Amina - Mein Leben als Junge

von: Carolin Philipps

Verlag Carl Ueberreuter, 2019

ISBN: 9783764192495 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Amina - Mein Leben als Junge


 

Bis vor einigen Jahren lebten wir alle in einem kleinen Dorf ungefähr zwei Tagesreisen von Kabul entfernt. Um unser Haus herum gab es eine zwei Meter hohe Mauer aus verputztem Lehm mit einem Tor, das Baba jeden Abend abschloss, obwohl weder die Mauer noch das Tor uns bei einem Angriff wirklich geschützt hätten. Gegen die Flugzeuge, die ihre Bomben auf Kabul warfen und manchmal auch auf unser Dorf, schützten sie sowieso nicht. Durch unser Dorf zogen seit vielen Jahren immer wieder Soldaten mit oder ohne Panzer. Und wenn sie auf feindliche Soldaten trafen, dann wurde geschossen. Unsere Mauer hat schon viele Einschusslöcher.

»Man kann die Geschichte Afghanistans daran ablesen«, sagte Baba immer. Er hat versucht, uns zu erklären, wer gegen wen kämpft. Aber das Einzige, was ich damals verstanden habe, war, dass es seit über vierzig Jahren keinen Frieden gab und dass Baba die Hoffnung längst aufgegeben hatte.

Wenn man durch das Tor in der Mauer geht, kommt man in einen Innenhof, der zu drei Wohnungen führt. In der einen wohnte meine Familie mit meinen Eltern, mir, meinen älteren Schwestern Nila und Najiba und meinen zwei jüngeren Schwestern. Daneben wohnten Onkel Achmed und Tante Filiz mit ihren vier Kindern, und in der dritten Wohnung, die nur aus zwei kleinen Zimmern besteht, lebte meine Großmutter mit Tante Zohra.

Im Innenhof gibt es einen Brunnen und einen Ofen aus Lehm, auf dem die Frauen unser Essen gekocht haben. Meine Cousins und ich mussten dafür sorgen, dass immer genügend Feuerholz da war. Baba hatte auch einen Gaskocher gekauft, aber das Gas dafür konnten wir uns nur leisten, wenn er mit einem seiner Kampfhähne ein gutes Geschäft gemacht hatte.

Meist kochten alle Familien zusammen in einem großen Topf: pulao und bolani mit Kartoffelfüllung, sehr selten auch mal Lammkebab mit Reis. Zu jeder Mahlzeit gab es frisch gebackenes naan. Manchmal kauften Vater oder Onkel Achmed einige Hühner, die dann im Innenhof herumliefen.

Der Innenhof gehörte den Frauen. Nach dem Essen machten meine älteren Schwestern und meine Cousinen in großen Plastikschüsseln den Abwasch oder wuschen unsere Wäsche. Sie redeten und lachten dabei, als hätten sie großen Spaß. Meine Mutter und meine Tanten machten täglich frisches naan im Ofen. Der Duft zog durch den ganzen Hof über die Mauer und begrüßte uns, wenn meine Cousins und ich abends nach Hause kamen. Für meine kleinen Schwestern war der Innenhof ihr Spielplatz, wo sie singen, hüpfen und herumlaufen konnten.

Auf dem Dach unseres Hauses lebten Babas Tauben. Jeden Abend, wenn er vom Feld zurückkam, wusch er sich und ging dann zu ihnen, um sie zu füttern. Ich durfte ihm manchmal helfen. Er öffnete die Käfige und ließ sie eine Weile fliegen. Sie sahen aus wie kleine weiße Drachen. Und als würde Baba sie an einer Schnur festhalten, flogen sie nicht davon, sondern kreisten in der Luft über unserem Haus.

»Sie wissen genau, dass sie nur hier etwas zu fressen bekommen«, sagte mein Vater immer und lachte und wedelte mit einem Fächer durch die Luft.

Wenn er bei seinen Tauben war, dann war er glücklich und vergaß seinen zerschossenen Arm und seinen Zorn auf den Mann, der dafür verantwortlich war und der seit Jahren versuchte, diese Schuld mit Tausenden von Afghani abzuzahlen.

Baba hatte, nachdem die Russen 1979 unser Land besetzt hatten, zusammen mit den Mudschaheddin gegen die Kommunisten gekämpft. Es war ein Dschihad, ein heiliger Krieg, denn die Kommunisten glauben nicht an Gott, und so war es die Pflicht eines jeden gläubigen Muslim, sie zu vertreiben, erzählte Baba oft.

Sein Kommandant war damals Khan Najibullah gewesen. Der hatte eines Tages einen Angriff auf einen Vorort von Kabul befohlen, wo sich ein feindlicher Trupp befand. Jeder wusste, dass der Feind in der Überzahl war, auch seine Offiziere warnten ihn, aber Khan Najibullah interessierte das nicht. Und so wurde aus dem Angriff eine furchtbare Niederlage, die den meisten aus der Truppe den Tod brachte.

Baba befand sich in der Nähe des Kommandanten, als der Khan von einer feindlichen Kugel getroffen wurde. Es gelang meinem Vater, ihn in Sicherheit zu bringen und ihm so das Leben zu retten, auch wenn er selbst dabei an der Schulter getroffen wurde. Seitdem kann er seinen linken Arm nicht mehr bewegen.

