Der Fünfte im Spiel - Roman

von: Robertson Davies

Dörlemann eBook, 2019

ISBN: 9783038209683 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Der Fünfte im Spiel - Roman


 

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Über den Krieg werde ich nicht viel erzählen, denn obwohl ich von den ersten Monaten des Jahres 1915 bis zu den letzten Monaten des Jahres 1917 mit dabei gewesen bin, habe ich erst später etwas davon begriffen. Befehlshaber und Historiker, das sind die richtigen Leute, über Kriege zu debattieren. Ich gehörte der Infanterie an, und die meiste Zeit wusste ich nicht, wo ich war und was ich tat, außer dass ich Befehle ausführte und versuchte, nicht auf irgendeine der sich bietenden grauenhaften Möglichkeiten getötet zu werden. Seither habe ich genug gelesen, um ein wenig über die Gefechte, an denen ich teilgenommen habe, Bescheid zu wissen, aber was die Historiker sagen, bringt nicht viel Licht in meine Erinnerungen. Weil ich in diesem Bericht über mein Leben nicht anders erscheinen will, als ich zum jeweiligen Zeitpunkt der Ereignisse gewesen bin, schreibe ich auch nur das nieder, was ich damals tatsächlich wusste.

Als ich von Deptford in das Ausbildungslager fuhr, war ich zum ersten Mal in meinem Leben allein von zu Hause fort. Ich befand mich unter Männern mit größerer Welterfahrung als ich und vermied es, durch irgendein seltsames Verhalten aufzufallen. Manche von ihnen wussten, dass mich entsetzliches Heimweh plagte, und behandelten mich freundlich, manche verspotteten mich und die anderen sehr jungen Burschen. Sie brannten darauf, Männer aus uns zu machen, worunter sie verstanden, uns ihnen gleich zu machen. Einige waren wirklich Männer – ernste, bedächtige junge Bauern mit scheinbar unerschöpflichen Reserven an Kraft und Mut. Andere waren bloßes Gesindel von der Art, wie man es in jeder zufälligen Ansammlung von Menschen antrifft. Keiner von ihnen war sehr gebildet, keiner wusste genau, worum es in diesem Krieg ging, obwohl viele der Meinung waren, England sei bedroht und müsse verteidigt werden. Das wohl Erstaunlichste war, dass keiner von uns viel Ahnung von Geografie hatte und wir bei unserem Einsatz in Frankreich alle nur möglichen klimatischen Bedingungen zwischen polaren und äquatorialen Verhältnissen erwarteten. Natürlich hatten einige in der Schule Geografie gehabt und Landkarten studiert, aber eine Schullandkarte hat etwas schrecklich Unkommunikatives an sich.

Ich gehörte zur Zweiten Kanadischen Division, und später wurden wir dem Kanadischen Corps eingegliedert, aber diese Bezeichnungen sagten mir wenig. Ich registrierte die Männer in meiner unmittelbaren Nähe und traf selten mit anderen zusammen. Ebenso gut könnte ich sagen, dass ich mich zwar mit jedem gut verstand, aber mit niemandem auf Dauer anfreundete. Manche Männer schlossen tiefe Freundschaften, denen mitunter mutige Taten entspringen konnten, andere wiederum begeisterten sich für das, was sie »Kameradschaft« nannten, und sprachen und sangen lauthals davon. Diejenigen, die heute noch leben, tun es nach wie vor.

Aber ich war eine einsame Natur, und obwohl ich mich sehr glücklich geschätzt hätte, einen Freund zu haben, begegnete ich einem solchen einfach nie.

Vielleicht war meine Langeweile daran schuld. Denn ich langweilte mich wie niemals mehr seither – bis in die Knochen. Diese Art von Langeweile darf nicht gleichgesetzt werden mit jener, die von Untätigkeit herrührt. Ein Infanterierekrut wird von früh bis spät auf Trab gehalten, und sein Schlaf ist tief. Diese Art von Langeweile entsteht vielmehr durch die völlige Isolation von allem, was einem das Leben angenehm machen, Neugierde erwecken oder den Wahrnehmungshorizont erweitern könnte. Es ist jene Art von Langeweile, die sich einstellt, wenn man unentwegt öde Aufgaben zu erfüllen hat und Fähigkeiten entwickeln muss, auf die man liebend gern verzichten würde. Ich lernte marschieren und exerzieren und schießen und mich, gemessen am Standard der Armee, sauber zu halten, mein Bett zu machen, meine Schuhe und Knöpfe zu polieren und mir, wie vorgeschrieben, schmutzig braune Lappen um die Beine zu wickeln. Nichts davon besaß für mich irgendeinen Bezug zum eigentlichen Leben, aber ich lernte, wie man es machte, und sogar wie man es gut machte.

Ich gab deshalb während meines Heimaturlaubes, den ich vor unserer Einschiffung nach Übersee antrat, Anlass zu einiger Verwunderung. Dem Äußeren nach war ich ein Mann. Meine Mutter war beinahe zum Schweigen gebracht, was ihre gewohnheitsmäßige Kritiksucht betraf. Sie unternahm einige Versuche, mich auf den Rang ihres lieben kleinen Jungen herabzusetzen, aber ich zeigte mich nicht willens, dieses Spiel mitzuspielen. Leola Cruikshank war stolz, mit mir gesehen zu werden, und bei unserem letzten Zusammensein gelangten wir eine Spur über das Kussstadium hinaus. Ich hätte leidenschaftlich gern Mrs. Dempster besucht, aber dies wäre unmöglich gewesen, denn in meiner Uniform konnte ich nirgendwohin gehen, ohne bemerkt zu werden, und außerdem fürchtete ich meine Mutter immer noch zu sehr, um ihr offen die Stirn zu bieten, obwohl ich dies um keinen Preis zugegeben hätte. Einmal traf ich Paul, aber ich glaube, er erkannte mich nicht, denn er starrte mich an und ging vorüber.

