Tage der Sehnsucht

von: Nora Roberts, Eileen Wilks, Catherine Mann

MIRA Taschenbuch, 2019

ISBN: 9783745750508 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Tage der Sehnsucht


 

1. Kapitel

Das Haus sah eher aus wie ein Schloss. Es war aus grauen behauenen Steinen erbaut, die das Mauerwerk abwechslungsreich und schattiert wirken ließen. Türme und Türmchen der unterschiedlichsten Größe reckten sich vom zinnengeschmückten Dach gen Himmel. Eine Mittelstrebe teilte die hohen, bleiverglasten und sehr schmalen Fenster.

Kühn, ja geradezu selbstgefällig, thronte das exzentrische Bauwerk über dem Hudson, und niemals wäre es Anatole in den Sinn gekommen, es nur als ganz gewöhnliches Haus zu bezeichnen. Wenn es stimmte, was man sich allenthalben darüber erzählte, dann passte es perfekt zu seinem Besitzer.

Hier fehlen nur noch ein Drache und ein Burggraben, ging es Anatole durch den Kopf, als er durch den weitläufigen Vorhof schritt.

Zwei grinsende wasserspeiende Ungeheuer flankierten zu beiden Seiten den breiten Treppenaufgang. Mit der typischen Gelassenheit eines praktisch veranlagten Menschen ging Anatole an ihnen vorbei. Er hatte durchaus nichts gegen Wasserspeier und Türmchen, wo sie hinpassten, aber doch nicht im ländlichen New York, nur einige Autostunden von Manhattan entfernt!

Anatole beschloss, sich eines endgültigen Urteils zu enthalten, hob den schweren Messingklopfer und ließ ihn gegen die massive Tür aus Hondurasmahagoni fallen. Nach dem dritten Klopfen öffnete sie sich knarrend. Mit nur mühsam gezügelter Geduld blickte er auf eine kleine Frau mit übergroßen grauen Augen, einem rußverschmierten Gesicht und zwei schwarzen Zöpfen. Sie trug ein zerknittertes Sweatshirt und Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatten. Träge rieb sie sich mit dem Handrücken die Nase und starrte den Fremden erstaunt an.

»Hallo.«

Anatole unterdrückte einen Stoßseufzer und sah vier reichlich öde Wochen auf sich zukommen, falls der ganze Haushalt von ähnlich schwachsinnigen Dienstboten geführt wurde. »Ich bin Anatole Haines. Mr. Fairchild erwartet mich«, stellte er sich vor.

Die Frau kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, sodass Anatole sich nicht sicher war, ob Neugier oder Misstrauen in ihrem Blick lagen. »Sie werden erwartet?«, fragte sie in breitestem Neuenglanddialekt, starrte ihn noch einen Moment an, zog dann die Brauen hoch und trat mit einem Schulterzucken beiseite, um Anatole eintreten zu lassen.

Die Halle war weitläufig und dehnte sich schier endlos aus. Im diffusen Licht schimmerte die Holzvertäfelung in einem düsteren tiefen Braun. Durch das hohe Eckfenster fielen ein paar Sonnenstrahlen direkt auf die zierliche Gestalt der Frau, aber Anatole bemerkte es kaum. Gemälde, wohin er schaute. Vergessen waren die ermüdende Reise und seine Verärgerung. Vergessen war überhaupt alles. Anatole sah nur noch die Bilder.

Van Gogh, Renoir, Monet. Die Sammlung hätte einem Museum zur Ehre gereicht. Anatole fühlte sich wie von magischer Kraft angezogen. Das Farbenspiel, die Schattierungen, die Pinselführung, die ganze erhabene Schönheit, der er sich so unvermutet gegenübersah, fesselten ihn. In gewisser Weise hatte Fairchild wahrscheinlich richtig gehandelt, diese Schätze in einem festungsähnlichen Palast aufzubewahren. Als Anatole sich umdrehte, stand das Hausmädchen noch immer mit lose gefalteten Händen neben ihm und schaute ihm mit grauen Augen unverwandt ins Gesicht. Erneut fand Anatole seine Geduld auf eine harte Probe gestellt.

