lesen.heute.perspektiven

von: Eduard Beutner, Ulrike Tanzer

Studienverlag, 2019

ISBN: 9783706559973 , 260 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 23,99 EUR

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lesen.heute.perspektiven


 

Karlheinz Rossbacher


Lesen. Was sonst?


Eine Abschiedsvorlesung als Eröffnungsvortrag


„Emeritus ist ein sehr schöner Beruf. Nur die Ausbildung dauert so lang.“ Quellenforschung hat ergeben: Das Copyright auf dieses Aperçu hat, wie schön, ein Germanist, Karl Otto Conrady. Ich möchte damit aber nicht ausdrücken, mir sei die Zeit zu lang geworden. Vielmehr möchte ich darauf hinaus, dass Sie, meine Damen und Herren, Freunde, Kolleginnen und Kolleginnen, konsequenterweise jetzt nur ein Gesellenstück erwarten können. Und wenn das akzeptabel ist, darf ich auch kurz in meine Zeit als Lehrling zurückgehen. Unlängst hat mich eine Studentin gefragt, was eine Zwergschule sei. Vielleicht eine Schule für Zwerge? O nein! Das war eine Schule mit nur einem Klassenzimmer, in dem acht Schuljahrgänge, Sechsjährige bis Vierzehnjährige, unterrichtet wurden. Es gibt noch ein paar Zwergschulen in Österreich, aber nicht mehr echte, sondern nur mehr solche mit bloß vier Jahrgängen in einem Klassenraum, oder drei nach dem ersten Jahr. Ich hingegen wurde im Herbst 1946 in eine echte mit acht Jahrgängen eingeschult; man nannte sie damals übrigens noch nicht Zwergschulen, sondern schlicht einklassige Volksschulen. Wir waren im einzigen Klassenzimmer ungefähr sechzig an der Zahl, und an den Direktor und einzigen Lehrer der Schule denke ich heute noch mit Respekt. Zwei Jahre vor mir wurde meine liebste Spielgefährtin eingeschult, und weil ich sie nicht verlieren wollte, habe ich mit ihr mitgelernt. Und das ging am Besten beim Lesen. Aber wie das Leben so spielt: Für Mädchen, die schon in die Schule gehen, werden Buben im Kindergartenalter uninteressant, und sie wurde mir untreu. Treu hingegen blieb mir die Faszination des Lesens.

Alberto Manguel, Verfasser einer empfehlenswerten „Geschichte des Lesens“ (Manguel 2000) schildert, wie er, kaum hatte er zu lesen gelernt, in der Öffentlichkeit alles, was ihm unter die Augen kam, aufsog: Aufschriften, Reklamesprüche, Plakate, Graffiti, Automarken, Fahrkarten mit Kleingedrucktem. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es wenig dergleichen: Ortsschild, Gasthaus, Gemischtwarenhandlung. Und dann einmal, im April 1945, auf einem kleinen Bahnhof, an der Hand meiner Mutter auf einen Zug wartend, sah ich ein Transparent. Ich wollte, es wäre ein anderes gewesen, aber es war kein anderes da. So las ich eben das und las es dann laut vor: „Räder müssen rollen für den Sieg!“ Die Brutalität des Krieges und den Zynismus des NS-Regimes konnte ich noch nicht begreifen und genoss, fürchte ich, das Lob der erstaunten Umstehenden. In der Rückschau war aus dieser meiner gespenstischen vorschulischen „Vorlesung“ zu lernen, dass ein Lesevorgang zwar gelingen kann, aber nicht von Verstehen begleitet sein muss. Ein Text, und auch diese Durchhalteparole kurz vor Kriegsende war natürlich ein Text, kann ohne seine Kontexte nicht verstanden werden, selbst wenn er „richtig“ gelesen wird. Zur Theorie der literarischen Rezeption, auf die ich noch komme, gehört der Begriff der Leserdisposition. Das sind die lebensgeschichtlichen Sedimente, Erfahrungen, Leseerlebnisse, Kenntnisse, kurz: das persönliche „Weltwissen“, zu dem damals für mich das Wissen, welche Räder zu welchem Sieg führen sollten, noch nicht gehörte. Die Räder des gemütlich daher dampfenden Personenzugs konnten es ja wohl nicht sein. Drei Jahre später musste ich es schon anders verstehen. Da brachte meine Mutter nach mühevollen Nachforschungen in Erfahrung, dass in jenem April 1945, als ich jene Parole las, mein Vater, der in den Osten geschickt worden war, um dort die Rote Armee aufzuhalten, dort sein Leben verloren hatte. Ein später, folgenreicher Kontext zu jenem Text, eine Leserdisposition im Nachhinein, trocken gesprochen.