Aus Dankbarkeit gab Khan Najibullah meinem Vater später seine jüngste Tochter zur Frau. Sie war bei der Hochzeit erst zwölf Jahre alt und ist bei der Geburt ihrer Tochter, meiner ältesten Schwester Nila, gestorben. Khan Najibullah war sehr traurig und schickte uns seitdem jedes Jahr zum Neujahrsfest Geld, Geschenke für die ganze Familie und neue Kleider für seine Enkelin. Außerdem nahm er Baba das Versprechen ab, dass er Nila nicht verheiraten durfte, bevor sie sechzehn Jahre alt war.

Ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete mein Vater erneut, meine Mutter.

Mit dem Geld und den Geschenken von Nilas Großvater konnte Baba auch unsere Wohnung einrichten. Im Wohnraum lag ein dicker roter Teppich auf dem Boden, an den Wänden gab es rote Polster aus Samt, auf denen wir beim Essen saßen und Baba und ich in der Nacht auch schliefen. An der Wand stand ein Regal, auf dem nur ein Buch lag: der Koran, in grünen Samt eingewickelt. Kein anderes Buch sollte über ihm stehen. Dabei war es sowieso das einzige Buch in unserem Haus außer unseren Schulbüchern.

Dann gab es noch ein Zimmer für meine Mutter und meine Schwestern. Vor diesem Zimmer hing ein Vorhang, der immer, wenn Fremde kamen, zugezogen wurde.

Auch der Gaskocher wurde mit dem Geld von Nilas Großvater gekauft, die ersten Tauben und Babas Kampfhähne, seine Aprikosenbäume und einige zusätzliche Felder. Onkel Achmed und Großmutter bekamen immer einen Teil von Khan Najibullahs jährlichen Geschenken.

So wurde unser Haus zum schönsten Haus und Baba zum mächtigsten Mann im ganzen Dorf.

Jedes Jahr zu Beginn des Nowruzfestes, sobald der Geldbote von Nilas Großvater gekommen war, lud Baba das ganze Dorf ein. Meine Mutter und die anderen Frauen aus meiner Familie hatten vorher schon tagelang zusammen mit den Frauen aus dem Dorf gekocht und gebacken: simenak, haft mewah und andere Gerichte, die es nur beim Neujahrsfest gab.

Einmal, kurz vor meiner Geburt, Nila war gerade fünf Jahre alt, besuchte uns Khan Najibullah persönlich, um die Geschenke zu bringen und seine Enkelin zu sehen. Er kam mit einem riesigen Gefolge. Das gab eine große Aufregung im Dorf. Noch heute erzählen alle davon.

Für unsere Familie, vor allem für Baba, war der Besuch des berühmten Kommandeurs eine große Ehre. Khan Najibullah war sehr zufrieden mit allem und umarmte Baba zum Abschied feierlich vor sämtlichen Männern des Dorfes, aber er wünschte ihm auch mit seiner lauten Stimme, dass Allah ihm bald einen Sohn schenken möge.

»Jeder Mann braucht einen Sohn«, fügte er hinzu. Das war für meinen Vater eine schlimme Demütigung, denn er hatte ja nur zwei Töchter.

Baba hatte große Hoffnung, dass ich dieser Sohn werden würde, denn ein Sohn ist wichtig für das Ansehen eines Mannes. Stattdessen wurde ich, Amina, geboren. Aber ich wurde zu Amin, dem Sohn, den mein Vater sich immer gewünscht hatte.

Baba wollte das so und keiner protestierte. Selbst meine Mutter sagte nichts, denn sie wusste, dass eine Frau, die keinen Jungen gebären kann, keinen Wert hat. Außerhalb der Familie wusste niemand, dass ich nicht Babas Sohn war, sondern nur eine weitere Tochter. Es sollte so lange wie möglich ein Familiengeheimnis bleiben, denn von Babas Ansehen im Dorf hing auch das Ansehen der ganzen Familie ab.

Ich war vielleicht fünf Jahre alt, als ich auf der Hochzeit einer Cousine neben meiner Großmutter saß und sie in ihrem bunten wunderschönen Kleid neugierig anstarrte. Großmutter hat mir die Geschichte später immer wieder erzählt.

»Gefällt es dir? Möchtest du auch so ein Kleid haben?«, fragte sie mich plötzlich.

»Jungen tragen keine Kleider«, sagte ich.

»Spätestens bei deiner eigenen Hochzeit wirst du auch eins tragen.«

Ich habe laut gelacht. »Ich bin Amin, Großmutter.«

Ich dachte, sie machte einen Scherz, wie sie das oft tat, um mich zu necken. Aber diesmal zwinkerte sie mir nicht zu, sondern sah mich ganz ernst an, strich mir über die Haare und zeigte dann auf den Regenbogen, der in leuchtenden Farben über dem Feld stand.

»Beeil dich! Lauf unter ihm durch! Und wenn du Glück hast, wird aus dir ein richtiger Junge.« Als ich sie verwirrt anstarrte, gab sie mir einen kleinen Stoß.

»Na los, beeil dich! Er wird nicht ewig auf dich warten.«

Ich verstand zwar nicht, was sie meinte, aber da sie so ernst schaute, rannte ich los. Ich war nicht der Einzige. Auch andere Kinder, manche...