Yankee Land - Eine Reise durch Amerika 1924

von: Alfred Kerr

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841218605 , 224 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 16,99 EUR

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Yankee Land - Eine Reise durch Amerika 1924


 

Die erste Rast
Coronado Beach
im Mai


I   Diese Worte kommen in Californien aufs Papier. Im südlichsten Teil – an der Grenze von Mexiko (aus dessen »Stadt« Tiajuana ich gestern zurückgekehrt bin). Es ist die erste Rast.

Vieles liegt hinter mir. Nach der Seefahrt – welche Landreisen! Der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Nicht in einem Hieb, sondern mit Wanderfahrten, Wunderfahrten kreuz und quer.

Man stelle sich das vor: die grade Strecke von New York nach Californien ist so lang wie der Weg von Island nach Madeira … Das Yankeereich umfasst, nur von Ost zu West, einen graden Schienenweg, der von Berlin bis Mittelafrika ginge.

Doch ich nahm nicht diesen … kurzen, graden Weg. Sondern zog in die Südstaaten.

II   Auf dieser ersten Rast überdenkt man alles:

Das Wiedersehn mit New York. Dann: Washington (wo der Präsident Coolidge im Weißen Hause freundlich und schlicht genug war, den Plan der Reise mit mir sorgsam zu besprechen). Dann ging es durch Virginia, Tennessee, Alabama – bis wo der Mississippi, gelbscheußlich und reißend, ein Krokodilschlupf, mündet. New Orleans mit dem sterbenden Franzosentum. Gaue mit Baumwollsäcken, Maultieren, Kreolen. Südstriche voll durchsponnener Wälder, mit verrückt gewordenem Tropengerank. Louisianas Phantasto-Dickicht. Ländereien, wo Zucker, Tabak … und Petroleum wächst.

Dann: Texas, die Prärie, mit Raubvögeln, Stechpalmen, verlassenen Zelten. Taglang, nächtelang ging es hier durch versteinte Graswüsten. Bis man im berghohen Arizona-Reich Indianermädel, schwarzäugige, zu Gesicht kriegt und Feigengeäst und Zedern.

III   Hernach das nie zu Vergessende: der Grand Canyon; dieser unerhörte, wie mit lichten Totenschlössern und Ägypterburgen angefüllte Gigantenriss ins Erdinnere hinein; voll unsagbarer Farben; mit Funkelsonnen, bunten Dämmerschatten – und blauen Vögeln im Gefels. (Nebst Rothäuten am Rande des Hochgebirgs.) Das stärkste Wunder der Vereinigten Staaten … außer dem Broadway. (Nachtrag: Zuletzt erschien mir jedoch der Yellowstone-Park als das größte Wunder … neben dem Broadway.)

Und jetzt hier, Californien: mit seiner nie geahnten Mammutmenge von Zitronenbäumen, Apfelsinenwäldern, grape-fruit-Büschen, Rosen, Dattelpalmen, Eukalypten. Das Kanaan der Neuen Welt.

… Ein ewiger Sommer-Frühling. Die blauen Wasser des Stillen Ozeans donnern lind.

IV   Von alledem wird zu sprechen sein. Eins nach dem andren …

Da ich hier an der Coronado-Bai verschnaufe, steht vor meiner Seele die Abfahrt aus Hamburg, als wäre sie vor fünf Jahren erfolgt. Berlin mit dem Grunewald liegt im Nebel, unvordenklich. Wo schwimmt jetzo die »Deutschland«, das schöne Schiff, das mich zum New Yorker Pier von der Elbe trug? Wo sind nun die Fahrtgenossen? Wo jener eindruckvollste, dunkle, der an Bord war: der Gorilla?

Ja, er stieg in Southampton ein; mit seiner Wärterin und dem eleganten englischen Ehepaar. Vier Jahr’ alt. Hat tausend Dollar für die Kabine bezahlt. Er schläft mit seiner Herrin im Bett; geht frei in der Kajütenwohnung herum … Mit achtzehn Jahren wird er vollreif sein.

V   (Tagebuchblatt.) Ich hab’ ihn besucht und war erschüttert. Er ist ja ein schwarzer Negermensch. Ein tiefschwarznackter Nigger, etwas haarbewachsen. Er hat einen ernsten Menschenkopf.

Als er mir entgegentritt, sag’ ich fast: »Angenehm; mein Name ist …«

Unerforschter Hüne. Mehr breitbrüstig und muskelstark als irgendein »Gottessohn«. Boxerhaftes Rätselgeschöpf – noch mit den Gepflogenheiten eines Kindes. Halbkauernd reicht er mir zur Uhr. Dann legt er einen Arm um meinen Hals, berührt mit dem Mund meine Stirn. Es ist wie ein Gruß. Schauerlich.

VI   Hernach, von der Erde, fasst er den Hut, den ich in der Hand halte; beguckt ihn still. Ganz ernst. Er nestelt Julas Schnürsenkel auf; blickt dann prüfend empor. Alles friedlich … und fremd.

Kurz danach schlägt (oder greift) er einem Mann, aber ganz jäh, ins Gesicht. Die Bewegung war was Böses, Missbilligendes, Unvorherzusehendes; die Pflegedame schleppt ihn jetzt ins Nebenzimmer; er sei »excited«; sie schließt rasch die Tür und ruft, wir möchten indes flink vorüberschlüpfen.

