Weg aus der Einsamkeit

Weg aus der Einsamkeit

von: Emma zur Nieden

epubli, 2018

ISBN: 9783746793023 , 255 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Weg aus der Einsamkeit


 

8

Rose war an einem Sonntagnachmittag zu einem ausgedehnten Spaziergang aufgebrochen. Der Brunch, den sie gewöhnlich am Sonntag gemeinsam mit ihrer Familie einnahm, hatte sie sehr aufgewühlt. Ihre Eltern hatten sie während des Hauptganges gefragt, ob sie nicht lange genug um Karen getrauert hätte und nicht jemand Neues in ihr Leben lassen wollte. Ihnen war wohl aufgefallen, dass Roses Fröhlichkeit nach Karens Tod nicht mehr nur aufgesetzt war, sondern dass eine neue Leichtigkeit sie umgab, was sie offensichtlich dazu animiert hatte, einen solchen Vorschlag zu wagen. Zwar zog Rose sich nach der Arbeit nach wie vor zurück und wiegelte alle Versuche ab, sie aufmuntern zu wollen. Dennoch war den Eltern scheinbar nicht entgangen, dass sich an Roses Verhalten in den letzten Wochen etwas verändert hatte.

Als Roses Eltern den Namen „Karen“ nur erwähnt hatten, waren vor ihrem inneren Auge augenblicklich die Erinnerungen an die letzten Tage mit Karen aufgetaucht. Rose hatte ihre Partnerin bis zu deren Tod gepflegt. Keine Sekunde hatte sie die geliebte Frau aus den Augen lassen wollen, hatte alle Arbeiten im Betrieb stehen und liegen lassen, um bei Karen zu sein. Die Familie hatte sie in all dem aufrichtig unterstützt.

Das wohlmeinende Angebot der Mutter, sie einmal an Karens Bett abzulösen, hatte sie stets dankend abgelehnt. Zu groß war ihre Angst gewesen, in der Stunde des Todes nicht mehr für die Geliebte da zu sein, sie in ihrem letzten Moment nicht halten zu können. Deshalb hatte sie sich kaum eine Pause gegönnt, hatte wochenlang einen sehr leichten Schlaf gehabt, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Bis an den Rand der Erschöpfung war sie für Karen da gewesen.

Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte sie, dass es ihr vergönnt gewesen war, im Augenblick des Todes an Karens Seite gewesen zu sein. Sie hatte Karen im Arm gehalten, als der Tod kam. Die halbe Nacht hatte sie so mit der verstorbenen Karen gelegen, und um sie geweint.

Rose schnäuzte sich und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht.

Als Rose ihre Lebensgefährtin gepflegt hatte, war sie auf ein Gerippe abgemagert. Mittlerweile hatte sie jedoch einiges an Gewicht zugelegt und fühlte sich so mollig wie zu ihren glücklichsten Zeiten mit Karen. Rose lächelte. Ihre Mutter hatte sie damals aufgepäppelt und ihr vorgeschlagen, in der Mittagspause des Ladens die Besprechungen mit einer Mahlzeit zu verbinden. Ihre Mutter packte seitdem einen Topf mit den leckersten Köstlichkeiten ein. Rose und ihre Mitarbeiterinnen waren begeistert.

Als sie sich beim Brunch an den Moment von Karens Tod erinnert hatte, waren die Tränen ungehindert geflossen, und sie hatte sofort an die frische Luft gemusst, sonst wäre sie vor Trauer explodiert. Im Esszimmer der Eltern hatte sie das Gefühl gehabt, nicht mehr atmen zu können. All die mitleidigen Blicke hatten es ihr unerträglich schwer gemacht. Außerdem wollte Rose nicht, dass ihre Familie die Tränen sah, die sie in der Erinnerung an Karens Tod nach wie vor vergoss. Bislang war es ihr so vorgekommen, als wäre nicht ein einziger Tag seit Karens Tod vergangen, als wäre es erst vor ein paar Minuten passiert. Aus den Augenwinkeln hatte sie gesehen, dass ihre Mutter die Tränen bereits bemerkt hatte. Um ihr Mitgefühl zu zeigen, hatte sie sanft Roses Arm gedrückt. Rose hatte sie von sich gestoßen und sich überstürzt vom Tisch erhoben und war in die Weite der Ebenen und Wälder des Lochs geflüchtet.

