Das wilde Leben der Cheri Matzner

von: Tracy Barone

Diogenes, 2019

ISBN: 9783257609417 , 512 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Das wilde Leben der Cheri Matzner


 

Billy Beal


Billy Beal rennt. Er rennt, weil sein Paps darauf besteht, dass er das ganze Jahr über trainiert, obwohl die Highschool-Baseballsaison erst im Frühling beginnt. Er rennt durch die frühe Dämmerung und beschleunigt seine Schritte, als er die Scheinwerfer von Pops Kombi an der Rückseite seiner Beine spürt. Von hier an geht es bergauf – er wird seine Zeit von gestern unterbieten oder noch weitere zehn Meilen rennen müssen. »Du fällst zurück!«, ruft Pop. »Gib Gas, Billy Beal. Motivier dich!« Ganz egal, dass Billy Beal der einzige Elftklässler der East Trenton Highschool war, der beim Great-Northern-League-Baseballturnier eingewechselt wurde, als sein Team fünf zu drei im dritten Inning zurücklag und der dann in sechs Innings hintereinander jeweils einen »Strike out the sides« erzielte und so seinem Team den Weg zum Meisterschaftssieg ebnete. Doch für seinen Vater ist er nie gut genug.

An diesem Morgen, wie an fast jedem Morgen in den letzten zwei Wochen, seitdem das Mädchen ihr Baby in der Klinik zurückgelassen hat, drehen sich Billy Beals Gedanken im Kreis. Es wird mit jedem Tag schlimmer, weil der Schulbeginn wieder um einen Tag näher gerückt ist und damit die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass er sie wiedersehen wird. Wenn die Schule anfängt, hat er seine Sozialstunden abgeleistet und damit keinen Grund mehr, zur Klinik zurückzukehren. Angenommen, sie holt ihr Baby, genau einen Tag nachdem er gegangen ist? Dann würde er sie niemals wiedersehen. Und wenn er sie niemals wiedersieht, kann er ihr nicht den Anhänger zurückgeben, den sie zwischen den schmutzigen Handtüchern liegenlassen hat. Wenn sie käme, würde er irgendetwas sagen wie: »Ich glaube, du hast was vergessen.« Natürlich wird sie nicht wegen des Anhängers zurückkommen, das weiß er. Genauso, wie er weiß, dass sie ihr Baby nicht aufgegeben hat, wenigstens nicht für immer. »Du bist ein Romantiker, Billy Beal«, hat Mom gesagt, als er ihr erzählte, dass das Mädchen zurückkehren würde.

»Konzentriere dich, Sohn!«, ruft Pop aus dem offenen Fenster des Kombis. Sie haben den Fuß des Hügels erreicht, und im Nacken von Billy Beals American-Legion-T-Shirt zeichnet sich ein dunkles, verschwitztes V ab. Er hätte Pitcher bei der American Legion World Series in Kalifornien letzten Monat sein können, wenn er nicht dabei erwischt worden wäre, als er bei Manni Cannernis Überfall auf den Spirituosenladen Schmiere gestanden hat. Acht Wochen gemeinnützige Arbeit in der schlimmsten Klinik von Trenton, damit sei er glimpflich davongekommen, hat der Richter gesagt. Billy Beal dachte bei der Arbeit die ganze Zeit an nichts anderes als an das Baseballspielen, das er verpasste, während er Dreck auf dem Boden der Klinik zusammenschob. Bis das Mädchen hereinkam.

