Wir, im Fenster - Roman

von: Lene Albrecht

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841218582 , 223 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Wir, im Fenster - Roman


 

Im Fenster


Hallo.

Hallo?

Siehst du uns?

Kannst du uns hier, in diesem Licht, gut sehen?

Oder so, halt mal, besser jetzt?

Kannst du das hier erkennen?

Was machen wir?

Findest du uns albern?

Wer bist du?

Findest du uns schön?

Welche von uns findest du schöner, sag mal, welche?

Wer sind deine Eltern?

Hast du überhaupt Eltern?

Und einen Freund?

Eine Freundin?

Gehst du gern zu McDonald's?

Kennst du das Wort bumsen?

Was ist das da im Hintergrund, dein Regal?

Bist du allein?

Ist das etwa ein Vogel?

Warum sitzt du da rum?

Fühlst du dich einsam?

Bist du böse?

Woher willst du das wissen?

Wie alt bist du?

Hast du schon mit Zunge geküsst?

Warum versteckst du dich?

Bist du vielleicht ein Perverser?

Und wer bist du dann?

Warum siehst du uns zu?

Wieso antwortest du uns nicht?

Im Mai entdeckten wir das Fenster, und Laila war nicht die, für die ich sie gehalten hatte. Das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ähnelte unserem in allem, nur war seine Fassade in Altrosa gestrichen worden, das sich im Laufe der Jahre verwaschen hatte wie unser Gelb.

Ich sehe es jetzt wieder ganz deutlich vor mir, auch die Bewegungen des Vorhangs im Fenster auf unserer Höhe, nicht mal zwanzig Meter Luftlinie. Es dauerte allerdings, bis ich das Fernrohr identifizierte: da, genau da.

Es suchte unsere Fassade ab, ruhte auf einem bestimmten Punkt, den ich nicht sah, weil ich ihn von hier nicht sehen konnte, machte sich dann abermals los, wanderte weiter.

Sieh mal, sagte ich.

Laila rutschte träge von ihrem Bett, wo sie sich die Nägel frisch lackierte, hielt die bereits angemalte Hand mit abgespreizten Fingern weit von sich. Der beißende Gestank nach Azeton stand in unserem Zimmer, zwischen Zeige- und Mittelfinger hatte Laila ein Wattepad geklemmt, über das eine hellrote Spur lief.

Was?, fragte sie, nicht genervt, nicht sonderlich interessiert, was ist da.

Ich zeigte auf das Fenster.

Und, was soll da sein?

Sie kam näher, schnippte das Pad in den Mülleimer.

Am Ende richtete sich das Fernrohr auf unser Fenster, es zielte auf unsere Körper wie die Mündung eines Revolvers. Nichts knallte, nichts ging in die Luft, und trotzdem standen wir andächtig, ja still. Schulter an Schulter. Laila ging mit dem Mund so nah an die Scheibe, dass ihr Atem darauf als Nebel sichtbar wurde. Sie formte ein Wort mit dem Mund, langsam und überbetont: H A L L O. Dann winkten wir, stellten all diese Fragen, immer im Wechsel, auf die es keine Antwort gab, keine geben konnte, natürlich, das denke ich heute, nur dieses sachte Schwingen des Vorhangs. Laila sprang aufgeregt umher, ich sah ihr zu, lachte. Sie stieß mit dem nackten Fuß das Fläschchen mit dem Nagellackentferner um, offenbar war der Deckel nicht komplett verschlossen gewesen, Mist, rief sie, turnte dabei weiter. Ihre Hüfte, ich sprang hinterher, versuchte sie dort zu erwischen, meine Arme um sie zu legen. Als ich sie beinahe erreicht hatte, stieß sie einen spitzen Schrei aus.

Lass mich, du Spanner, igitt. Binnen weniger Sekunden hatte sich die hellblau durchscheinende Flüssigkeit als ein melonengroßer dunkler Fleck in den Teppich hineingefressen. Behutsam stellte ich die Plastikflasche auf, aber sie war fast leer. Ich hatte das eindeutige Gefühl, von den Dämpfen der Lösungsmittel high zu werden. Obwohl ich noch nie high gewesen war, war ich ziemlich sicher, dass es sich genau so anfühlen musste. Wir hängten unsere Nasen tief über die dunkelgraue Pfütze und atmeten ein, es stach gewaltig in der Lunge, schmeckte süß und scharf. Mir wurde schwindelig, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bekam ich Lust zu tanzen, schwankte rüber zur Anlage und drückte auf Play. Es ertönten die ersten Beats von »Thriller«, und Laila stieß vor Begeisterung einen überraschend hohen Ton aus, sie schmiss sich komplett auf den Boden, rollte auf dem Rücken hin und her. Wie ein Hund. Eine Irre, dachte ich, aber ich fand das nicht schlimm, schloss die Augen, was den Schwindel noch verstärkte, und begann meine Hüften zu bewegen, rechts, links. Ließ sie kreisen, so, wie ich zuvor nicht gewusst hätte, dass es möglich war, dass ausgerechnet ich dazu imstande war, aber es war ganz einfach. Meine nackten Füße, wie sie abhoben und wieder landeten, kreisten, eine Rundung beschrieben.

Wo hast du das gelernt?

