Das Herz - Eine besondere Geschichte der Liebe

von: Marilyn Yalom

btb, 2019

ISBN: 9783641236595 , 320 Seiten

Format: ePUB

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Mehr zum Inhalt

Das Herz - Eine besondere Geschichte der Liebe


 

Kapitel 1

Das Liebesherz in der Antike


Ehe Abbildungen vom Liebesherzen entstanden, bestand schon längst die Tradition einer schriftlichen und mündlichen Beziehung zwischen Herz und Liebe. Bereits im antiken Griechenland setzten die Dichter das Herz mit der Liebe in sprachlichen Begriffen gleich, die dann erst fast zweitausend Jahre später ihr visuelles Äquivalent finden sollten. Unter den frühesten uns bekannten griechischen Beispielen klagte die Dichterin Sappho über ihr eigenes »verrücktes Herz«, das die Liebe erschüttert hatte. Sappho lebte im siebten Jahrhundert v. Chr. auf der Insel Lesbos im Kreise von Schülerinnen, für die sie leidenschaftliche Gedichte schrieb, die heute nur in Fragmenten überliefert sind, wie etwa das folgende:

Eros erschüttert mein Herz

Wie Sturm, der auf dem Berg in Eichen fällt.5

Sapphos Herz war niemals ruhig. Es wurde ständig gegen ihren Willen von Aphrodite, der Göttin der Liebe, in Erregung versetzt. Sie rang mit Aphrodite: »Lasse dem Gram mein Herz nicht, Göttin, erliegen!«6 Doch im Alter beklagte Sappho ihr »schweres Herz«, das nicht mehr empfänglich war für die Euphorie, die eine jugendliche Liebe entfacht.

Sapphos Stimme hallt durch die Jahrhunderte, in denen Generationen von Männern und Frauen die Liebe als eine Art göttlichen Wahnsinn erlebten, der ihre Herzen befällt. Etwa sechshundert Jahre nach Sappho diagnostizierte der griechische Biograph Plutarch diese Krankheit bei dem Seleukidenkönig Antiochos I. Als dieser sich in seine Stiefmutter Stratonike verliebte, zeigten sich bei ihm »alle bekannten Symptome der Sappho – seine Stimme zitterte, sein Gesicht errötete, seine Augen blickten erstarrt, plötzlicher Schweiß brach aus, und seine Herzschläge waren unregelmäßig und heftig«.7 Die Liebe wurde als körperliche Erfahrung verstanden, die primär im Herzen wohnte und den ganzen Körper überfiel. Oft wurde sie als ein schmerzliches Leiden dargestellt, das den Sterblichen durch launische Götter zugefügt wurde.

Die Geschichte von Jason und Medea, die Apollonios von Rhodos um 250 v. Chr. in seiner Fahrt der Argonauten erzählt, bietet ein gutes Beispiel dafür, wie die griechischen Götter den Menschen die Liebe aufbürdeten. Im Auftrag der Göttinnen Hera und Athene bewegte Aphrodite ihren kleinen Sohn Eros dazu, dafür zu sorgen, dass Medea sich in Jason verliebte, damit er das Goldene Vlies erobern konnte.

… klein zusammengekauert, legte er (Eros) die Kerben mitten auf die Sehne, spannte sie mit beiden Händen und schoss genau auf Medeia. …
Das Geschoss aber brannte, einer Flamme gleich, in der Jungfrau, unter ihrem Herzen.
8

Eros mit Pfeil und Bogen war keineswegs die freundliche Gestalt, zu der er dann später in der niedlichen Amorfigur wurde. Hier ist er ganz eindeutig eine gefährliche, unmenschliche Kraft, die einer unschuldigen Jungfrau sexuelle Begierden aufzwingt und ihr Herz mit heftiger Leidenschaft erfüllt, die sich am Ende als zerstörerisch erweist.

Die griechischen Philosophen der Antike waren sich mehr oder weniger einig, dass das Herz irgendwie mit unseren stärksten Gefühlen, einschließlich der Liebe, in Verbindung steht. Platon plädierte dafür, dass in der Brust nicht nur primär Platz für die Liebeserfahrung sei, sondern dass auch Angst, Wut und Schmerz dort zu verorten seien. In seinem Timaios erläutert er, wie das Herz das ganze Gefühlsleben des Menschen beherrscht.9

Aristoteles maß dem Herzen eine noch wichtigere Rolle zu, ja die Vorherrschaft über alles menschliche Erleben. Es war nicht nur die Quelle von Lust und Schmerz, es war auch der Mittelpunkt der unsterblichen Seele oder der Psyche. Wie Aristoteles und dann der griechische Arzt Galenos (ca. 130–200) sich von Platon distanzierten, sollte von späteren Philosophen und Naturwissenschaftlern bis ins siebzehnte Jahrhundert umfassend erörtert werden.

Zur Zeit der Römer war die Verknüpfung von Herz und Liebe dann gang und gäbe. Venus, die Göttin der Liebe, wurde geachtet – oder beschuldigt –, mit Hilfe ihres Sohnes Amor die Herzen zu entflammen, und seine auf menschliche Herzen gerichteten Liebespfeile waren immer treffsicher. Dichter wie Catull (87–54 v. Chr.), Horaz (65–8 v. Chr.), Properz (ca. 50–15 v. Chr.) und Ovid (47–17 v. Chr.) thematisierten gerne die Herzen, die von Venus erregt oder von Amors Pfeilen durchbohrt waren.

