Northern Lights - Die Wölfe aus dem Nebel (Northern Lights, Bd. 2)

von: Christopher Ross

Verlag Carl Ueberreuter, 2019

ISBN: 9783764192488 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Northern Lights - Die Wölfe aus dem Nebel (Northern Lights, Bd. 2)


 

1


Carla Gorman würde den Anblick der toten Wölfe niemals vergessen. Sie war einiges gewohnt, hielt sich als Wolfsexpertin oft genug in der Wildnis auf und hatte zahlreiche gerissene und erschossene Tiere gesehen, aber der Anblick von zehn toten Wölfen, die wie nach einer Treibjagd aufgereiht im Schnee lagen, war auch für sie unerträglich. Ein Jäger aus Fairbanks hatte sie mit einem Schnellfeuergewehr getötet, und sie war ziemlich sicher, dass er sich schon bald in den sozialen Medien mit seinem Jagderfolg brüsten würde.

Nach dem Gesetz hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen. In Alaska durfte man bis zu zehn Wölfe töten, wenn man sich nicht gerade in einem Naturschutzgebiet befand. Der Jäger hatte nur wenige Schritte außerhalb des Denali National Parks geduldig gewartet, bis ein Rudel die Grenze überschritten hatte. Carla und ein Ranger waren mit einem Hundeschlitten unterwegs gewesen, um mehr über das Rudel am Rock Creek zu erfahren, hatten sofort ihren Kurs geändert und den Jäger und seine Beute an der Grenze erwischt.

»Höchste Zeit, dass sich mal jemand um diese Bestien kümmert!«, rief der Jäger. Er stand wie ein Triumphator zwischen den getöteten Wölfen, ein übergewichtiger Mann in den Sechzigern, der auch schon auf Großwildjagd in Afrika gewesen war. Er lächelte stolz. »Keine Angst, ich habe mich streng ans Gesetz gehalten. Die Wölfe waren außerhalb der Grenzen des Nationalparks.«

»Weil Sie das Rudel dorthin gelockt haben«, erwiderte der Ranger. »Aber keine Angst, irgendwann machen Sie einen Fehler und landen im Gefängnis!«

»Niemals!« Der Jäger lächelte immer noch. »Mir kann keiner was.«

Carla konnte den Blick nicht von den Wölfen nehmen. Ein ganzes Rudel, kräftige, gesunde Tiere, die den Nationalpark wahrscheinlich nie verlassen hätten, wären sie von dem Jäger nicht angelockt worden.

»Wie kann man so herzlos sein«, warf sie ihm vor, »die Wölfe haben Ihnen doch nichts getan.«

»Wölfe sind wilde Raubtiere«, erwiderte er. »Schon mal gesehen, wie herzlos sie mit Kälbern und Schafen umgehen? Sie sollten mir dankbar sein, dass ich die Bestien umgelegt habe. Leider sind es nur zehn. Sobald das Gesetz gelockert wird und die Chancen gut stehen, erledige ich zwei Dutzend!«

Die Antwort des Jägers ging ihr nicht aus dem Kopf. Auf der Rückfahrt nach Copperville, einem kleinen Ort abseits des Richardson Highway, dachte sie ständig darüber nach. Männer wie dieser Jäger, die Spaß am Töten fanden und mit Schnellfeuergewehren auf Wölfe losgingen, als gelte es, einen Krieg zu gewinnen, waren ihr zuwider. Als angehende Biologin und Expertin bei »Wolf Aid«, wo sie als leitende Angestellte arbeitete, half sie verletzten Wölfen, die in der Wildnis nicht überleben konnten, und gab ihnen ein neues Zuhause.

Der Winter hatte Alaska fest im Griff, aber der Parks Highway und der Richardson Highway südlich von Fairbanks waren geräumt, sodass sie keine Schwierigkeiten hatte, den Geländewagen des Wolfcenters durch das leichte Schneetreiben zu steuern. Über dem Tanana River hingen Nebelschwaden. Die Fichten zu beiden Seiten hoben sich teilweise dunkel gegen die Gletscher und Schneefelder ab und reichten bis an die Straße heran. Die verschneiten Gipfel der Alaska Range verloren sich im Westen in den grauen Wolken.

Sie erreichte Copperville am frühen Nachmittag. Die Stadt bestand aus einer Hauptstraße mit wenigen Abzweigungen und war nur über einen Schotterweg zu erreichen, der jetzt im späten Januar unter einer festen Schneedecke verborgen lag. Wie auf zahlreichen anderen Nebenstraßen in Alaska tat man sich hier mit einem Mittelklassewagen eher schwer. Die Stadt war einmal das Zentrum des Kupferabbaus gewesen, eine blühende Boomtown, und lebte jetzt vom Tourismus, hauptsächlich während des Sommers, wenn die abenteuerlichen Floßfahrten auf dem nahen Gulkana River die Urlauber anzogen.

Das Wolfcenter, das auch im Winter für Besucher geöffnet hatte, war in einem zweistöckigen Blockhaus untergebracht und von zwei riesigen Gehegen umgeben, in denen dreizehn Wölfe eine neue Heimat gefunden hatten. In einem kleineren Gehege lebten zwei Wolfshunde, die ihr verantwortungsloser Besitzer vor einem Jahr auf einem Parkplatz ausgesetzt hatte.