Ich hob den Blick, traf Lailas Bewunderung, spähte zum gegenüberliegenden Fenster, wandte mich ab. Sie musste es gesehen haben, denn sie stand nun auf, legte von hinten ihre Arme um meinen Bauch. Rutschte mit den Händen abwärts. Wiegte meine Hüfte. Schweiß, mein Schweiß und Lailas, unser. Linn und Laila. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich das vermisst hatte, unsere Einheit, zwei noch junge ineinander verwachsene Bäume, die sich gegenseitig stützen. Fällt der eine, stürzt auch der andere. Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Wir tanzten zusammen, bis die CD durchgelaufen war und das Gerät ein schnurrendes Geräusch von sich gab, es draußen dunkel geworden war und wir uns selbst in der Scheibe betrachten konnten. Laila ging nah heran, aber wir sahen nur mehr uns selbst. Zwei erschöpfte schöne Mädchen. Tatsächlich, erinnere ich mich, fühlte ich mich in diesem Moment schön.

Verschwunden, stellte Laila ernüchtert fest. Sie legte ihre Hand an den Griff aus Plastik und riss das Fenster ganz auf, Hallo, das schrie sie jetzt, die Fassade warf ihren verzweifelten Ruf zurück. Halt's Maul, bellte jemand von unten, von der Straße hoch, nicht mehr als eine Ahnung, ein beweglicher kreisrunder Fleck. Im Kopf pochte es dumpf, mein Herzschlag verlangsamte, wie ein ausklingendes Lied.

Du Arschloch, ich legte meine Hand an Lailas klebrigen Nacken, strich mir mit der anderen feine Haare aus der Stirn. Die Klarheit der Luft überraschte mich, genauso die Tatsache, atmen zu können, ein- und aus-, wie einfach das war, automatisiert.

Am nächsten Tag stellten wir uns zur selben Zeit ans Fenster. Wir warteten – ich spürte meinen Puls wie winzige Schläge durch den Körper fließen – auf ein Zeichen, eine Reaktion. Dass uns jemand zusah, uns beobachtete, war eine Sensation. Es veränderte die Art, wie wir uns bewegten, mit dem Fuß lässig die Tür aufstießen, am Schreibtisch saßen, am Ende eines Stiftes kauten. Auf einmal sah ich mich, Laila, uns mit anderen Augen. Wie wir uns vor dem Spiegel stehend die Haare bürsteten, Laila sich vor dem Schlafengehen einen Zopf im Nacken band. Wie wir aufräumten. In der Mitte des Raumes auf dem Bauch lagen, eine Zeitschrift vor uns aufgeschlagen, während das Kaninchen darüber hinwegsprang. Wie wir nichts taten. Die Augen, stellte ich mir vor, waren immer da, lagen auf uns: begierig, tastend, suchend.

An einem Nachmittag im April führte mich Laila nach Charlottenburg, in eine Gegend, die mir damals mit ihren Boutiquen und Einkaufsmenschen, den breiten Bürgersteigen und gepflegten Plätzen wie eine gänzlich andere Stadt vorkam. Hin und wieder half Laila im Geschäft ihrer Mutter aus, in den Ferien oder wenn ein Mitarbeiter durch Krankheit ausfiel. Für sie war es nichts Besonderes, weder lästig noch reizvoll, eine einfache Pflicht, die es zu erledigen galt und die sie nicht weiter infrage stellte. Alles sehnte sich nach draußen an diesem Tag, zum Licht. Die Menschen saßen in Trauben auf den Bürgersteigen vor den Cafés am Savignyplatz, in dieser unverschämten Helligkeit, und tranken aus großen dicken Gläsern Apfelsaftschorle und Bitter Lemon, drehten ihre blassen Gesichter zur Sonne, falteten die Hände im Schoß, während ich Laila folgte, versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Ob ich sie begleiten dürfe, hatte ich gefragt und mir nichts dabei gedacht.

Jetzt warte doch mal.

Laila lief so schnell, ich schwitzte unter den Achseln.

Ich will nicht zu spät kommen, sagte sie, und ich:

Du rennst wie eine Verrückte!

Im Verkaufsraum roch es süßlich. Im ersten Moment führte ich das auf die Lilie zurück, die in einer hohen Vase aus Glas auf dem Tresen stand, dort alles überragte. Bei näherem Hinsehen allerdings entdeckte ich ihre Künstlichkeit. Da war eine verräterische Naht an der Stelle, an der man die zwei Teile des Stiels zusammengepresst hatte. Hinter dem Tresen waren eine Ledercouch und zwei Sessel zu einer Sitzecke gruppiert, auf einem gläsernen Beistelltisch lagen ordentlich drapierte Magazine und Kataloge, sie kamen mir bekannt vor. Dort standen auch ein halb geleerter Kaffee und ein leeres Sektglas mit Lippenstiftspuren. Beides nahm Laila wie selbstverständlich auf, ohne dass man sie hätte bitten müssen. Im Toilettenraum spülte sie die dunkelbraune Brühe aus der Tasse, wischte mit einem rosa Schwamm nach, der unter dem Waschbecken klemmte. Auf dem Porzellanrand blieben kleine schwarze Krümel kleben.

Die Kunden, erklärte sie, während sie die Überreste fortspülte, bekommen einen Kaffee oder Saft, wenn sie das wollen, manche auch Sekt, für viele ist das ein großes Ding, weißt du.

Was?

Heiraten.

Ist es das nicht? Ich war überrascht.

Es ist Blödsinn. Sie drehte wütend den...