Frisch geküsst, ist halb gewonnen

von: Susan Mallery

MIRA Taschenbuch, 2019

ISBN: 9783745750850 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Frisch geküsst, ist halb gewonnen


 

1. KAPITEL


Im Film gibt es immer eine Warnung, bevor etwas Schlimmes passiert. Die Musik schwillt an, der Held verspricht, dass jetzt alles gut wird, oder die Handlung läuft plötzlich in Zeitlupe.

Das Leben ist nicht so vorhersehbar.

Izzy saß am Fenster, wie jeden Tag im vergangenen Monat, starrte hinaus in eine verschwommene Welt und tat sich selber leid. Und auch wenn das sicher keine Karriere war, die jemand freiwillig anstreben würde, füllte es doch ihre Tage. Sie ignorierte die Bitten ihrer Schwestern, sie zum Lunch zu begleiten oder mit ihnen einkaufen zu gehen. Sie kam nicht einmal zum Abendessen nach unten wie ein normaler Mensch. Wenn sie sie zu sehr bedrängten, wies sie darauf hin, dass sie nicht mehr normal war – sie war behindert. Und wenn das auch nicht funktionierte, schmiss sie die Tür hinter sich zu und schloss ab, bis sie hörte, dass die anderen gegangen waren. Sie hatte ihr ganzes Leben lang alles gegeben, was sie hatte, und so war es jetzt nur ihr gutes Recht, die Königin des Selbstmitleids zu sein, wenn ihr danach war.

Irgendwann hörten ihre Schwestern auf, sie zu nerven. Was für sie schon ein Hinweis hätte sein müssen.

Es gab keine Warnung. In der einen Minute saß sie auf ihrem üblichen Platz, in der nächsten packte jemand sie um die Hüfte, zog sie auf die Füße und warf sie dann über seine sehr breite, sehr muskulöse Schulter.

„Was zum Teufel machen Sie da?“, schrie sie, als ihr das Blut in den Kopf schoss und sie schwindlig werden ließ.

„Meinen Job. Mach nur weiter, wehr dich ruhig. Du kannst mir nicht wehtun.“

Das war eine Herausforderung, die sie nicht auf sich sitzen lassen konnte. Aber als sie versuchte, ihren Angreifer zu treten, schlang er einfach einen Arm um ihre Beine und hielt sie fest. Zappeln half ihr auch nicht weiter. Der Mann hatte steinharte Muskeln, und der Monat, in dem sie sich unbewegt ihrem Selbstmitleid ergeben hatte, hatte sie mädchenhaft schwach gemacht.

„Ich schwöre …“, fing sie an, als der Kerl sich umdrehte und auf die Tür zuging. „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“

„Izzy Titan. Hey, Skye.“

Hey, Skye?

Izzy hob den Kopf und versuchte, den Raum scharf zu stellen, aber es war dunkel und verschwommen, und so konnte sie keine Details erkennen.

„Skye?“, rief sie. „Bist du da?“

„Oh, Izzy.“ Ihre Schwester klang besorgt, aber nicht beunruhigt. Nicht ängstlich. „Wir wussten uns nicht mehr anders zu helfen.“

„Wir?“

„Ich bin auch hier“, sagte Lexi, ihre andere Schwester. „Das ist nur zu deinem Besten.“

„Was, dass ich entführt werde?“

„Nick hat die besten Empfehlungen. Du hast uns erzählt, dass die Ärzte dich auf Antidepressiva setzen wollten, was du aber abgelehnt hast. Und du hattest recht, das hier ist viel besser.“

„Was?“

„Du hast dein Zimmer nicht verlassen und wolltest nicht mit uns reden. Es ist jetzt einen Monat her, Izzy.“

„Ihr lasst mich kidnappen, weil ich nicht mit euch einkaufen gehen wollte? Seid ihr verrückt geworden?“

Sie waren inzwischen im Flur angekommen. Das erkannte sie daran, dass es dunkler wurde und ihre Finger die Wände streiften. Dann stiegen sie immer weiter hinunter in eine immer dunklere Finsternis.

Jeder Schritt fuhr ihr durch den gesamten Körper. Wenn sie das Mittagessen gegessen hätte, worauf ihre Schwestern so scharf gewesen waren, würde sie sich jetzt hier auf der Stelle übergeben.

„Ich mache keine Witze“, rief sie. „Hört sofort damit auf. Alle. Nick, es ist mir egal, was meine Schwestern sagen. Ich hab dem hier nicht zugestimmt. Lassen Sie mich runter oder ich schwöre, dass ich Ihren Hintern so lange ins Gefängnis bringe, dass Sie irgendwann sogar Gefallen daran finden, Bubbas Lustsklave zu sein.“

„Du hast eine Zustimmungserklärung unterschrieben. Ich hab sie hier in der Hosentasche.“

Bei der Erinnerung daran, wie Skye sie gebeten hatte, ein paar Schecks zu unterschreiben, um damit Izzys Rechnungen zu bezahlen, hätte Izzy vor Frust am liebsten aufgeschrien. „Sie hat mich ausgetrickst. Ich bin blind! Ich habe nicht gesehen, was ich da unterschrieben habe.“

Sie gingen nach draußen. Undeutlich erkannte sie die Umrisse der Bäume und spürte das willkommene Licht und die Wärme der Sonne.

„Tja, man sollte halt nichts unterschreiben, was man nicht lesen kann“, erwiderte Nick.