»Nun gehen Sie schon! Richten Sie Mr. Fairchild aus, ich sei angekommen.«

»Und wer sind Sie?« Es rührte sie offenbar nicht im mindesten, dass der Besucher ungeduldig zu werden begann.

»Anatole Haines«, wiederholte er. An den Umgang mit Dienstboten gewöhnt, erwartete er, dass man seinen Wünschen unverzüglich nachkam.

»Ah ja, das haben Sie gesagt.«

Flüchtig fragte sich Anatole, wie es möglich sein konnte, dass der Blick des Mädchens zugleich verhangen und doch ungetrübt war. Einen Moment dachte er darüber nach, dass diese Augen innere Reife und Intelligenz verrieten, die weder zu den Zöpfen noch dem verschmierten Gesicht passen wollten. »Meine Liebe …«, sagte er langsam und betont. »Mr. Fairchild erwartet mich. Teilen Sie ihm mit, ich sei da. Schaffen Sie das?« Plötzlich strahlte sie ihn an. »Ah ja.«

Das Lächeln machte ihn sprachlos. Zum ersten Mal bemerkte er, dass sie einen unvergleichlichen Mund mit wunderschön geschwungenen, vollen Lippen hatte. Und unter dem rußverschmierten Äußeren lag etwas verborgen, das er nicht hätte erklären können. Unbewusst hob er die Hand und war im Begriff, die schwarze Schmiere in ihrem Gesicht wegzuwischen, hielt jedoch erschrocken inne.

»Ich bringe es nicht fertig!«, rief jemand. »Ich sage dir, es ist unmöglich.« Anatole sah einen Mann in beängstigender Geschwindigkeit die lange, gewundene Treppe herunterpoltern. Sein Gesicht war eine einzige Anklage und seine Stimme ein unheilvolles Krächzen. »Es ist alles deine Schuld!« Atemlos blieb er stehen und wies mit einem langen, dünnen Finger auf das kleine Hausmädchen. »Sei dir darüber im Klaren, du hast das zu verantworten.«

Anatole sah sich einem kleinen Mann von koboldhafter Gestalt mit dem Gesicht eines Cherubs gegenüber. Das schüttere helle Haar stand ihm fast kerzengerade vom Kopf ab. Tänzelnd trat er auf dem Treppenabsatz von einem dünnen Bein aufs andere und zeigte immer noch drohend mit dem langen Finger auf die dunkelhaarige Frau, die der Aufruhr vollkommen kalt ließ.

»Ihr Blutdruck steigt mit jeder Sekunde, Mr. Fairchild. Holen Sie ein paarmal tief Luft, sonst bekommen Sie am Ende noch einen Anfall.«

»Anfall!« Beleidigt hüpfte er noch nervöser hin und her. Vor Anstrengung verfärbte sich sein Gesicht hochrot. »Ich bekomme keine Anfälle, Mädchen. Im ganzen Leben hatte ich noch keinen.«

»Es gibt immer ein erstes Mal.« Die junge Frau hielt die Hände locker gefaltet und fügte mit einem Kopfnicken hinzu: »Mr. Anatole Haines möchte Sie sprechen.«

»Haines? Was zum Teufel hat der denn damit zu tun? Ich sage dir, es ist das Ende, der Höhepunkt!« Theatralisch legte er eine Hand aufs Herz. Seine wasserblauen Augen wurden mit einem Mal feucht, und Anatole fürchtete, Mr. Fairchild würde zu weinen beginnen. »Sagtest du Haines?«, fragte er noch einmal. Unvermittelt wandte er sich mit einem strahlenden Lächeln an Anatole. »Wir sind verabredet, nicht wahr?«

Zögernd streckte Anatole die Hand aus. »Ja.«

»Guten Tag. Freut mich, dass Sie gekommen sind. Ich habe Sie erwartet.« Immer noch lächelnd schüttelte er einen Moment enthusiastisch Anatoles Hand. »Gehen wir in den Salon.« Er ergriff Anatole beim Arm. »Kommen Sie, trinken wir einen.« Sein leichtfüßiger, elastischer Gang erinnerte an einen Mann, den nichts in der Welt erschüttern konnte.