Ich möchte dem damaligen Gemeindesekretär posthumen Dank abstatten, der mich quer durch die kleine Gemeindebibliothek lesen ließ, ohne je einen Entlehnschein auszufüllen. Der in Porto Empedocle auf Sizilien geborene Theatermann und Schriftsteller Andrea Camilleri war ein sehr behütetes Bübchen, durfte nicht auf die Straße und lernte im Alter von sechs Jahren, wie er in einem biographischen Interview gesagt hat, „blitzschnell“ lesen. Seine erste Lektüre seien Comics gewesen, die ihm sein Vater gekauft habe – wohl ihm, denn Comics in den frühen Jahren sind nützlich, sie reduzieren nämlich, fürs Erste, Komplexität –, und dann habe er, ebenfalls noch mit sechs Jahren, sein erstes Buch gelesen: Joseph Conrad, Almeyers Wahn (Lodato/Camilleri 2005, S. 53f.). Ich hingegen durfte zwar auf die Straße, aber Comics gab es damals für mich keine. Für mich war es dann auch nicht Joseph Conrad, sondern, so meine ich mich zu erinnern, Friedrich Gerstäckers Die Flußpiraten des Mississippi (1848), also ebenfalls exotisch-fern. In Peter Handkes Roman Der Bildverlust ist die Protagonistin, „Finanzweltmeisterin“ genannt, Teilnehmerin an den jährlichen Konferenzen der Welt-Universalbank (Handke 2002, S. 63; 116). Sie hat sich, so heißt es, viele Feinde gemacht. (Seit dem September 2008 hätte sie zweifellos eine ganze Menge mehr.) Diese Frau sistiert ihren Beruf, wird Wandersfrau und wandert durch die spanischen Gredos. Von ihr wird gesagt, dass sie einmal eine Leserin gewesen sei, noch immer sei, aber nicht mehr so richtig. „Und zugleich kam sie sich ohne Lesen verwaist vor.“ An anderer Stelle ist von ihrem „Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen“ die Rede (Handke 2002, S. 16; 174). Ich bin wahrscheinlich, wie viele hier im Hörsaal, ein Beispiel für ein solches „Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen“. Unser Modell und Vorfahre in der Literaturgeschichte ist natürlich Anton Reiser (1785– 1790) von Karl Philipp Moritz (Dazu Stocker 2006, S. 19–27). (Eine Schnell-Variante dieses Sich-Hinauslesens fördert hier in Salzburg der Verein „abc“, der erwachsenen Analphabeten hilft, so schnell wie möglich in die „literacy“ zu gelangen, um sich aus ihrer eingeengten Welt hinaus zu lesen.)

Ich habe, um die Geschichte fortzusetzen, das Lesenlernen nach meiner Einschulung noch drei Mal erlebt, das heißt, mit halbem Ohr mitgehört, wenn im Herbst die Schulanfänger kamen. Die damalige Methode habe ich in der Rückschau MIMI-Methode genannt. Damals hatte sie noch keinen besonderen Namen und hieß erst später „analytische Methode“. Sie wurde angewendet in der Überzeugung, jeder Buchstabe – hinter dem natürlich ein Laut steht – sei ein Bedeutungsbaustein. (Ein einzelner Laut kann nicht Bedeutung tragen, sondern, zum Beispiel als Phonem, nur Bedeutungsunterscheidung markieren, zum Beispiel in „lesen“ und „leben“.) Also Bedeutungsbaustein (nicht Teilbedeutung!) M plus Bedeutungsbaustein I plus Bedeutungsbaustein M plus Bedeutungsbaustein I ergibt MIMI. Natürlich lernt man auch auf diese Weise lesen, aber man kann damit einige wichtige geistige Prozeduren beim Lesenlernen und Lesen nicht deutlich aufzeigen. Darauf komme ich noch. Als ich dann selbst das Lesen lehrte, in der Übungsschule der Lehrerbildungsanstalt und während der so genannten Landschulpraxis, war die MIMI-Methode passé, und es wurde, etwas euphorisch, die so genannte Ganzheitsmethode praktiziert, die, der Name sagt es, auf dem Erkennen eines ganzen Wortes aufbaute. Die Lehrerin für die erste Klasse unserer Übungsschule, die nicht sofort von jeder Innovation restlos fasziniert war, setzte bei jedem Wort die MIMI-Methode sofort hinterher, und so ergaben sich Worterkennung und Buchstabenanalyse fast in einem.

Ich möchte Ihnen nun in Kurzfassung vorführen, warum die MIMI-Methode für sich allein die Eigenart des Lesens nicht angemessen beschreibt. Ich entlehne dazu einfache Erkenntnisse aus der Augenphysiologie, der Kommunikationstheorie und der Lerntheorie. Damit lässt sich eine eklektische Baukastentheorie des Lesens zusammensetzen, die mit einer gewissen Konsequenz, darauf soll es hinauslaufen, zur so genannten Rezeptionsästhetik führt. Diese literaturwissenschaftliche Analyse und Interpretationsweise hat sich schon vor längerer Zeit etabliert, allerdings ohne sich damals mit einer allgemeinen Lesetheorie kurzzuschließen. Das liefere ich jetzt nach; es ist sozusagen meine Innovation, die Rezeptionsästhetik durch eine allgemeine Lesetheorie zu unterfüttern.

Dazu zunächst drei ein wenig konstruierte Sätze: „Ein Kardinal übersteht eine Operation ohne Betäubung nach kurzer Be-tübung.“ Es heißt natürlich Bet-übung. „Vor allem der Talent-förderung dient der Wettbewerb zur Talent-wässerung durch Stauseen.“ Natürlich Tal-entwässerung. „Die Studentin legte zu ihren Spar-geldern, was sie bei der Spar-gelernte verdient hatte.“ Es heißt Spargel-ernte. Wozu das Ganze hier? Liest man das versuchsweise strikt nach der MIMI-Methode (wir als flüssig Lesekundige können das ohnehin nur mehr simulieren), kommt das Verständnis nicht im ersten Anlauf. Sondern es geht besser, wenn man nicht Buchstabe für Buchstabe entziffert, sondern vorausschaut und anders phonologisch verarbeitet, das heißt, anders segmentiert. Wer nach der Worterkennung lesen gelernt hat, segmentiert und unterscheidet das ähnlich Aussehende schneller und sicherer (Oerter 1999,...