VII   Später sagt mir Mrs. Cunningham: »Sonst ist er bei Tag ruhig; allenfalls gegen Männer gereizt, zu Frauen sanft. Nur abends wird er immer rough and wild – rau und wild.«

Noch im Traum haftet was schwer Beschreibliches von diesem kindhaften Feind; von dem benachteiligten Bruder … mit der Gigantenkraft; mit der unvermuteten Böslaune; mit dem grundlos plötzlichen Hass.

(Wenn er, nach zwei Jahrmillionen, den Beruf eines Journalisten ausübt und mein Gegner in rechtsstehenden Blättern ist, wird alles das verflacht und verkleint und bescheiden und mickrig geworden sein.)

VIII   Auf dem Schiff (es hat ein »Ufa-Bord-Kino«) reisen auch deutsche Filmunternehmer.

Der eine sagt: »Ich hole jetzt Amerikanerinnen … die deutschen stars werden zu teuer. Beispielshalber die H. P. – oder auch die L. de P. – bekam vor einem Jahr tausend Dollar pro Film (es wird nach Dollars gerechnet) … wissen Sie, was sie jetzt fordern? Zwölftausend Dollar pro Film! Da zahlen wir drüben achttausend, kommen billiger weg. Für fünfzehntausend kriegt man drüben schon einen ersten, aber allerersten star. Außerdem zieht die P. bloß in Deutschland und Österreich … ist kein Typ für Amerika, wohin wir doch verkaufen.« – Ich (unterirdisch, bei mir): »Werden die deutschen Kinospieler bescheiden, dann gibt es vielleicht noch einen Theateraufschwung … mit Proben, wo niemand fehlt.« – Er (fortfahrend): »Man borgt sie in Hollywood aus. Und selbst wenn sie schon, mal angenommen, einen festen Kontrakt haben, nimmt ihr Direktor gern die Leihgebühr …« Das Schiff streicht durch die Wellen.

IX   Es geht ruhig. Ginge Deutschland so ruhig wie die »Deutschland«! … (Neu erdachte Ausbuchtungen spucken von derjenigen Seite Wasser, wohin das Schiff sich etwa senkt. Gutes Gleichgewicht.)

Ein junger Architekt stellt sich mir vor. »Neffe der Sorma.« Er geht zu der himmlischen Tante nach Chicago … Ein andrer Neffe (der von Stilke), nämlich Dr. Töpffer, hält auf dem Schiff eine Kaufmesse, mit guter Auswahl deutschen Kunstgewerbs … Dann ein humoriger, stets willkommener Hofrat. Zwei Bühnenscheiks (der unpathetischen Art); holen aus New York Anregung … und vielleicht Menschen. Die schlanke, frische Frau des einen.

X   Wie viel größer als gleich nach Friedensschluss ist jetzt, 1924, der deutsche rush auf Amerika. Die Beziehungen renken sich wieder ein – langsam!

Über alles wächst schließlich Gras; man muss es nur nicht übers Knie brechen. (Fein ausgedrückt.)

Ein wohlwollender Leser, Klavierfabrikant aus Neukölln, geht nur bis Southampton. Ein andrer, aus Hamburg, holt von Domingo Tabak. Ein dritter: Holz aus den Staaten. Einer: Automobile. Dann: ein deutscher Nervenarzt. Zwei Agrikulturprofessoren. Die Gattin eines Musikverlegers. Ein Bankmann aus Süddeutschland. Einer aus der Mark – der über Schleswig-Holstein sehnsüchtig zu mir spricht. Ein Großeinkäufer, mit der amerikanisch-netten sister-in-law. Zwei Chemiker, der eine wird bei New York eine Fabrik lenken. Die Familie begleitet ihn – teils ganz klein, teils ganz hoch. Das jüngste Mädelchen trägt einen grauen, niedergekrempten Hut wie eine Dame der altväterischen Zeit aus England. (So einen kriegt meine Tochter, wenn sie drei Jahr’ sein wird.) Der andre Chemiker: von dem badischen Werk. Dessen Handelsleiter; mit der lieblichen Frau.

Diese Menschen alle verfolgen auf der Fahrt einen greifbaren Zweck – ich aber will nur sehn, kennen, atmen … und schreiben. Seltsam.

XI   Alte Bekannte. So der Kapitän von Meibom, mit dem ich vor dem Krieg manche Fahrt gemacht. Das Schiff befehligt Captain Schwamberger – er stammt aus dem Badischen.

Als jemand sich wundert, dass ein Süddeutscher an die Waterkant verschlagen ist, erklärt er schalkhaft: »Die geborenen Waterkanter gehn selten zur See – die kennen den Schwindel! Hauptsächlich Binnenländler fallen drauf rein.« Wir lachen.

Der junge Schiffsarzt ist eine gute Begegnung: Dr. Venzmer. Nicht bloß Medizinmann. Sein Amt warf lebensvolle Schriften ab … Die Menschen alle, »wo sind sie nun?«, wie Platen sich ausdrückt.

XII   Hier, am Stillen Meer, gibt es Vögel, so klein wie Schmetterlinge. Wiederum Libellen, groß wie Vögel. Kolibris. Manche Vögel sind apfelsinenfarb.

Dies zusammen ist so unwahrscheinlich – wie dass der tote Schauspieler Guido Herzfeld auf dem Schiff abends im Film erschien.

Das Leben dort war die ausruhsame Vorbereitung für Wanderschaften durch einen anstrengenden Erdteil. Früh ein Seewasserbad, nachts eingewiegt, zwischendurch Scheibenschubsen oder shuffle board im Wind; und das Gleiten, Gleiten …

Ich wurde sanft, ja blumenhaft wie ein Fakir.

XIII   Einmal, auf...