Die Wölfe witterten Carla bereits und begrüßten sie mit lautem Heulen. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie ins Wolfcenter kam und sah, wie gut es den geretteten Tieren ging.

Amy Morton saß am Empfang im Vorraum am Computer, als Carla das Haus betrat. Sie arbeitete als »Mädchen für alles« bei Wolf Aid, eine sportliche und immer noch durchtrainierte Frau, der man ihre sechzig Jahre kaum ansah. Sie war Leichtathletin gewesen und als Musherin zweimal unter den Top 10 beim Iditarod gelandet, einem der größten Hundeschlittenrennen der Welt, das durch tausend Meilen Wildnis von Anchorage nach Nome an der Eismeerküste führte. Sie trug Wollhosen, Pullover und feste Schuhe, ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Hey, Amy«, begrüßte Carla die Musherin. »Nicht beim Training?«

Amy blickte auf und grüßte lächelnd zurück. »Heute Abend wieder. Die Hunde müssen sich an ungewöhnliche Zeiten gewöhnen. Beim Iditarod werden wir oft nachts unterwegs sein. Das Rennen ist kein Wunschkonzert.«

»Und du willst wirklich noch mal mitmachen?«

»Würde ich sonst seit drei Monaten trainieren? Einer muss diesen jungen Wilden doch zeigen, dass man mit sechzig noch nicht zum alten Eisen gehört. Mit einigen dieser Himmelsstürmer nehme ich es immer noch auf.« Sie schien sich über ihre eigenen Worte zu amüsieren. »Gilt unsere Wette noch?«

»Dass ich einen Monat lang kein Fleisch esse, wenn du unter die Top 20 kommst?« Carla grinste schwach. »Sicher. Und wenn du die Top 10 schaffst, halte ich sogar zwei Monate durch. Keine Hamburger oder Steaks.«

»Und wenn ich gewinne, wirst du Vegetarierin?«

»Wir wollen doch nicht übertreiben. Ohne Wolfburger ist das Leben nur die Hälfte wert. Wie du ohne Fleisch auskommst, ist mir sowieso ein Rätsel. Dieser Körnerkram kann doch auf Dauer nicht schmecken. Wenigstens frischen Lachs solltest du mal wieder probieren. Oder bekommen den bei dir nur Huskys?«

»Huskys brauchen Fisch, aber die sind auch anders gebaut.«

»Manchmal mache ich mir echt Sorgen um dich«, sagte Carla lachend. »Kein Fleisch, kein Fisch, nicht mal Schokolade oder so was. Immer nur dieses gesunde Zeug.« Doch insgeheim bewunderte sie Amy. Sie hatte selten eine diszipliniertere Frau getroffen. Anscheinend wollte sie hundert werden.

Amy trank von ihrem heißen Tee und behielt den Becher in der Hand. »Wendy hat schon ein paarmal nach dir gefragt. Es geht um Doc Holliday. Ohne C. J. kommt sie nicht mit ihm zurecht. Siehst du mal nach ihr? Sie macht sich gut, aber Doc ist wohl eine Nummer zu groß für sie.«

Wendy war eine Schülerin der örtlichen Highschool und arbeitete im Rahmen einer Projektwoche für Wolf Aid. Sie war siebzehn, wollte später Biologie studieren und sich dann beim Center bewerben. Sie war mit großem Eifer bei der Sache, nur der Wolf, den Carla vor Weihnachten nördlich von Fairbanks gerettet und ins Center mitgebracht hatte, machte ihr zu schaffen.

»Gut, dass du kommst!«, sagte Wendy. Sie kam gerade aus einem der Gehege und stand etwas ratlos vor dem Gitterzaun. »Doc macht wieder Ärger. Vorhin hat er sogar Merlin angefaucht, obwohl er mit dem am besten auskommt.« Sie deutete ins Gehege. »Sieh ihn dir an! Nicht genug, dass er humpelt, er torkelt manchmal wie ein Betrunkener, als wäre sein Gleichgewichtssinn beschädigt. Hast du nicht gesagt, ein Elch hätte ihn am Hals getroffen?«

Carla beobachtete den Wolf, der neben einem Gebüsch im Schnee lag und tatsächlich nicht ganz auf der Höhe zu sein schien. »Er hat ihn mit einem seiner Vorderhufe erwischt. Könnte sein, dass er mehr abbekommen hat, als wir dachten. Damals hieß es, er würde nur an einer Gehirnerschütterung leiden.«

Sie öffnete die Tür und betrat das Gehege. Als erfahrene Mitarbeiterin kannte sie sich mit Wölfen aus und hatte keine Angst, obwohl man sich bei wilden Tieren niemals sicher sein konnte. Selbst bei Wölfen, die schon lange im Center lebten, bestand die Gefahr, dass sie auch mal aggressiv reagierten. Kein Problem für Carla, die schon in einigen Artikeln als »Wolfsflüsterin« bezeichnet worden war. Ein Wort, das sie nicht mochte. Sie verstand sich eher als gleichwertige Partnerin der Tiere.

Doc Holliday, der seinen Namen einem berüchtigten Revolverhelden des Wilden Westens verdankte, knurrte missmutig, als sie sich ihm...