Lvstprinzip

von: Theresa Lachner

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841218476 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Lvstprinzip


 

Wer alles loslässt, hat beide Hände frei


Die eigene Katastrophe auszustellen, hat etwas Aufdringliches; es aber nicht auszusprechen, ist noch verquerer, wenn man ohnehin schon einmal bei den Konsequenzen angelangt ist.

Thomas Melle

Ich finde, Wut ist ein unterschätztes Gefühl.

Wenn die Depression, wie Jung sagt, einer Dame in Schwarz gleicht, die man als Gast zu Tisch bitten soll, um sich anzuhören, was sie zu sagen hat, ist die Wut ihre angetrunkene Teenagerschwester. Sie knallt das Dosenbier so energisch auf den Tisch, dass es überschwappt und schreit: »Was soll eigentlich diese ganze Scheiße hier, verdammt?«

Der Wut ist Etikette egal. Sie verschafft sich Gehör, egal, ob man sie höflich dazu einlädt oder eben nicht. Wut fragt nie, ob sie sein darf. Wut ist.

Ich mag die Wut, weil sie so unbestechlich und archaisch ist. »Authentisch«, wie meine Werbekunden sagen würden.

Die Wut und ich haben eins gemeinsam: Wir sehen die Welt zwischendurch ganz gerne auch mal brennen. Auf konstruktive, gewaltfrei kommunizierte Ich-Botschaften verzichten wir zugunsten des ein oder anderen gepflegten kleinen Ausrasters.

Und das ist okay.

Über Leute, die immer beherrscht sind und alles im Leben richtig machen, werden keine Netflix-Serien geschrieben. Früher war ich oft müde. Dann habe ich angefangen, mich ketovegan zu ernähren, ist eben einfach ein bisschen dünn für ’nen Plot.

Ich mag die Wut, denn die Wut macht mich wach. Wut setzt Energie frei. Sie bringt mich dazu, Dinge in Bewegung zu bringen.

Und mich. Immer wieder mich.

»Mama, kann sein, dass ich nach Ho-Chi-Minh-Stadt ziehe«, erkläre ich Mama in Schlafanzughose und der Rohseidenbluse, die ich mir eben für das Skype-Interview in ihrem Arbeitszimmer übergeworfen habe. »Das ist Saigon, oder?«, fragt sie.

Kann sein, keine Ahnung. Egal auch, irgendwie.

Sie können in drei Wochen anfangen, steht in der E-Mail, die ich drei Tage später im Autobahnraststättenklo auf dem Weg zur Diplomprüfung bekomme.

»Ich geh nach Saigon«, rotze ich also auch meinem Diplomprüfer entgegen, der mich dafür prompt mit Auszeichnung entlässt, obwohl mir während der mündlichen Klausur siedend heiß einfällt, dass ich die Lolita in echt nie zu Ende gelesen habe.

Das Glück gehört denen, die keine Ahnung haben.

Krieg und Nudelsuppe. Das ist alles, was ich über Vietnam weiß. Und das reicht mir auch völlig, weil: Nudelsuppe mag ich, und Krieg ist in mir.

Er hat das doch nicht so gemeint. Er ist eben einfach sehr ungeschickt. Über was regst du dich überhaupt immer so auf?

Nach Vietnam zu ziehen ist eine der leichtesten Entscheidungen meines Lebens. Ich bin bereit für diese sogenannte große weite Welt, weil sie mir so viel sicherer erscheint als das, was ich gerade hinter mir lasse. Wer alles loslässt, hat beide Hände frei.

Es ist doch schließlich dein Freund. Er liebt dich und schreibt dir lange Briefe mit selbst gemalten Bildern drin, und ihr lacht zusammen, wie du noch nie mit jemandem gelacht hast.

Wir bitten Sie nun, Ihre Sicherheitsgurte anzulegen und geschlossen zu halten, bis die Anschnallzeichen über Ihren Köpfen erloschen sind. Im unwahrscheinlichen Fall eines Druckverlusts fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke. Ziehen Sie die Maske ganz zu sich heran und drücken Sie sie fest auf Mund und Nase. Bitte legen Sie erst ihre eigene Sauerstoffmaske an, bevor Sie mitreisenden Passagieren helfen.

Druckverlust, ja. Atmen. Ja, Atmen ist immer eine hervorragende Idee.

Als du endlich gegangen bist, warst du erst mal grob zwei Wochen hauptberuflich mit Atmen beschäftigt. Das wusstest du gar nicht, dass es so was wie Augenringe aus Hornhaut gibt, wenn man so viel weint. Wieder was gelernt.

Atmen, Kaugummi, The XX im iPod. Drei Plastikbecher lauwarmer australischer Sauvignon Blanc. Was genau mache ich hier eigentlich?

Als wir uns sechzehn Stunden später im Landeanflug befinden, weiß ich es: Saigon glitzert. Ein Meer aus Wellblechdächern und Wolkenkratzern, in das ich mich schlagartig und rettungslos verliebe.

Es ist eine Liebe, die ich seitdem gründlich auseinanderklamüsert habe, wie ich das eben immer so tue mit der Liebe: Sie möglichst schonungslos sezieren, um sie kleinreden zu können, zu ironisieren und endlich dingfest zu machen.

Für Saigon gibt es genau zwei Gefühle: Liebe und Hass. Ich bin noch nie jemandem begegnet, dem dieser Ort egal ist. Und als ich jetzt zum ersten von sehr vielen Malen meinen Kopf schüttle über die hochvirtuose Choreographie namens Straßenverkehr, die sich da draußen vor der Windschutzscheibe des Taxis abspielt, wundere ich mich, dass niemand stirbt. Nicht das tief schlafende Baby mit dem Gesicht im Kissen auf dem Roller-Tacho, nicht die Sekretärin im Bleistiftrock, die mit leger übereinandergeschlagenen Beinen hinten auf einem Xé Om, einem Umarmungstaxi, sitzt, sich nur mit einer Hand an ihrem Chauffeur festhält und mit der anderen auf ein altes Nokia eintippt.