Sie sah ganz anders aus als irgendjemand, den er je gesehen hatte. Vor allem anders als die Mädchen auf seiner Highschool. Wenn sie auf seine Schule gegangen wäre, hätte er sie gefragt, ob sie mit ihm auf den Homecoming-Ball gehen wolle – falls er überhaupt je zu einem Ball gehen oder sich trauen würde, ein Mädchen nach ihrem Namen zu fragen. Klar hat er das Mädchen nicht unter den günstigsten Umständen getroffen – der ganze Vorgang war von viel Geschnaufe und Gekeuche begleitet –, aber ihre Fingernägel waren sauber gewesen, und sie hat ein hübsches Kleid angehabt. Es war egal, dass sie keine Schuhe trug; sie hatte hübsche Füße. Sie schrie nicht, weil sich niemand um sie kümmerte, und flippte wegen der Kotze auf dem Boden nicht aus. Er ist überzeugt, dass sie ihn angesehen hat, als er um sie herum moppte; er war ihr aufgefallen. Was ungewöhnlich war, weil sich Billy Beal unsichtbar fühlte, außer beim Baseball.

Solange sich Billy Beal erinnern kann, war sein Leben von Männern dominiert: von Pop, seinen beiden älteren Brüdern und allem, was mit Baseball zu tun hatte. Falls Highschool-Mädchen dem Lederjacken-Aphrodisiakum-Effekt erlagen, bemerkte Billy Beal nichts davon. Die Mädchen, die er kannte – Cousinen, die nach Corned Beef rochen, weil sie im Lebensmittelladen aushalfen –, waren wie alte Socken. Seine Brüder brachten keine Mädchen mit nach Hause; sie gingen mit ihnen nach Asbury Park, mit Bier, das sie im Laden geklaut hatten, und kamen mit Knutschflecken am Hals nach Hause. Aber Billy Beal war nicht blind. Er bemerkte, wie sich die Mädchen auf der Highschool veränderten: Die Oberteile wurden enger, die Faltenröcke kürzer, und wohin er auch schaute, überall waren Beine. Beine auf den Tribünen, Beine, die unter den Tischen übereinandergeschlagen und wieder gelöst wurden. Mädchenbeine waren erschreckend flaumig und weich; Fohlenoberschenkel und -waden voller blonder Härchen und Söckchen, die manchmal hinunterrutschten und zarte Knöchel entblößten.

Aber nichts von alledem hatte Billy Beal im Entferntesten auf das schwangere Mädchen vorbereiten können. Die wenigen Male, als er Frauen in der Klinik gesehen hatte, die kamen, um ihre Babys auf die Welt zu bringen, wurden diese hinter einen Vorhang gebracht, und er hatte ihre Schreie ausgeblendet, indem er im Geiste Baseballstatistiken verglich. Was in Frauenkörpern so vorging, wollte er lieber nicht wissen, und schon gar nicht, wie ein Baby aus einem Mädchen rauskam – besonders einem Mädchen in seinem Alter. Er hatte hinunter auf das abgenutzte Linoleum geschaut und die Ammoniakdämpfe aus seinem Eimer eingeatmet. Bis Syl vor seinem Gesicht mit den Fingern geschnippt und gefragt hatte: »Bist du taub? Ich hab gesagt, hol Handtücher!« Das Mädchen hatte eine Menge Blut verloren. Er war auf alle viere gegangen und hatte alle möglichen Klumpen und Körperflüssigkeiten aufgewischt, aber nie zuvor hatte er solche Überbleibsel mit einem Gesicht in Verbindung gebracht. Billy Beal sah das Gesicht des Mädchens nicht einfach nur an, sondern prägte es sich in allen Einzelheiten ein. Sie erschreckte oder schockierte ihn nicht. Ihr Gesicht war weich, und sie hatte sich zu ihm umgedreht, und er könnte schwören, dass sie ihm mit den Augen eine verschlüsselte Botschaft übermittelt hatte. Ich kenne dich, Billy Beal, hatte sie gesagt.