Erst allmählich fing sie sich. In der melancholischen Stimmung der Landschaft beruhigten sich ihre Gedanken. Sie konnte ihre Aufmerksamkeit auf die Natur lenken. Die Heftigkeit des Ausbruchs hatte sie selbst überrascht. Immerhin waren bereits zwei Jahre seit Karens Tod vergangen. Der Schmerz wurde trotzdem nicht geringer. Die Zeit heilte nicht alle Wunden, wenn Rose auch im Alltag funktionierte und agierte wie immer. Was das Verbergen ihrer Gefühle anging, war sie bisher eine gute Schauspielerin gewesen.

Allerdings hatte sie selbst in letzter Zeit bemerkt, dass sich tief in ihrem Inneren etwas zu verändern begann. Der heftige Ausbruch beim Essen entsprach nicht mehr vollständig ihren sich wandelnden Gefühlen. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie sich plötzlich anders fühlte. Die vage Ahnung einer Ursache verbannte sie in die hintersten Gehirnwindungen. Der Ausbruch vorhin war der tiefen Trauer um Karen geschuldet, die trotz allem unaufhörlich in ihr war.

Rose war seit bestimmt einer Stunde unterwegs. Mit jedem Schritt wurde sie ruhiger. Die Natur verfehlte ihre wohltuende Wirkung auf sie nicht. Immer schon. Als Karen die Diagnose Brustkrebs bekommen hatte, waren sie zunächst gemeinsam gewandert und hatten auf diese Weise das Schreckgespenst verscheucht. Sie hatten besprochen, was passieren könnte und wie sie vorgehen würden. Als Karen nicht mehr in der Lage gewesen war, mitzugehen, hatte Rose auf ihren Wanderungen in der Natur Kraft für Karens Pflege gefunden und Stärke. Nur zum Schluss war sie rund um die Uhr für die Gefährtin da gewesen.

Als Rose in der Ferne eine Person vor einer Leinwand ausmachte, war sie überrascht, in der Einsamkeit jemandem zu begegnen. Die Überraschung nahm zu, als sie Sarah beim Näherkommen an ihrer Silhouette erkannte. Rose verharrte in einem großen Abstand zu ihr. Sie wusste nicht, ob sie sich ihr zu erkennen geben oder so tun sollte, als hätte sie sie nicht gesehen und ihre Wanderung fortsetzen. Privates hatten sie bisher nicht ausgetauscht, und Rose konnte überhaupt nicht einschätzen, ob es Sarah recht wäre, wenn sie in dieser Abgeschiedenheit auf ihre Chefin treffen würde. Bevor Rose eine Entscheidung traf, blieb sie stehen und beobachtete Sarah beim Malen. Das war die dritte Überraschung. Rose wusste, dass Sarah bei Mildred Aquarelle verkaufte, aber dass sie erheblich größere Motive auf Leinwände brachte, war ihr vollkommen neu. Sarah stand mit dem Rücken zu Rose vor der Staffelei und neben ihr auf der einen Seite ein kastenartiges Holzgestell, in dem scheinbar Leinwände steckten, und auf der anderen Seite ein großer aufgeklappter Koffer mit Ölfarben. Er diente Sarah offensichtlich als Tisch, denn Tuben und ein Marmeladenglas befanden sich darauf. Sarah schien sehr konzentriert die Farben von ihrer Palette auf die Leinwand aufzutragen. Da Rose nur Sarahs Rücken zu sehen bekam, war deren Gesichtsausdruck verdeckt. Aber Rose erkannte große Teile des Bildes, das die naturgetreue Wiedergabe des Lochs unter ihnen zeigte. Sarah hatte die Nachmittagsstimmung, die Licht und Schatten erzeugten, perfekt eingefangen: Zwischen Friedlichkeit und Melancholie lag das Loch von Wäldern umgeben da. Sarahs Bild erfasste genau das.

