Rubicon - Thriller

von: Kai Havaii

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841218490 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Rubicon - Thriller


 

2


Acht Jahre zuvor. September 2010. Afghanistan, Provinz Kunduz.

Gott, dieses staubige, elende Land.

Carl hockt zwischen fünf anderen eingezwängt im Mannschaftsraum eines Dingo-Radpanzers und starrt melancholisch durch das gepanzerte Seitenfenster. Zum tiefen Brummen des Motors zieht eine leere, völlig ebene Landschaft vorbei, in der der Staub und der Dunst die Farben schlucken. Eine Wüstenfläche, von Sand und Schotter bedeckt. Dann tauchen plötzlich grüne, von schmalen Kanälen bewässerte Felder auf, auf denen Menschen mit primitiv geschnitzten Holzhacken arbeiten. Auf einem der Feldwege treibt ein Mann in einem langen, weißen Gewand eine magere Kuh. Ein ausgefranster, winddürrer Hund folgt ihm in einigem Abstand. Ab und an ein kleines, ummauertes Gehöft aus fahlbraunem Lehm, mit schmalen, oft scheibenlosen Fensterlöchern.

Eigentlich wie vor zweitausend Jahren. Wenn da nicht die ganzen Schrottkarren wären.

Der Dingo überholt ein paar alte Toyota-Pick-ups und einen klapprigen LKW, der hoch mit knallgrünen Plastikkanistern beladen ist. Im oberen Ausschnitt des kleinen Fensters sieht Carl noch ein Stück des gnadenlos blauen Himmels, in dessen Zentrum eine Sonne brennt, die so nah scheint, dass man meint, die Erde müsse gleich Feuer fangen. Praktisch neun Monate im Jahr glüht sie unerbittlich, ohne Pause, jeden Tag, jede Minute. Kein Tropfen Regen netzt dann die lechzende, ausgedörrte Vegetation.

Carl verlagert etwas seine Position, was der Richtschütze des Dingos, der links neben ihm hockt, mit einem unfreundlichen Grunzen quittiert. Aber Carl fühlt sich unwohl, er fährt ohnehin nicht gern im Panzer, da muss er immer gegen seine Raumangst ankämpfen. Und bei dem Geschaukel wird ihm auch leicht übel. Der Dingo mit seinem hohen Radstand steigt und fällt bei jeder Bodenwelle wie ein Boot in der Dünung. Normalerweise sind er und Ebby mit den anderen Scharfschützen in einem Fuchs-Transportpanzer unterwegs, der etwas ruhiger läuft, aber wegen anstehender Reparaturen gab es einen Engpass an Fahrzeugen. Sie haben sich aufgeteilt, und Carl und Ebby mussten sich zu einer anderen Gruppe von Fallschirmjägern gesellen.

Die Dingo-Crew befindet sich mitten in einem langen Konvoi aus vierundzwanzig meist gepanzerten Fahrzeugen – Dingos, Füchse, Marder und Wölfe – der gerade vom Bundeswehr-Feldlager beim Flughafen von Kunduz in Afghanistan aufgebrochen ist. Eine ganze Kompanie Fallschirmjäger, gut hundertzwanzig Mann. Über die Airport Road rollen sie nach Norden in Richtung der südlichen Vororte der Stadt Kunduz. Da wird man nach Westen abbiegen, um zum Polizeihauptquartier der Provinz Chahar Darreh zu gelangen, dem Ziel ihrer Fahrt. Dort unterhält die deutsche Armee seit einiger Zeit einen Außenposten. Mitten im Feindesland.

Zwei Wochen werden die Soldaten im Polizeihauptquartier verbringen, und während dieser Zeit werden sie fast täglich rausgehen ins »Indianerland«, wie sie das von den radikalislamischen Taliban durchsetzte Gebiet nennen. Sie werden Minenräumkommandos sichern, die sich in stundenlanger Arbeit und zentimeterweise auf den Verbindungsstraßen vorarbeiten, um Sprengfallen zu finden und zu beseitigen. Sie werden zwei befestigte, strategische Höhen bemannen, und sie werden Patrouillen machen in die umliegenden Dörfer, mit den Dorfältesten sprechen, »Präsenz zeigen« und versuchen, Informationen über Bewegungen von Insurgents – Aufständischen – zu bekommen.

Carl studiert die zumeist unheimlich jungen, in sich gekehrten Gesichter der anderen. Diese Jungs hier sind »Tapsies«, wie die Neuankömmlinge wegen ihrer anfänglichen Unbeholfenheit genannt werden. Von Afghanistan kennen sie bis jetzt nur das relativ sichere Feldlager, eine hochbefestigte, kleine Containerstadt mit fünftausend Soldaten. Dagegen sind er und Ebby alte Hasen, beide sind jetzt zum dritten Mal hier.

Wieder erklimmt der Radpanzer eine Bodenwelle und kippt dann nach unten. Carls Magen macht einen Satz ins Leere, und der Richtschütze, der durch eine Art Periskop auf dem Dach die Umgebung beobachtet und von innen das oben montierte Maschinengewehr bedienen kann, zieht reflexartig den Kopf vom Okular zurück, um ein blaues Auge zu vermeiden. Da nützt auch die Polsterung nichts.

Seitdem sie das Feldlager verlassen haben, ist es ziemlich ruhig geworden im Panzer. Um die Stimmung ein bisschen aufzulockern, packt Ebby ein paar seiner Afghanen-Witze aus.

»Was ist ein Esel mit ner roten Taschenlampe auffem Kopp?«, fragt er in seinem gedehnten norddeutschen Tonfall.

Interessiertes Schweigen.