Und anscheinend auch wir nicht, weil unser Taxifahrer wirklich verdammt laut hupen kann.

Ob ich denn einen guten Flug gehabt hätte? Ich glaube, ich höre die höfliche Small-Talk-Frage meiner neuen spanischen Managerin Marina erst beim dritten Mal, und es ist auch egal, wie mein Flug war, weil jetzt bin ich ja hier.

Und es ist so sehr jetzt, wie es nur jetzt sein kann, wenn endlich das Leben passiert, das immer schon in einem drin war und endlich rausdarf.

»Wow, wie rosa du bist!«, ruft Tutu, die eigentlich nur Tu heißt, weil Vornamen mit mehr als einer Silbe im Sozialismus als übertriebene Dekadenz gelten. Sie war mir über Craigslist zugeflogen. Hundertsiebzig Euro für ein WG-Zimmer in einem heruntergekommenen Kolonialbau direkt am großen Markt, inklusive Putzfrau zweimal die Woche. Es hatte so dermaßen gut geklungen, viel zu gut, um wahr zu sein, dass ich schulterzuckend das tat, was eigentlich nur eine sehr dumme Person tun würde: einer komplett Fremden nach zehn Minuten wackeligem Skype drei Monatsmieten Kaution auf ein vietnamesisches Konto zu überweisen. Ich habe Tutu erfolgreich mit dem Versprechen auf MAC-Lippenstift der Nuance Ruby Woo und Lindt-Schokolade mit 70% Kakaoanteil bestochen. Beides Dinge, die im Sozialismus eigentlich ebenso wenig vorkommen wie die zweite Silbe in ihrem Vornamen.

Tu ist Kaffeehändlerin und »une petite gourmandise«, wie sie von sich selbst sagt – immer nur mit dem Allerbesten zufrieden. Nach der Arbeit sitzt sie meist laut singend in unserem Wohnzimmer und näht selbst entworfene, wild geschnittene Turniertanzkleider. Und sie fällt mir ab sofort jeden Tag zur Begrüßung um den Hals und drückt mich, so fest sie kann, egal wie verschwitzt ich von der Arbeit heimkomme.

Ich lerne, dass unsere Dusche eigentlich mehr so ein lauwarm tröpfelndes Rinnsal aus einem Schlauch in der Wand ist; dass es Badezimmerflipflops gibt, Wohnungsflipflops und Draußenflipflops und dass die grundsätzlich mit allen geteilt werden, was erst mal eklig ist, allerdings immer noch weit weniger ekelhaft, als barfuß den Boden zu berühren.

Ich lerne, auch die übrigen Mitbewohner in Ekligkeitsrankings einzuteilen. Kakerlaken sind beispielsweise in Wirklichkeit auch nur unterschätzte Käfer, die außerdem fliegen können. Sie umzubringen lohnt sich weder mittelfristig karmisch, weil sie uns schlussendlich doch überleben werden, noch kurzfristig pragmatisch, weil vom Putzaufwand her – viel zu viel Matsch. Ameisen sind okay, solange sie nicht ins Bett kommen. Den Ratten aber bitte nur im Treppenhaus Hallo sagen, deswegen den Müll besser immer sehr schnell runterbringen.

Wohnzimmer, Küche und Bad haben keine Fensterscheiben, sondern nur Gitter, weil es hier ohnehin nie unter Raumtemperatur abkühlt. Unsere Putzfrau ist erzkatholisch und kommt am liebsten direkt sonntagmorgens nach der 5-Uhr-Messe, wenn es in meinem Kopf noch viel zu laut ist vom Zweidollarreisschnaps am Abend vorher. Ich bin sofort verliebt in dieses neue bescheuerte bunte Leben. Nach wenigen Tagen verwerfe ich die Konzepte »Schminke« und »Ausgehkleidung«. Die Hitze schafft Komplexitätsreduktion: Yogaklamotten, Brille und Flipflops statt gebügelten Kleidchen. Mein Parfum ist ein klebriger Film aus Schweiß, Sonnenmilch, Autan Tropical und dem Smog, der mir jeden Morgen wie ein dumpfer Schlag ins Gesicht brettert.

»Ist das eigentlich normal bei dir, dass du beim Sex nicht jedes Mal kommst?«, fragt er, und du merkst, dass schallendes Gelächter und »Ja nö, schon klar« wirklich nicht die richtige Antwort ist auf »Bei meiner Ex war das ja nie ein Problem«. Dafür sorgt er. Also »kommst« du jetzt eben auch jedes Mal beim Sex. Ist doch wirklich nicht so schwierig.

Tutu findet es gut, jetzt eine Sexkolumnistin im Haus zu haben. Sie ist sechsundzwanzig, so wie ich, aber hatte noch nie Sex, weil ihr halt einfach nie einer gefällt. La petite gourmandise behandelt Männer genau wie die Baguettes am Banh-Mi-Stand: Erst mal mit spitzen Fingern reinpiksen, um zu sehen, ob sie überhaupt ihren Ansprüchen genügen können. Wenn sie nicht knusprig genug sind: next!

Schnell lerne ich, dass das auch der mit Abstand denkbar klügste Modus Operandi für den Saigoner Datingpool ist.

In meiner Phantasie waren es scruffy französische Kriegsfotografen mit Dreitagebart, denen ich in einem frisch gebügelten Hemdblusenkleidchen in...