Erstaunlich, dass im Laden eher Sarahs praktische Veranlagung zutage trat und auch die kleinen Aquarelle bei Mildred zeigten nicht die tiefgründige künstlerische Seite, die Rose beim Blick auf die Leinwand zu spüren glaubte. Allerdings hatten beide bisher auch noch keine tiefer gehende Unterhaltung geführt. Aber davon, dass Sarah mit den Farben und dem Pinselstrich eine so intensive Stimmung erzeugen konnte, war Rose überrascht und überwältigt zugleich. Im Laden vergeudete Sarah augenscheinlich ihr Talent.

Bei einer Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere, trat Rose auf einen Ast, der die friedliche Stille durch ein lautes Knacken durchbrach.

Sarah zuckte zusammen und blickte sich langsam um, offensichtlich verängstigt, was sie hinter ihrem Rücken erwartete. Als Sarah Roses Gesicht erkannte, wechselte es von entsetztem Erschrecken zu freundlicher Erleichterung. Gleichzeitig entspannten sich ihre Schultern und sanken herab.

Vielleicht verriet ihr Blick sogar verhaltene Freude. Das jedenfalls hoffte Rose. Sie setzte sich in Bewegung und ging auf Sarah zu. Leise begrüßte sie sie.

Sarah nickte zurückhaltend.

„Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe“, entschuldigte Rose sich. „Ich war so fasziniert von deinem Bild. Ich musste einfach stehen bleiben.“

„Ich war so ins Malen vertieft, dass ich mich sehr erschreckt habe.“

„Tut mir wirklich leid“, wiederholte Rose.

„Ist schon gut.“ Sarah drehte sich um, um einen energischen Pinselstrich zu setzen.

„Du hast die Stimmung perfekt eingefangen“, lobte Rose das Bild. Sie wusste selbst nicht, warum sie den Malprozess schon wieder störte. Sie hätte einfach weitergehen können.

Langsam drehte sich Sarah erneut um. „Danke.“ Ein unsicheres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sofort relativierte sie Roses Lob: „Die Natur zeigt sich in diesem Moment einfach von ihrer besten Seite.“

„Aber du hast sie realistisch auf deine Leinwand gebannt“, beharrte Rose auf ihrem Urteil. „Das ist ein fantastisches Bild. Du hast Licht und Schatten wirklich gut in Szene gesetzt. Die melancholische Stimmung ist zum Greifen nah.“

Sarahs Wangen zeigten eine leichte Röte und sie senkte den Blick, als wäre ihr Roses Lob unangenehm und angenehm zugleich. Sie begann damit, ihre Sachen zusammenzupacken.

„Ich habe dich so sehr gestört, dass du nicht mehr weitermachen willst?“, fragte Rose betroffen.

„Nein.“ Sarah lächelte sie zaghaft an. „Ich sitze seit Sonnenaufgang hier und bin jetzt mit dem letzten fertig. Es war nur noch dieser eine Strich.“

„Du hast noch mehr Bilder gemalt?“ Rose deutete auf den Holzkasten, in dem weitere Leinwände in luftigem Abstand steckten, ohne sich zu berühren.

Sarah nickte und säuberte die Pinsel in einem mit einer ölig wirkenden Flüssigkeit befüllten Glas, das sie anschließend verschloss und im Koffer verstaute. Rose lächelte ob Sarahs geordnetem Vorgehen, denn es passte zu dem Bild einer zuverlässigen Person, das Rose von Sarah nach dem holprigen Beginn bei ihr...