Sie konnte die Belustigung in seiner Stimme hören, und das machte sie wirklich wütend. Sekunden später öffnete er eine Autotür und setzte sie auf einem weichen Ledersitz ab. Bevor er die Tür schließen konnte, drängte sie sich an ihm vorbei und rannte in Richtung Freiheit. Sie hatte genau drei Schritte gemacht, bevor er sie wieder um die Taille packte und an sich zog.

Es war, als würde man gegen eine Bergflanke gedrückt. Sie trat um sich und versuchte, ihren Arm freizubekommen. Ihre anfängliche Irritation wandelte sich in Wut und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Sie wandte sich dem Haus zu – wenigstens konnte sie noch Objekte dieser Größe erkennen –, weil sie annahm, ihre Schwestern würden auf der vorderen Veranda stehen.

„Wie konntet ihr mir das antun?“, rief sie in die Richtung. „Ihr seid meine Familie!“

„Izzy, wir lieben dich.“ Sie hörte die Tränen in Skyes Stimme.

Gut, dachte Izzy wütend. Sie hoffte, dass Skye für den Rest ihres Lebens von Schuldgefühlen geplagt würde.

„Wir wussten nicht, was wir sonst noch hätten tun können“, rief Lexi mit ungewohnt unsicherer Stimme.

„Ich hätte euch so etwas nie angetan“, schrie Izzy. „Glaubt ja nicht, dass ich euch das jemals vergeben werde. Niemals!“

Das letzte Wort wurde ihr abgeschnitten, weil sie wieder auf den Rücksitz des Autos geschoben wurde. Die Tür fiel ins Schloss, bevor sie einen erneuten Fluchtversuch starten konnte. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber da war keiner. Sie konnte auch die Fenster nicht öffnen.

Sekunden später ertastete sie ein eng geflochtenes Stoffgitter zwischen sich und dem Vordersitz und wusste, dass sie in der Falle saß.

Sie hörte, wie eine andere Tür geöffnet wurde, und sah schemenhaft, dass Nick sich hinter das Lenkrad setzte. Dann fuhren sie los.

Ihre Schwestern hatten einen Fremden angeheuert, um sie aus ihrem Haus zu entführen und wer weiß was mit ihr anzustellen. Sie hatten sie im Stich gelassen. Nein, das hier war schlimmer – jemanden im Stich zu lassen hatte etwas Passives, aber das hier war auf ihre Veranlassung hin geschehen. Die beiden Menschen, auf die sie ihr gesamtes Leben gezählt hatte, hatten entschieden, dass sie zu viel Arbeit bedeutete, und sie wie Sperrmüll abholen lassen.

In den nächsten drei Stunden fuhr Nick Hollister zehn Meilen schneller als erlaubt. Er wäre gerne noch schneller gefahren, aber er wusste, dass er dem Unvermeidlichen nicht entfliehen konnte. Seine hübsche dunkelhaarige Passagierin starrte mit einer Entschlossenheit aus dem Fenster, die ihm sagte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren.

„Du kannst ruhig weinen, wenn du willst“, sagte er. „Das stört mich nicht.“ Er hatte schon viel Schlimmeres als Tränen gesehen.

Izzy rührte sich nicht. „Die Befriedigung werde ich dir nicht gönnen.“

„Du glaubst, ich hätte gewonnen, wenn du weinst?“

„Ich dachte, Leute, die andere schikanieren, ziehen ihre größte Befriedigung daraus, zu sehen, dass sie jemandem wehgetan haben. Du hast nicht gewonnen. Du kannst mich nicht brechen.“

Während sie sprach, hob sie ihr Kinn in unbewusster Abwehr. Gut, dachte er grimmig. Sie würde jedes bisschen Kraft brauchen, wenn sie den Weg zurück finden wollte. Und sein Job war es, sicherzustellen, dass sie dabei erfolgreich war.

„Dich brechen?“, fragte er und ignorierte, dass sie ihm vorgeworfen hatte, andere Menschen zu schikanieren. Er war in ihr Leben gestürmt und hatte sie allem entrissen, was sie kannte. Das war nicht gerade eine angenehme Situation. Er verstand ihre Angst vor dem Unbekannten, auch wenn ihr Unbekanntes ein ganzes Stück kontrollierter war als seines damals. „Ziemlich dramatisch, oder?“

„Hey, du bist derjenige, der mich auf den Rücksitz eines Autos geworfen hat.“

„Eines SUV.“

„Was auch immer. Das nennt man Entführung. Also kann ich mich benehmen, wie ich will.“

„Deine Schwestern wissen, wo du hinfährst und was dich dort erwartet.“

„Und aus welchem Grund genau sollte das beruhigend für mich sein?“ Sie schluckte. „Lass mich einfach in Ruhe.“

Er hörte die Angst in ihrer Stimme. Er sah sie in ihrer angespannten Haltung. Hinter der Angst lag die reine Panik, und auch wenn er ihre Aufmerksamkeit haben wollte, brauchte er sie nicht so dringend.

„Ich heiße Nick Hollister“, sagte er in dem gleichen ruhigen Ton, mit dem man ungezähmte Pferde beruhigte. „Ich leite eine Schule, die Überlebenstrainings für Firmen anbietet. Das bringt genug ein, um die Rechnungen zu bezahlen. Außerdem nehme ich Kinder auf, die traumatische Verluste erlitten haben oder Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Ich bringe ihnen bei, wie man in meiner Welt überlebt. Das hilft ihnen, sich wieder in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden.“

Izzy starrte aus dem Fenster und schien ihn offensichtlich zu ignorieren. Er fragte sich, wie viel sie wirklich sehen konnte.

„Deine Schwestern haben mich gebeten, dich für ein paar Wochen bei mir aufzunehmen und dir zu helfen, dich...