So fuhr ich also auf einem Truppentransporter davon, geschulmeistert von Offizieren, die sich eifrig bemüht zeigten, uns mit Geschichten über die Gräueltaten der Deutschen abzuhärten. Diese Deutschen mussten wahre Teufel sein, dachte ich. Nicht um Schlachten zu gewinnen waren sie in den Krieg gezogen, sondern um Kinder zu verstümmeln, Frauen zu schänden (nie weniger als zehn von ihnen gegen ein einziges Opfer) und die Religion zu schmähen. In ihrer Haltung ahmten sie ihren Kaiser nach, der ein lächerliches, verrücktes Ungeheuer war. Man musste ihnen beibringen, dass immer noch Anstand die Welt regierte, und diesen Anstand verkörperten wir. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Soldatenleben hinreichend kennengelernt, um zu der Überzeugung zu gelangen, wenn wir den Anstand verkörperten, dann mussten die Deutschen wirklich raue Kerle sein, denn wüstere, diebischere und verhurtere Raufbolde als einige unserer Soldaten konnte man sich kaum vorstellen. Aber ich war nicht unzufrieden mit dem Soldatendasein, ich war unzufrieden mit mir selbst, mit meiner Einsamkeit und Langeweile.

Während die Langeweile in Frankreich unvermindert anhielt, trat an die Stelle der Einsamkeit die Angst.

In den nächsten drei Jahren fürchtete ich mich auf eine stumme, beherrschte und verzweifelte Art. Bei vielen Männern, die ich sah, brach die Angst durch: Sie wurden verrückt oder richteten das Gewehr gegen sich (und verwundeten sich tödlich oder doch so schwer, dass sie nicht mehr an die Front mussten), oder sie waren für uns andere eine solche Plage, dass man sich ihrer auf diese oder jene Art entledigte. Vielen jedoch, glaube ich, erging es wie mir, sie fürchteten sich vor dem Tod, vor Verwundung, vor Gefangennahme, aber am meisten fürchteten sie sich davor, ihrer Angst nachzugeben und vor den anderen das Gesicht zu verlieren. Natürlich äußert sich eine solche Angst nicht in plötzlicher Panik, sie ist vielmehr ein ständiger, zehrender Begleiter, dessen Vorhandensein alles verdüstert. Man konnte diese Angst manchmal vergessen, aber immer nur für kurze Zeit.

Da ich kräftig war, nicht zusammenbrach und wie durch ein Wunder keine Verletzung erlitt, machte ich ziemlich viele Einsätze mit. Obwohl ich, so oft es ging, Urlaub erhielt, verbrachte ich Monate ohne Unterbrechung an der sogenannten Front. Woran diese Front stieß, wusste ich nie so recht, denn wenn man jenen Männern glauben wollte, die stets bereitwillig über die Aufstellung der alliierten Truppen und über unseren Standort im Verhältnis zu dem der Engländer und Franzosen Auskunft gaben – ob richtig oder nicht, wusste Gott allein –, dann gewann man den Eindruck, als sei die Front überall. Sicher jedoch lagen die deutschen Linien oft nur wenige hundert Meter von uns entfernt, sodass wir die kochtopfähnlichen Helme der Feinde ganz deutlich sehen konnten. War man dumm genug, den Kopf zu zeigen, konnte es geschehen, dass sie eine Kugel hindurchjagten, und auch bei uns waren Männer für dieselbe widerwärtige Aufgabe abkommandiert.

Heute wirkt jener Krieg recht sonderbar auf uns, denn inzwischen haben wir einen zweiten erlebt, der zum Maßstab für eine moderne Kriegführung geworden ist. Ich habe Dinge gesehen, die mich in den Augen meiner Schüler einem Soldaten unter Wellington oder vielleicht unter Marlborough vergleichbar machen. Mein Krieg wurde durch Pferde erheblich erschwert, denn im Schlamm von Flandern waren Kraftfahrzeuge unbrauchbar. Befand man sich während eines Beschusses zwischen den Pferden, wie ich einmal zufällig, konnten einem die Tiere genauso gefährlich werden wie die deutschen Granaten. Sogar Kavallerie habe ich gesehen, denn manche Generäle vertraten immer noch den Standpunkt, sie könnten die Maschinengewehre schnell zum Schweigen bringen, wenn es ihnen gelänge, mit Kavallerie gegen den Feind anzukämpfen. Diese Kavalleristen erschienen mir ebenso fantastisch wie Kreuzritter, aber nicht um alles in der Welt hätte ich auf einem ihrer Pferde sitzen wollen. Und natürlich habe ich Leichen gesehen und mich an ihr belangloses Aussehen gewöhnt, denn ein toter Mensch, dem der Tod jedes Gepränge versagt, ist etwas schrecklich Nichtssagendes. Schlimmer als das, sah ich Männer, die noch keine Leichen waren, es aber bald sein würden, und die den Tod herbeisehnten.

Am meisten quälte es mich zu sehen, welche Demütigung, welche Schande und welches Elend der Krieg einem Verwundeten aufzwang. Männer in Todesqualen, ihre Glieder so zerschmettert, dass sie nie wieder heil sein würden, auch wenn sie überlebten, sollte man nicht ignorieren. Aber wir lernten, sie zu ignorieren, und ich habe meinen Fuß auf so manchen unglückseligen Kerl gesetzt und ihn tiefer in den Schlamm...