Billy Beal denkt über die Augen des Mädchens nach, die praktisch transparent waren, wie leere Coca-Cola-Flaschen, als könne er durch sie hindurch in sie hineingucken. Ob es ihr mit ihm genauso ergangen war? Billy Beal rennt am Briefkasten seines Elternhauses vorbei und wäre vielleicht noch weitergelaufen, wenn Pop nicht die Stoppuhr hochgehalten und gerufen hätte: »Du hast es mit drei Zehntelsekunden geschafft. Manchmal glaube ich, du bist mit dem Kopf woanders, mein Gott noch mal.« Sie gehen zur Haustür hinein, an die ein immergrüner Weihnachtskranz genagelt ist. Billy Beals Mund ist staubtrocken. »Peg? Peg? Hat dieser verdammte Ralphie den Zweitschlüssel mitgenommen? Ich hab ihn nämlich nicht gefunden. Peg, verdammt noch mal!« Pop blickt auf, und da ist Mom mit ihrem schiefen Lächeln und hält ihm den Zweitschlüssel für den Laden hin. Ihr langes, silbernes Haar steckt noch unter dem Nachthaarnetz, und ihr Gesicht ist knittrig wie ein ungemachtes Bett. »Warum hast du nichts gesagt?«, fragt Pop und marschiert an ihr vorbei in die Küche, wo das Frühstück schon auf sie wartet.

Billy Beal geht an den Kühlschrank, trinkt Milch aus der Flasche und genießt die elektrisch gekühlte Luft. Da hatte er eine Eingebung: Sie sollten das Baby aufnehmen! »Wir sollten das Baby aufnehmen«, sagt er.

»Wie bitte?«, fragt Mom.

»Wir sollten das Baby aufnehmen«, wiederholt er, da es absolut Sinn macht.

»Was zum Teufel faselst du da?«, fragt Pop und blickt von seinem Teller mit Schinken und Eiern auf.

»Gar nichts, mach die Tür zu, Billy, der Kühlschrank frisst sonst zu viel Strom.«

Billy Beal wischt sich mit dem Handrücken Milch vom Mund. »Nur als Übergangslösung, bis sie zurückkommt. Es wäre eine gute Sache. Meinst du nicht auch, Mom?«

Pop juckt von seinem Stuhl auf wie ein Springteufel. »Du lieber Himmel, du weißt davon, Peg? Ich glaube es nicht! Ich kann es einfach nicht glauben, dass du hinter meinem Rücken ein Mädchen … Wer ist es? Wer ist die kleine Schlampe? Wie konnte das bloß passieren, du dämlicher Idiot?« – »Moment mal, ganz ruhig«, sagt Mom und quetscht sich zwischen Vater und Sohn. »Geh mir aus dem Weg, Frau! Jetzt kannst du ihn nicht mehr beschützen!« Pop wirft sich in die Brust wie ein Gorilla. »Ich bring dich um, Billy Beal! Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, du wärst im Knast gelandet!« – »Al, Al, Al, du hast das missverstanden!« Mom wedelt mit den Händen. Pop schiebt sie aus dem Weg, trommelt mit den Fäusten auf die Brust seines Sohnes ein und schubst ihn rückwärts auf einen Stuhl. »Was soll das, hä?« Rumms. »Bist du bescheuert, oder was?« Rumms. »Was wird jetzt aus deinem Baseballstipendium? Du behämmerter Schwachkopf, du blöder! Du hast nur deswegen einen Kopf auf dem Hals, damit’s nicht reinregnet!« Pop hüpft hin und her und ringt mit Billy, in dem Versuch, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.

»Al, Al, Al!«, schreit Mom und zerrt an seinem Hemd. »Es ist nicht sein Baby!«

»Ich erwürge dich, du …« Pop nutzt sein Gewicht zu seinem Vorteil und will sich gerade auf seinen Sohn setzen, als Mom ihm ins Ohr schreit: »Hör auf, Al! Ich hab gesagt, es ist nicht sein Baby!« Paps schaut zu Mom auf, und Billy windet sich unter ihm hervor.

»Verdammt, Pop!«, keucht Billy und hebt angewidert die Hände.

»Willst du mich umbringen?«, fragt ihn Pop. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Schon dafür sollte ich dir eine...