Für die Geliebte verwendeten sie gewöhnlich ein Pseudonym – »Lesbia« bei Catull, »Cynthia« bei Properz, »Corinna« bei Ovid –, aber wir wissen nicht sicher, ob hinter dem Namen immer ein lebendes Pendant stand. Doch ungeachtet dessen schrieben sie überzeugend über ihre Liebeserfahrungen, immer mit dem Blick auf die Gestalt der domina, jener Frau, die ihr Herz erobert hatte, von der ihre Gedanken besessen waren und der sie emotional ergeben waren.

Im Falle von Catull ist zumindest bekannt, dass Lesbia ein Pseudonym für Clodia war, die Ehefrau eines römischen Politikers. Die anderen Geliebten der Dichter waren wahrscheinlich entweder verheiratete Frauen oder Halbweltdamen – freie Frauen (im Gegensatz zu Sklavinnen), die bei privaten Gastmahlen in wechselnder Begleitung zugegen waren und sich in der Öffentlichkeit wie etwa im Zirkus oder bei Wettkämpfen zeigten. Einer solchen Frau widmete der Dichter sein Herz – trotz ihrer berüchtigten Untreue.

ABBILDUNG 3: Unbekannter Künstler, Drachme mit Samenschale der Silphiumpflanze, um 510–490 v. Chr. Heiligtum von Demeter und Persephone, Kyrene, Katalognummer 14.

Bei Catull besteht auch eine interessante Verbindung zur Darstellung des Herzens auf der antiken Münze, die in Abbildung 3 zu sehen ist. Diese Münze, in die der Umriss der Samenschale der Silphiumpflanze eingeprägt ist, einer heute ausgestorbenen Riesenfenchelart, sieht genauso aus wie unser heutiges Herzsymbol (), das seit dem Mittelalter die Liebe symbolisiert. Catull erwähnt in einem seiner Gedichte explizit Kyrene im antiken Libyen als die Stadt, in der Silphium geerntet wurde – und die tatsächlich durch den Export von Silphium so reich wurde, dass die Kyrener es auf ihre Münzen prägten.

Du fragst, Lesbia, wie viel deiner Küsse

Genug, übergenug der Sehnsucht seien?

Soviel Sandkörner sind in Libyens Wüste

Bei Kyrene, dem laserpflanzenreichen …10

Warum nun erwähnte Catull Silphium in einem Liebesgedicht? Die heute gängigste Erklärung lautet, dass Silphium in der Antike zur Empfängnisverhütung hoch im Kurs war. Eine andere kyrenische Münze zeigt sogar das Bild einer Frau, die mit der einen Hand eine Silphiumpflanze berührt und mit der anderen auf ihre Geschlechtsorgane zeigt. Soranus, ein griechischer Arzt des zweiten Jahrhunderts, riet, dass eine kleine Dosis Silphium, einmal im Monat eingenommen, nicht nur die Empfängnis verhüten, sondern gegebenenfalls auch eine Abtreibung auslösen werde.11

Es ist unwahrscheinlich, dass die Form des Silphiumsamens irgendetwas mit dem Herzsymbol zu tun hatte, das mehr als tausend Jahre später in Europa aufkam. Doch Catulls Hinweis auf Silphium in einem Liebesgedicht erinnert uns daran, dass Frauen sich immer über die Konsequenzen ihrer sexuellen Beziehungen klar sein mussten, denn weder Catull noch seine Geliebte konnten eine Schwangerschaft riskieren. Am Schluss des Gedichts verspottet er die bösen Zungen der Neugierigen, die sich über Lesbias Küsse empören, welche zahlreicher seien als die Sandkörner des silphiumreichen Libyen.

Ganz gleich, was für Catull die Bedeutung von Silphium war, Tatsache ist, dass eine Samenschale, wie sie in Abbildung 3 zu sehen ist, die älteste bekannte Darstellung der Form ist, die dann zum universellen Symbol der Liebe werden sollte.

Ovid, der bekannteste römische Dichter der Liebe, stellt amor als eine Art Spiel dar, das jeder spielen kann, der die Regeln kennt. Und – mit einem Augenzwinkern – möchte er diese Regeln in seiner Liebeskunst (Ars amatoria) lehren. Dieses Werk war zu seiner Zeit äußerst beliebt, kam dann im Mittelalter wieder in Mode und ist noch bis zum heutigen Tag in zahlreichen Übersetzungen weltweit erhältlich – mindestens zehn englischsprachige Ausgaben sind bei Amazon.com aufgelistet.

Für Ovid ist die Liebe ein seltsames Gemisch aus Sexualität und Gefühl, mit einer Betonung auf Ersterem. Immer wenn er das Wort »Herz« für einen Menschen gebraucht, sollte der Leser es mit Eros gleichsetzen, also mit sexuellem Begehren. Ovids Helden (in erster Linie er selbst) sind Krieger, die entschlossen sind, die Auserwählte zu »gewinnen« und mit ihr zu schlafen.

Liebe ist eine Art Kriegsdienst: Wer träge ist, soll sich entfernen.

Feiglinge eignen zum Kampf für diese Fahnen sich nicht.12

Laut Ovid kennt Eros außer der eigenen Leidenschaft nur sein eigenes Gesetz und keine höhere Moral, die das Herz binden würde. Der Dichter war voll des Lobes für den zielstrebigen Mann, der »das Herz eines Liebenden zeigt«, und damit meinte er denjenigen, der bereit war, auf der Jagd nach einer unwiderstehlichen Frau jegliche Hindernisse zu überwinden. Auch wenn er davon ausging, dass die Männer die Verführer und die Frauen die Verführten sind, so waren doch die Frauen in seinem Bekanntenkreis keineswegs passive...