an einem Ort feiern würde, an dem sie eigentlich nicht sein wollte.

»Oh, das tut mir leid«, hörte sie Gaby mit Bedauern in der Stimme sagen. »Aber Karen ist nicht da. Da haben Sie wirklich Pech gehabt.«

Überrascht wollte sie widersprechen, doch Gaby legte den Finger an die Lippen. Sie formte stumm ein Wort: Sanna.

Das bedeutete, Sanna Wolff war am anderen Ende. Ihre Bestsellerautorin. Gaby wusste offenbar, dass Karens Nerven an diesem Dezembertag ein wenig Schonung brauchten. Sie wollte sie vor ihrer anstrengendsten Klientin schützen.

»Sie ist gerade rausgegangen, um schnell was zu essen«, log sie schamlos. »Ja, ich weiß. Hier war den ganzen Vormittag der Teufel los. Und gleich hat sie schon wieder einen Termin. Wirklich zu dumm. Ich fürchte, heute wird das nichts mehr, Frau Wolff.«

Gaby zwinkerte triumphierend. Karen spürte ihr schlechtes Gewissen. Eigentlich mochte sie solche Spielchen nicht. Sie wollte ehrlich mit den Leuten umgehen, auch wenn das Kraft kostete. Sie wollte sich nicht verleugnen lassen.

Doch heute fühlte sie sich tatsächlich nicht danach, sich Sannas Tiraden über ihre Problemchen anzuhören. Also verhielt sie sich ruhig, auch wenn ihr das unangenehm war.

Wie es aussah, musste Gaby jetzt herhalten, denn das Gespräch hörte gar nicht auf. Doch gelang es Gaby problemlos, mitfühlende Seufzer und empörte Bekräftigungen auszustoßen und gleichzeitig mit den Augen zu rollen und Blumen an den Rand einer Zeitung zu kritzeln.

Karen setzte sich mit leichtem Unbehagen an ihren Schreibtisch. Schweigend ging sie ihre E-Mails durch. Es gab Neuigkeiten aus Husum: Ihre Hotelbuchung war erfolgreich, die Suite stand bereit. Wir freuen uns, Sie an der Nordsee empfangen zu dürfen. Dazu Informationen zu Restaurants und Sehenswürdigkeiten, als wäre sie eine Touristin. Nun stand der Reise nichts mehr im Wege.

Husum. Die Stadt ihrer Kindheit. Karen konnte nicht behaupten, dass sie sich darauf freute. Wie jedes Jahr Weihnachten würde sie dort ihre Mutter besuchen. Natürlich war ihr klar, dass viele Mutter-Tochter-Verhältnisse kompliziert waren. Doch das, was zwischen ihr und Marit war, hatte seine besonderen Untiefen. Dass Marit trotz aller Probleme gern so tat, als wären sie ein Herz und eine Seele, als passte kein Blatt Papier zwischen Mutter und Tochter, machte es nicht unbedingt einfacher.

Es würde wie jedes Jahr ablaufen: Karen würde im Hotel Quartier beziehen, ihre Mutter besuchen, Geschenke abwerfen, viel Süßes essen und sich dabei bemühen, »heile Familie« zu spielen, um alle Konflikte zu umschiffen. Sie würden ein paar anstrengende Stunden miteinander verbringen, wobei die oberste, natürlich unausgesprochene Regel lautete, zu vermeiden, über das zu reden, was früher war. Über das, was ihre Familie auseinandergebracht hatte.

Wenn Weihnachten schließlich vorbei wäre, würde Karen tief durchatmen, zurück nach Berlin fahren und bedauern, dass sie wieder mal kein richtiges Weihnachten gefeiert hatte. Eines, wie man es sich vorstellte: mit brennendem Kamin und Kerzenlicht, mit Duft von Zimt und Kardamom, mit gutem Essen und im Kreis der Menschen, die man liebte. Und tief im Innern würde sie bedauern, dass Husum und die Kate ihrer Mutter einfach nicht der Ort dafür sein konnten.

Am Tisch gegenüber war Gaby immer noch am Telefon.