»Der afghanische Knight Rider!«

Kollektives Gelächter. Den kannten sie noch nicht. Ebby lacht mit, sein typisches helles, hüstelndes Kichern. Und feuert gleich den nächsten ab:

»Und woran erkennt man eine afghanische Domina?«

Schweigen.

»An der Lederburka!«

Brüllendes Gelächter.

Carl grinst.

Sind alle froh, wenn einer ein paar Jokes macht.

Die Taliban wissen genau, wann sie kommen, und die deutsche Armee weiß, dass sie ihr nur allzu gern direkt vor der eigenen Haustür ein Ei unter den Hintern legen würden. Trotz intensiver Beobachtung durch Flugzeuge und die Luna-Drohnen, die fast unablässig über dem Gebiet um Kunduz kreisen, gelingt es ihnen immer wieder, selbsthergestellte Sprengfallen auf den Haupt- und Verbindungstraßen zu platzieren. Für ein paar Dollar geben sich auch einfache Bauern aus der Umgebung dafür her, die IEDs – Improvised Explosive Devices – wie die Dinger im NATO-Sprech heißen – zu legen. Manche Streckenabschnitte im südlichen Kunduztal sind geradezu gespickt damit – im Schnitt gibt dort es alle sechzig Meter ein verstecktes IED.

Früher wurden sie meist per Handy gezündet, aber seitdem die Bundeswehr neue Fahrzeuge einsetzt, sogenannte Störpanzer oder Jammer, die das Handynetz unterbrechen, greifen die Taliban auch wieder auf den guten alten Zünddraht zurück, der sich leicht hundertfünfzig Meter bis zum Triggerman, der in einem Feld verborgen ist, erstrecken kann. Weit genug, um unerkannt zu verschwinden. Oder sie schießen mit Panzerfäusten aus den Feldern entlang der Straße. Oder sie schicken einen Suicider, einen Selbstmordattentäter, jemand, der absichtlich einen »Unfall« mit einem der Konvoi-Fahrzeuge verursacht, mit den Soldaten aussteigt und dann den Sprengstoffgürtel zündet, den er unter seinem weiten, afghanischen Gewand versteckt hat. Besonders wirksam sind natürlich mit Sprengstoff vollgestopfte Autos, die entweder von einem Suicider direkt in den Konvoi gesteuert oder aber am Straßenrand geparkt und ferngezündet werden.

»Elbe! Offen!«, knarzt es aus dem Funkgerät vorne im Fahrerraum. Es ist eine Meldung aus dem Fahrzeug des Kompaniechefs an die Gefechtszentrale im Feldlager. Sie besagt, dass sie den ersten Kontrollpunkt ohne Zwischenfall passiert haben. Drei weitere Checkpoints folgen noch.

Der Konvoi fährt befehlsgemäß in der Mitte der Straße, alle anderen Fahrzeuge müssen ausweichen oder anhalten, es herrscht strikte Anweisung, kein anderes Fahrzeug in die Kolonne zu lassen. Der Chef hat bei der Vorbesprechung am Morgen von einer Suicider-Warnung für diesen Konvoi gesprochen. Ein Informant aus der Bevölkerung hat von einem Selbstmordattentäter in einem weißen Toyota gehört. Das fanden alle, na ja, beinahe lustig – weil gefühlt neunzig Prozent aller Autos in Afghanistan weiße Toyotas sind.

Weißer Toyota. Das ist etwa so wie: Der Attentäter trägt einen Bart. Den haben die hier auch alle.

Man kennt inzwischen gewisse Zeichen: Wenn plötzlich niemand mehr auf den Feldern zu sehen ist, kann das Gefahr bedeuten. Die Bevölkerung wird von den Taliban manchmal – keineswegs immer – vorgewarnt, wenn ein Angriff auf die Truppe bevorsteht.

Ein verlassener PKW am Straßenrand ist natürlich ein Alarmzeichen. In diesem Fall schwenken die Fahrer gern zur anderen Straßenseite aus, um dem möglichen Bombenfahrzeug auszuweichen. Aber auch das haben die Taliban – die möglichst jeden Hinterhalt filmen – längst geschnallt und platzieren die Sprengladung deshalb manchmal gerade nicht in dem verdächtigen Auto, sondern auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Wie Carl von einem der Minenräumer weiß, sind die Talibs, die »Koranschüler«, auch ziemlich kreativ bei der Herstellung der Höllenteile. Die IEDs werden meist aus Dieselbenzin, Autolack und Dünger hergestellt, der auf Harnstoff basiert. Und da Dünger manchmal knapp ist, kochen die Taliban stattdessen den Urin von Eseln so lange ein, bis die Harnstoffkonzentration stimmt.

Sie durchqueren jetzt die südlichen Vororte von Kunduz. Wegen des dichten Verkehrs verlangsamt sich die Fahrt auf Schritttempo, und Carl beobachtet durch die Panzerglasscheibe die Menschen am Straßenrand. In blaue Burkas gehüllte, vollverschleierte Frauen, deren Blicke man hinter dem Augengitter nicht mal erahnen kann. Verschlossene Männergesichter, von Bärten fast schwarzer oder grauweißer Schattierung umrahmt. Manchmal feindselig, öfter aber unlesbar, was den Afghanen nicht schwerfällt.

Nur ein paar Kinder hüpfen manchmal lachend neben dem Panzer her und winken. Der junge Soldat, der Carl gegenübersitzt, hebt einen Arm und winkt zurück. In diesem Moment kommt der Konvoi zum Stehen, und Carl bemerkt zwei vielleicht neunjährige Jungs, die am Straßenrand stehen und dem winkenden Soldaten direkt ins Gesicht blicken. Mit übertrieben aufgerissenen Augen...