Im Salon nahm Anatole die Antiquitäten und alten Zeitschriften nur flüchtig wahr. Fairchild bat ihn, auf einem rosshaargepolsterten Sofa Platz zu nehmen, das sich als erstaunlich unbequem erwies. Das Hausmädchen ging zu dem gewaltigen, aus Natursteinen erbauten Kamin, kehrte die Asche zusammen und pfiff dabei munter vor sich hin.

»Ich trinke einen Scotch«, erklärte Fairchild und griff nach der Whiskykaraffe.

»Ich schließe mich an.«

»Anatole Haines, ich bewundere Ihre Arbeiten.« Fairchilds Hand war vollkommen ruhig, als er ihm das Glas reichte. Er wirkte entspannt, und seine Stimme klang gleichmütig. Anatole fragte sich, ob er sich die Szene auf der Treppe nur eingebildet habe.

»Vielen Dank.« Anatole nippte am Whisky und betrachtete aufmerksam das vor ihm sitzende gnomenhafte Genie.

Von Augen und Mund ausgehend, verteilte sich ein Gewirr feiner Linien über Fairchilds Gesicht. Wären sie und das schüttere Haar nicht gewesen, hätte man ihn für einen jungen Mann halten können. Seine Jugendlichkeit schien einer inneren Vitalität, ja geradezu fieberhaften Betriebsamkeit zu entspringen. Die Augen waren von einem klaren, unverfälschten Blau. Anatole wusste, dass diese Augen weit mehr sahen als andere.

Zweifellos war Philip Fairchild einer der größten lebenden Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Stil reichte von extravagant bis elegant und bot etwas von allem, was zwischen diesen beiden Extremen lag. Seit über dreißig Jahren erfreute er sich nicht nur in Künstlerkreisen, sondern auch beim breiten Publikum ungebrochenen Ansehens und Respekts und hatte es dabei zu erstaunlichem Reichtum gebracht, etwas, das nur wenigen Menschen seines Berufsstandes zu Lebzeiten vergönnt war.

Und diese Stellung genoss er ausgiebig. Er war mit einem Temperament gesegnet, das von aufgeblasen über jähzornig bis zu großzügig reichte. Von Zeit zu Zeit lud er Künstler in sein Haus am Hudson ein und bot ihnen an, Wochen, ja Monate bei ihm zu arbeiten, zu studieren oder einfach nur auszuspannen. Dann wieder gab es Zeiten, da gestattete er niemandem, auch nur einen Fuß über die Schwelle zu setzen, und vergrub sich in totaler Abgeschiedenheit.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, einige Wochen bei Ihnen arbeiten zu dürfen, Mr. Fairchild.«

»Keine Ursache.« Der Künstler winkte huldvoll ab, nippte am Drink und setzte sich. Die Geste erinnerte an einen königlichen Gnadenerlass früherer Herrscher.

Anatole konnte sich eben noch ein Grinsen verkneifen. »Ich freue mich darauf, einige Ihrer Gemälde aus nächster Nähe zu studieren. Aus Ihrer Arbeit spricht unglaubliche Vielfalt.«

»Ich liebe die Abwechslung«, erwiderte Fairchild und kicherte geschmeichelt. Vom Kamin war deutlich ein verächtliches Schnauben zu hören. »Respektloses Gör«, murmelte Fairchild in sein Glas und blickte das Mädchen finster an. Als...