»Sobald sie wieder im Büro ist, sage ich ihr Bescheid«, flötete sie. »Dann ruft sie Sie zurück, Frau Wolff. – Ja, ich verstehe. Es tut mir sehr leid. – Natürlich. – Rufen Sie jederzeit gern wieder an. Wir freuen uns immer, von Ihnen zu hören.«

Sie legte auf, kicherte und nahm sich zur Belohnung einen Lebkuchen von dem Plätzchenteller, der für Besucher gedacht war.

Karen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Danke, Gaby«, sagte sie. »Auch wenn ich solche Schwindeleien eigentlich nicht besonders mag.«

»Ach, Unsinn. Das war Notwehr. Dafür kommen wir nicht ins Fegefeuer. Vertrau mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

Karen ließ sich im Schreibtischstuhl zurücksinken. Sie schnappte sich ebenfalls einen Lebkuchen und kaute lustlos darauf herum.

»Du siehst nicht so aus, als würdest du dich auf die Weihnachtsferien freuen«, kommentierte Gaby.

»Ach, ich hab nur gerade die Buchungsbestätigung vom Hotel bekommen.«

»Und das hat dich daran erinnert, wie wenig Lust du auf deine Reise hast?«

Karen hob missmutig die Schultern.

»Doch hängt mein ganzes Herz an dir, Du graue Stadt am Meer …«, begann Gaby zu rezitieren. Das berühmte Gedicht von Theodor Storm über Husum, das dort jedes Kind kannte.

»Ja, ja. Die graue Stadt am Meer«, stöhnte Karen auf. »So grau ist es gar nicht. Meistens jedenfalls nicht.«

»Der Jugend Zauber für und für«, fuhr Gaby fort. »Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, Du graue Stadt am Meer.«

Dann strahlte sie übers ganze Gesicht und verbeugte sich würdevoll vor nicht vorhandenem Publikum.

»Was machst du eigentlich Weihnachten?«, fragte Karen.

»Na ja …« Sie grinste verschwörerisch. »Das mit Tom, das scheint was Ernstes zu werden. Wir haben jedenfalls Pläne für die Feiertage.«

»Ich verstehe«, lachte Karen. »Keine Einzelheiten bitte.«

Sie konnte immer nur staunen, wie rege das Liebesleben ihrer Kollegin war.

»Wir werden die Wohnung drei Tage lang nicht verlassen«, kicherte Gaby. »Es ist alles vorbereitet. Warum bleibst du nicht auch einfach in Berlin, wenn du keine Lust auf deine graue Stadt am Meer hast? Mach’s dir doch hier gemütlich.«

Karen seufzte. Als wenn das möglich wäre.

»Ich meine es ernst, Karen. Du musst dir mal Zeit für dich nehmen. Runterkommen und entspannen. Und wenn du mich fragst, könntest du auch mal wieder einen Mann im Leben gebrauchen.«

Oje, das wurde ja immer besser. »Bitte, Gaby! Was das betrifft, habe ich wirklich keinen Bedarf.«

Ihre letzten Erfahrungen in dieser Richtung hatten ihr nur gezeigt, dass sie allein besser zurechtkam. Sie brauchte keinen Mann, um sich wohl zu fühlen.

»Aber was den Rest angeht, hast du ja recht«, räumte sie ein. »Ich sollte mir mehr Zeit für mich nehmen. Einfach mal ein paar Tage auf dem Sofa verbringen. In Ruhe die ganzen Manuskripte lesen, die sich hier aufgestaut haben und …«

»Nein! Genau das sollst du nicht tun.«

»Wie bitte?«

»Ich weiß, es ist schwierig, wenn man selbständig ist. Trotzdem. Du musst wirklich mal entspannen. Die Arbeit ganz liegenlassen. Lesen ist perfekt zum Entspannen. Aber wenn, dann lies keine Manuskripte für die Arbeit, sondern ein paar tolle Romane, die du wirklich lesen möchtest.«

Karen schwieg. Sie wusste selbst, dass sie zu viel...